Zusammenfassung
“Literarische Bildung” ist wieder ein viel diskutiertes Thema.80 Sie ergibt sich — im Gegensatz zur Literarischen Sozialisation, für die ich das in der Einleitung konstatiert habe — nicht von selbst. ‘Literarische Bildung’ ist also kein deskriptiver Begriff, der das sich jedenfalls Ereignende (wenn auch vielleicht Defizitäre) meint, sondern ein normativer Begriff, genauer: ein Begriff, der einen alten Dissens und vielleicht ansatzweise einen neuen Konsens in Bezug auf die Wünschbarkeit einer bestimmten Art von literarästhetischer Erziehung beschreibt. Es geht — mit Michael Kämper van den Boogaarts Buchtitel (1997) gesagt — um die Legitimität des schönen schweren Lesens.81 Der Dissens um literarische Bildung entwickelte sich vor allem um den Kanon-Begriff; darauf komme ich zurück. Zunächst habe ich meinen Bildungsbegriff zu klären und eine Vorstellung zu entwickeln von der Rolle der Literatur und des Lesens (auch älterer Texte) innerhalb der gemeinten Bildung.
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Referenzen
Vgl. z.B. Ladenthin 1991, Eggert 1992, Wegmann 1993, sowie div. Artikel von Fingerhut und Müller-Michaels.
Kämper-van den Boogaart (1997, 1–28) hat auch einen Forschungsbericht zur Rolle des Bildungsbegriffs in allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik vorgelegt.
Schlimm finde ich deshalb, wenn die Autorin eines Ratgebers für Teens — stets darauf aus, ihren Adressaten nach dem Mund zu schreiben — solche Bildungsvorstellungen auch noch positiv verstärkt (vgl. Jane Goldman: Thirteen Something. Der Uberlebensratgeber für Teens. Freiburgar.; Wien: Herder 1997, 10).
Zu Zielen und Verfahren szenischen Interpretierens vgl. etwa das Handbuch von Schau 1996.
Vgl. DIE ZEIT Nr. 21 (16.5.1997, S. 50 f.), Nr. 22 (23.5., S. 42 f.), Nr. 23 (30.5., S. 46) und Nr. 24. (6.6., S. 62).
Hier liegt natürlich ein weiter Klassikbegriff zugrunde, der auch die Romantik, auch Hölderlin, auch Büchner usw. meint.
Vgl. etwa die Leseliste in Segebrecht (Hrsg.) 1992; gegen Listen dieser Art allerdings wiederum Eicher 1997.
Vgl. philologisch z.B. Galle 1988 und didaktisch Hein 1986, 25.
Eine Ausnahme bildet hier freilich die Bekanntmachung des Bayerischen Kultusministeriums (Mai 1985) über die in Kl. 5–10 verbindlich zu “lernenden” Gedichte.
Sabine Gross (1987, 105), die wohl der ‘68er Generation’ angehört, sagt mit Recht, ein Kanon habe die Funktion, die in ihm versammelten Objekte verfügbar zu halten, praktisch gerade nicht; er entziehe sie eher dem aktuellen Dialog über ästhetische Qualität und lebensweltliche Relevanz (vgl. ebd., 106).
Auch der in Kapitel 7.1 herangezogene Pennac (1994) hat seine elementaren “Rechte des Lesers” polemisch gegen einen im französischen Bildungswesen wohl doch noch fragloser und selbstverständlicher durchgesetzten Kanon entwickelt und holt wohl lediglich einen gewissen Reflexionsrückstand auf.
Was ist schon dabei? Schüler schreiben eine Geschichte über die ganz alltägliche Gewalt. Weinheim; Basel: Beltz 1994.
8,9 % der in einer Nürnberger Studie zur Gewalt an Schulen befragten Jungen (Mädchen: 6,6 %) geben an, schon einmal erpresst worden zu sein, 7,0 % sagen aus, schon von mehreren systematisch verprügelt worden zu sein (Mädchen: 1,6 %). Vgl. Walter Funk: Gewalt an Schulen: Ergebnisse aus dem Nürnberger Schüler Survey. In: S. Lamnek (Hrsg.): Jugend und Gewalt. Devianz und Kriminalität in Ost und West. Opladen 1995, 119–138; hier 130.
Das ist der bundesweite Durchschnitt; in Bayern sind es derzeit ca. 18 %.
Johann Gottfried Herder: Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jugendlichen (1796). Zit. nach: Herders Sämmtl fiche Werke, hrsg. v. B. Suphan, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, Bd. 30 (1889), 217–226 (= 28. Stück der “Schulreden”); Zitat 222.
