Zusammenfassung
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den verschiedenen direktdemokratischen Institutionen und den verschiedenen Typen demokratischer Systeme ist ungeklärt — an dieser Tatsache können nun, nach dem ausführlichen Überblick über den bisherigen Forschungsstand, keine Zweifel mehr bestehen. Sowohl die Forschung zum Thema direkte Demokratie als auch die vergleichende Demokratieforschung hat diese Frage bislang entweder vollständig ignoriert oder ist beim Versuch ihrer Beantwortung gescheitert. Die Folgen sind — angesichts der gestiegenen und weiter steigenden Bedeutung des Phänomens direkte Demokratie — für beide Forschungszweige gravierend: Die „direktdemokratische“ Forschung kann über die Funktion und Wirkung direktdemokratischer Verfahren keinerlei generalisierende Aussagen treffen, bleibt also im Exemplarischen stecken. Die demokratietypologische Forschung muß dagegen ein mitunter zentrales institutionelles Merkmal politischer Systeme entweder ausblenden oder zur Anomalie erklären — in jedem Fall aber die Unvollständigkeit ihrer Ansätze eingestehen.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Referenzen
Womöglich wäre es besser, für dieses zweite Konzept einen neuen Begriff zu prägen und zu verwenden. Denn die Bezeichnung Parlamentssouveränität ist aus zwei Gründen irreführend bzw. nicht ganz glücklich. Zum einen verschleiert sie, daß Parlamentssouveränität im Kontext moderner politischer Systeme längst Regierungssouveränität bedeutet: „In reality, of course, the power of Parliament is today generally a euphemism for the power of goverrment (...).“ (Bogdanor 1981: 75; vgl. auch Abromeit 1995: 57). Zum anderen ist diese Bezeichnung in unserer Vorstellung fast untrennbar mit einer parlamentarischen Regierungsweise verbunden. So wie ich das populistische Prinzip hier verstehen möchte, kann es jedoch auch einem Präsidialsystem zugrunde liegen.
Wenn hier und im folgenden vom „Volk“ und dessen „Wille“ die Rede ist, so liegen dem keineswegs die Rousseauschen Vorstellungen eines Volkssubjekts und eines monistisch gedachten Gemeinwillens zugrunde. Vielmehr wird der Begriff „Volk“ als einfaches Synonym für die Bürger, die Gesamtheit der Wahl- bzw. Abstimmungsberechtigten eines Landes verwendet. Und der Begriff „Wille des Volkes“ steht synonym für deren zu aggregierende Präferenzen. Daß demokratietheoretisch zwischen dem Demos und der Wählerschaft ein wichtiger Unterschied besteht, wie zuletzt Steffani (1999) in Erinnerung gerufen hat, ist mir dabei bewußt, kann im Kontext dieser Arbeit aber vernachlässigt werden.
Für die Notwendigkeit, in diesem Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen des Föderalismus zu unterscheiden, vgl. Kaiser (2000: 15).
So muß es beispielsweise nicht unbedingt die formale Regel geben, daß im Parlament nur mit einer qualifizierten Mehrheit entschieden werden darf. Es genügt, wenn sich alle Akteure darüber einig sind, daß sie wichtige Fragen nicht mit Hilfe des Mehrheitsprinzips regeln, sondern nach der Maxime des gütlichen Einvernehmens.
Für jedes Prinzip ließe sich auch eine Liste derjenigen Institutionen aufstellen, die mit dem Prinzip inkompatibel sind, d.h. dessen Umsetzung be- oder verhindern, sowie eine Liste „neutraler“ Institutionen. Da dies jedoch für eine exakte Spezifizierung der Demokratietypen — und darum geht es hier in der Hauptsache —nicht notwendig ist, wird auf diesen Zusatzschritt verzichtet.
Implikationen, die zum Kern des Prinzips gehören, sind durch Fettdruck gekennzeichnet.
Das Recht, letztverbindlich über die Verfassungskonformität von Gesetzgebungsakten zu entscheiden, erstreckt sich dabei nicht nur auf einfache, sondern auch auf verfassungsändernde Gesetze. Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber ist also durch die materiellen und verfahrensmäßigen Grenzen, die ihm die Verfassung setzt, gebunden.
Dieser Schutz wird in erster Linie dadurch gewährleistet, daß die Hürden für das Zustandekommen einer Verfassungsänderung in der einen oder anderen Weise erhöht sind. Im Extremfall werden bestimmte Elemente der Verfassung einer Änderung vollständig entzogen (sogenannte „Ewigkeitsklauseln“, wie z.B. Artikel 79 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes). Für eine ausführlichere Beschreibung und Herleitung dieser Kriterien, vgl. Vogel (2000: 28–31).
