Zusammenfassung
Neuere theoretische Selbstinterpretationen der liberalen Demokratien westlicher Industriegesellschaften haben in ihren Interpretationskonzepten auf den Begriff des „Staates“ und auf den Versuch der Formulierung einer „Staatstheorie“ mehr und mehr verzichtet. Unter dem Einfluß angelsächsischer Demokratietheorien ist das in der deutschen Tradition ehemals dominierende juristische Staatsdenken zunehmend stärker zurückgedrängt worden, und an seine Stelle sind Varianten einer Pluralismus-Theorie getreten, die die Ziele allgemeinen politischen Handelns als Ergebnis eines Kompromisses gesellschaftlicher Teilinteressen auf der Basis nichtkontroverser gesellschaftlicher Wertentscheidungen versteht, also Interessenartikulation und Interessenorganisation im Rahmen nichtdisponibler Prinzipien in einem gleichsam staatsfreien Raume stattfinden läßt. Die Pluralismus-Theorie hat im strikten Sinne keine „Staats“-Theorie zu entwickeln vermocht, sie konnte dies ihrer Intention nach auch nicht, denn sie war zunächst und vor allem einmal Theorie gesellschaftlicher Selbstorganisation, die die Einheit des Ganzen zwar nicht durch das „Parallelogramm der Kräfte“, wohl aber durch die Anerkennung eines „unstreitigen Sektors“ (Fraenkel) verbürgt glaubte. Sofern in pluralismustheoretischen Konzepten der Begriff des „Staates“ auftaucht, bleibt weitgehend unklar, was eigentlich damit gemeint ist. Bezeichnet die Rede vom „Staat“ zumeist Regierungsinstitutionen, so läßt sich — in Analogie und Parallele zu Marx — von der Rücknahme des Staates in die Gesellschaft, von seiner prozessualen Auflösung im Medium der Repräsentation und den parlamentarisch-demokratischen Verfahrensregeln sprechen, dem zugleich die „Vergesellschaftung“ des Politik-Begriffs entspricht. Während vor allem die juristische Staatslehre den Bereich des Politischen den zentralen Staatsinstitutionen zugesprochen hatte — etwa in der Souveränitätsdoktrin —, interpretiert die Pluralismus-Theorie die gesellschaftliche Selbstorganisation und deren bargaining-Prozesse selbst schon als „politisch“ und sieht in allgemeinen Willensbildungs- und Entscheidungsregeln den konstitutiven Rahmen politischen Handelns. Konsequent wird Politik deshalb auch als „Bereichs-Politik“ verstanden und löst die Analyse von „Politik-Feldern“ innerhalb unterschiedlicher Teilbereiche der Gesellschaft das Interesse am „Staat“ ab.
Man kann heute nicht ohne Marx denken, und man kann nicht denken, ohne über Marx hinauszugehen
Jean Améry
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Bermbach, U. (1991). Defizite marxistischer Politik-Theorie. In: Demokratietheorie und politische Institutionen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99307-6_9
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