“Kein klassischer Dichter und Prosaist sollte sein, an dessen besten Stellen sich nicht das Ohr, die Zunge, das Gedächtniß, die Einbildungskraft, der Verstand und Witz lehrbegieriger Schüler geübt hätte” (ebd., 220)
In einem Entwurf aus der späten Weimarer Zeit (Welche neue und beßere Bildung ist bei unsern Sinnen möglich? Zit. nach: Herders Sämmtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, Bd. 32/ 1889, 518 f.) nennt Herder “körperliche Sinne” (Gefühl, Geruch, Geschmack, Gehör, Gesicht) und den “moralischen Sinn” als “die wahre Cultur des Menschengeschlechts”.
Vgl. aus feministischer Sicht die Diskussion des Kanonbegriffs durch v. Heydebrand/Winko 1995. Zum “Denk-Bild”-Begriff nun auch kritisch Kämper-Van Den Boogaart 1997, 25–27.
Dies hat Kämper-Van Den Boogaart (1997, 28 f.) Müller-Michaels vorgehalten.
Zur ausführlicheren Illustration am Beispiel Kleists vgl. meinen Aufsatz “Kohlhaas und der Kanon” in: Kleist-Jahrbuch 1998 (i. Dr.).
Reinhardt 1991 vergleicht u.a. unter diesem Aspekt die frühe Prometheus-Figur mit der von Goethe knapp vierzig Jahre später in Pandora sehr viel kritischer gezeichneten.
Die Lehrerin (Birgit Abraham) stellte das Folgende zur Verfügung. Die Texte entstanden an einer Mädchenschule (Realschule der Englischen Fräulein, Bamberg).
Vgl. Ingendahl 1991; Haas/Menzel/Spinner 1994; Haas 1997.
Vgl. Helmut Schafhausen (Hrsg.): Handbuch Szenisches Lernen. Theater als Unterrichtsform. Weinheim: Beltz 1995.
Eichendorffs Mondnacht und Goethes Wahlverwandtschaften stehen verloren zwischen Dutzenden moderner Werke und Textauszüge (Brecht, Kafka, Johnson, Heiner Müller, usw.), und allenfalls Lessings Hamburgische Dramaturgie könnte eine im weitesten Sinn ‘kanonisierte Texte’ auszählende Statistik noch aufbessern.
Ähnlich auch Conrady (1978, 34) sowie ihm zustimmend Krejci (1993, 217).
Das Folgende in Anlehnung an Nutz 1995; 1997 sowie Fuhrmann 1993, 229 ff.
Dieses Thema wird praktisch behandelbar mit Hilfe des schönen Buches von Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino. Reinbek: Rowohlt 1996.
Das inkriminierte Wort stammt von mir; ich habe es in öffentlicher Auseinandersetzung mit Helmut Fuhrmann auf dem Weimarer Symposion “Ist die Klassik noch lebendig?” am 23–25. Juni 1995 erstmals benutzt.
Friedrich Schiller: 18. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen. Zit. nach B. V. Wiese (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe. Weimar 1962, Bd. 20, 365–368.
Wie Anm. 94, 518.
J.W. Goethe: Über die bildende Nachahmung des Schönen (von Carl Philipp Moritz). In: Sämtliche Werke, hrsg. v. E. Beutler. 2. Aufl. Zürich: Artemis 1961 ff., Bd. 13, 71–75. Zitat 73.
Vgl. auch die listige Antwort, die Köpf (1980) auf die Frage gibt, ob die Klassiker leben: Er nennt Gegenwartsautoren, die sich mit ‘klassischen’ Autoren und Werken auseinandergesetzt haben — nicht nur Plenzdorfs Neue Leiden, sondern Elisabeth Plessens Kohlhaas, Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends, Peter Schneiders Lenz und andere. Er setzt darauf, dass junge Leserinnen und Leser solcher einstweilen unkanonischen Literatur vermittelten Auseinandersetzung mit Goethe, mit Kleist, mit J.M.R. Lenz weder vorbeikommen können noch wollen.
Aus: Tagträume in Berlin und andernorts. Frankfurt/M.: Fischer 1974, 29.
Für einen Überblick vgl. den Artikel “Nacherzählen” im Lexikonteil von Abraham/ Beisbart/Koss/Marenbach 1998.
Vgl. etwa Ingendahl 1991, 33 und Abraham 1994, 124 ff.
Günter Kunert, geb. 1929 in Berlin, wurde von den Nazis “aus rassischen Gründen” von der Oberschule verwiesen, lebte nach Kriegsende zunächst in der DDR und studierte Kunst an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. In die (alte) Brd kam er 1979 mit einem Dauervisum.
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Golding, W., Goethe, J.W., Piontek, H., Kunert, G. (1998). Literaturdidaktik: Lektüre und Bildungstradition. In: Übergänge. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99303-8_9
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-99303-8_9
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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