Streng genommen läuft selbst die Existenz einer geschriebenen Verfassung dem populistischen Prinzip zuwider, da diese die einmalige Entscheidung des „pouvoir constituant“ gegenüber dem aktuellen Willen des Volkes privilegiert.
Erhöhte Mehrheitserfordernisse für eine Änderung der Verfassung stellen für sich genommen noch keine Durchbrechung des populistischen Prinzips — und vor allem keinen eindeutigen Hinweis auf eine Dominanz des konstitutionellen Prinzips — dar. Denn schließlich können derartige Bestimmungen allein darauf zurückzuführen sein, daß ein System konkordanzdemokratischer Natur ist, d.h. von dem Prinzip dominiert wird, daß Entscheidungen stets über eine möglichst breite Zustimmungsbasis verfügen sollten. Und daß dies ganz besonders für solche Entscheidungen gelten muß, die an den Grundlagen des Systems rühren, ist offensichtlich.
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Definitionsproblematik ist noch aus zwei weiteren Gründen wichtig. Zum einen, weil die (in Kapitel 4.2 vornehmende) Einschätzung der Vor- bzw. Nachteile der präsidentiellen und der parlamentarischen Regierungsweise mit davon abhängt, welche der möglichen Definitionen zugrunde gelegt wird. Zum anderen, weil die defiinitorischen Divergenzen, wie noch zu zeigen sein wird, Ursache der unterschiedlichen Klassifikation einzelner Länder sind. Nun sollen aber die im Verlauf des nächsten Kapitels zu entwickelnden Hypothesen über die (In)Kompatibilität direktdemokratischer Verfahren mit dem präsidentiellen bzw. parlamentarischen Prinzip abschließend einer empirischen Prüfung unterzogen werden. Zu diesem Zweck werden präsidentiell und parlamentarisch regierte Systeme auf ihre Erfahrungen mit Verfahren direkter Demokratie hin betrachtet werden. Und es liegt auf der Hand, daß eine solche empirische Prüfung von Hypothesen nur dann Sinn macht, wenn zuvor über Definitionen und Zuordnungen Klarheit herbeigeführt wurde.
Der Begriff der Gewaltenteilung, der ebenso wie die damit verbundene Doktrin bisweilen als überholt und wirklichkeitsfremd kritisiert wird (Loewenstein 1975: 32), ist dabei in erster Linie figurativ zu verstehen und verweist auf die Tatsache, daß es mehrere Staatsfunktionen oder politische Grundfunktionen gibt und daß diese am besten auf verschiedene Verfassungsorgane bzw. Machtträger aufgeteilt werden sollten. In diesem Verständnis möchte ich ihn auch weiterhin verwenden.
Besagte Legislativbefugnisse können im einzelnen recht unterschiedliche Gestalt annehmen. So unterscheiden Shugart/Carey fünf verschiedene Typen von „legislative powers“, darunter auch das Recht des Präsidenten, das Parlament durch Anberaumung einer Volksabstimmung zu umgehen (Shugart/Carey 1992: 148–152).
In bezug auf die Schweiz ist allerdings darauf hinzuweisen, daß ihr rein formal ein Kernbestandteil der institutionellen Implikationen des präsidentiellen Prinzips fehlt: das verfassungsrechtlich gesicherte Recht der Regierung, auf die Gesetzgebung Einfluß zu nehmen. Im 19. Jahrhundert hatte diese Tatsache denn auch dazu geführt, daß sich ein „regime d “assemblee” entwickeln konnte, in dem die Regierung tatsächlich nicht mehr als der „verlängerte Arm der Bundesversammlung“ (Schumann 1971: 147) war. Im 20. Jahrhundert hat sich das Verhältnis zwischen Bundesrat und Bundesversammlung jedoch umgekehrt. Der Bundesrat ist nun das zentrale Organ, das trotz der fehlenden formalen Befugnisse auch den Bereich der Gesetzgebung weitgehend dominieren kann (vgl. Schmid 1971: 174–225).
Wie die Antworten auf diese Fragen im einzelnen lauten, soll allerdings jeweils nur so weit als nötig angedeutet, nicht aber detailliert ausgeführt werden, da sonst der Argumentation zu weit vorausgegriffen werden müßte. Denn erst im vierten Kapitel wird der Zusammenhang zwischen den Gestaltungsprinzipien der Demokratietypen und den verschiedenen Typen direktdemokratischer Verfahren umfassend geklärt.
