Zusammenfassung
Ich bin Jahrgang 1938. Das ist für mein Verhältnis zur DDR und zur alten Bundesrepublik, so wie sie bis zur Wiedervereinigung bestand, nicht ohne Bedeutung. Meine Erinnerung schließt das nächtliche Sirenengeheul, die Luftschutzkeller, die Bomberpulks und ihre „Christbäume“, mit denen sie die Karrees ihrer Bombenabwürfe abgrenzten, die Trümmerlandschaft der Städte, die Soldaten und die Verwundeten ebenso ein wie die Sondermeldungen des Großdeutschen Rundfunks mit ihrer Kennmelodie und die fast allabendliche Rundfunkmeldung über die Luftlage. Deutschland war für mich wichtig, alles drehte sich um Deutschland. Mein Vater war an der Front und Tante Auguste in Auschwitz. Für beide beteten wir, morgens beim Aufstehen und abends beim Insbettgehen, und natürlich wollte ich, daß „wir“ siegen. Das einzige, worauf ich mich im endlosen ungeheizten Winter 1944/45 freute, waren Feldpostbriefe von Vater — der war in Ostpreußen — und die Fanfare der Sondermeldungen im Radio. Ich aber lag auf der Couch im Wohnzimmer mit doppelseitiger Lungenentzündung, ohne Medikamente, längst zu schwach, um auch nur auf den Topf gehen zu können. Freiheit, das war für mich Sieg über unsere Feinde, und wenn nachts auf dem Nachbardach die Sirene auch nur Vorwarnung gab, überfiel mich panische Angst. Am Sonntagmorgen hörte ich die Glocken des Kölner Domes im Radio mit resignierender Trauer darüber, daß sie wohl auch bald zerstört sein würden, wie so vieles andere auch schon; der Berliner Dom zum Beispiel, den ich von Mutters Mokkatasse kannte. Als all das endlich zu Ende ging, war ich sechs, hatte viele Bombennächte überlebt, viel gesehen und gehört und wenig verstanden. Aber ich war Partei geworden. Die Deutschen, das waren wir, wußte ich — und das war mir wichtig. Wir hatten zwar den Krieg verloren, aber das gegen die ganze Welt. War das etwa keine Leistung? Tante Auguste hatte überlebt und brachte einen Stapel Fotos mit. Noch heute sehe ich die Leichenberge und die hautüberzogenen Gerippe der Überlebenden. Das also bedeutete Konzentrationslager, SS, Himmler und Hitler.
Geb. am 30. November 1938 in Mindelheim (Schwaben). Nach Abitur und Studium der Geschichte und der politischen Wissenschaft Eintritt in die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 1976 in Bonn als Korrespondent tätig. Seit 1980 intensive Beschäftigung mit der Teilung Deutschlands und ihren Folgen, zahlreiche Veröffentlichungen zur Deutschlandpolitik der Bundesregierung, der Parteien sowie der deutschlandpolitischen Haltung der Regierung der DDR.
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© 1993 Leske + Budrich, Opladen
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Schweitzer, CC., Haack, D., Krätschell, A., Richter, J. (1993). Karl Feldmeyer, Bonn. In: Schweitzer, CC., Haack, D., Krätschell, A., Richter, J. (eds) Lebensläufe — hüben und drüben. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99405-9_12
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-99405-9_12
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-8100-1121-3
Online ISBN: 978-3-322-99405-9
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