Thomas Kielinger, Bonn

Zusammenfassung

Deutsche Lebensläufe können schwierig sein, wie das Vaterland, dem sie entstammen. Noch dazu, wenn sie im Jahre 1940 beginnen, fünf Jahre später mit ohrenbetäubenden Detonationen in die Partitur des Jahrhunderts, den Krieg, Eingang finden, um, wiederum ein Jahr weiter, mit der Vertreibung aus Danzig und dem Berliner Hungerwinter zum ersten Bewußtsein ihrer selbst zu gelangen — dem der grenzenlosen Unbehaustheit. Totaler Krieg — totale Entwurzelung. Das Westdeutschland, das ich vorfand, sobald ich überhaupt zum Denken kam, dieses traurige Stück Erde, ein Torso — es gab nicht viel von einem Staat her, mit ihm war ein Danzig-Geborener nicht zu beeindrucken. Dabei war der Danziger Stolz auch nicht gerade ein Paradigma für glühendes Reichstum gewesen, vielmehr immer sehr hanseatisch, weichselmündig, seines eigenen Reichtums bewußt. Überhaupt: Welcher deutsche Stamm hat sich, in Ruhe gelassen von nationalen Einpeitschern, je aufrichtig den übrigen Stämmen zugehörig gefühlt, wie es sein müßte, wollte man sich als Nation bewähren?

Thomas Kielinger, M.A., geb. 1940 in Danzig, Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie in Münster und Cardiff (Wales), dort 1961/62 und 1965–67 Lektor für deutsche Sprache und Literatur, 1971 Kultur-Redakteur bei der Tageszeitung „Die Welt“, 1977–1985 deren politischer Korrespondent in Washington, D.C., 1985 Chefredakteur der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“, Mitarbeiter bei Zeitschriften, Radio- und Fernsehanstalten im In- und Ausland. Auszeichnungen: Theodor-Wolff-Preis (1984), Carlo-Schmid-Preis (1990). Buchveröffentlichungen: „Im Sog der Freiheit“, Aufsätze zu Politik und Kultur (1991): „Orpheus im Intercity“, Gedichte (1991).