Haben die Regierenden das Recht auf Auslösung einer Volksabstimmung, so erübrigt sich die Frage nach dem Urheber der Vorlage zwar nicht gänzlich, sie verliert jedoch beträchtlich an Relevanz. Denn in der Regel fallen auslösende Instanz und Urheber hier zusammen. In Systemen mit präsidentieller Regierungsweise kann es allerdings zu Ausnahmen von dieser Regel kommen. In diesen Fällen wird das Urheber-Kriterium auch für „von oben“ initiierte Abstimmungen herangezogen werden müssen.
Dabei schließt die Gesetzesinitiative die Referendumsinitiative im Grunde bereits ein. Denn schließlich kann erstere jederzeit auch dazu eingesetzt werden, Entscheidungen der Repräsentativorgane zu verhindern. Dennoch macht obige Unterscheidung Sinn. Denn es ist ohne weiteres denkbar, daß in einem System zwar die Referendumsinitiative, nicht aber die Gesetzesinitiative vorhanden ist.
Dieses Kriterium läßt sich selbstverständlich auch auf „von unten“ initiierte Abstimmungen anwenden, führt jedoch zu keiner zusätzlichen Differenzierung, da es in der Unterscheidung zwischen Referendums- und Gesetzesinitiative bereits enthalten ist: die Referendumsinitiative hat lediglich zustimmenden (bzw. verwerfenden) Charakter, die Gesetzinitiative ist dagegen ein genuines Entscheidungsinstrument.
Wenn überhaupt, so scheinen Quoren allenfalls in der deutschen Debatte ein Thema zu sein. Doch hier geht es vorwiegend um das „Dilemma der Beteiligungsquoren“ (Meineke 1994: 114) und damit um die Frage, wie — nicht zuletzt angesichts der diesbezüglich negativen „Weimarer Erfahrungen“ — mit dem Problem mangelnder Partizipation und damit Legitimität der Entscheidungen umzugehen ist (vgl. Meineke 1994; Jung 1995c, 1999).
In Irland beispielsweise bedarf es des Antrags einer Mehrheit der Mitglieder des Senats (2. Kammer), der Unterstützung eines Drittels der Mitglieder der ersten Kammer und der Zustimmung des Staatspräsidenten, damit eine Gesetzesentscheidung des Parlaments dem Volk zur Zurückweisung oder Billigung vorgelegt werden kann. In Portugal und Griechenland müssen Parlamentsmehrheit und Staatspräsident zusammenwirken, um eine Volksabstimmung auslösen zu können.
Ausnahmen von dieser Regel können sich allenfalls in bezug auf den Staatspräsidenten ergeben, wenn dieser, wie in der Weimarer Republik, auch gegen den Willen von Regierung und Parlamentsmehrheit die Abhaltung einer Volksabstimmung verfügen kann — was in der Praxis heute allerdings nicht mehr vorkommt. Auf diese vorwiegend theoretische Möglichkeit werde ich deshalb nicht gesondert eingehen.
Dies gilt selbstverständlich nur, wenn die genannten Akteure zur Auslösung einer Abstimmung nicht mit anderen Instanzen zusammenwirken müssen, beispielsweise die zweite mit der ersten Kammer. Denn dann wäre es ja wiederum nicht möglich, daß es gegen den Willen der Regierenden zu einer Abstimmung kommt.
Anders als bei der Frage nach der auslösenden Instanz müßte das obligatorische Referendum hier der Kategorie der „Regierenden“ zugeschlagen werden. Denn auch wenn diese nicht darüber entscheiden können, ob eine Abstimmung stattfindet, so bestimmen sie doch, worüber entschieden wird. Von einem eigenständigen Agenda-Setting des Volkes kann jedenfalls nicht die Rede sein.
Möglich ist auch eine Kopplung der beiden Formen. Eine Vorlage würde danach nur dann als angenommen gelten, wenn sich eine Mehrheit der Abstimmenden, die zugleich einen bestimmten Prozentsatz der gesamten Wählerschaft ausmachen muß, für sie entscheidet.
Da Zustimmungsquoren auch die Gegner einer Vorlage dazu zwingen, an der Abstimmung teilzunehmen, da jede Nein-Stimme sich nun in besonderem Maße lohnt, wird man gerade durch diese Form des Quorums tendenziell die höheren Beteiligungsraten erreichen (vgl. Jung 1999: 893).
Rights and permissions
Copyright information
© 2001 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Jung, S. (2001). Direkte Demokratie und Demokratietypologie — zwei Neuentwürfe. In: Die Logik direkter Demokratie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99200-0_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-99200-0_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-13723-0
Online ISBN: 978-3-322-99200-0
eBook Packages: Springer Book Archive