Zusammenfassung
Der große Umschwung, der mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs sich gegen die überlieferte Kriegsauffassung und die freie Entschließung der Staaten über den Krieg als Mittel der Politik wandte, fand seinen wichtigsten Ausdruck im Völkerbundspakt. Die neue Lehre suchte den Krieg auszuschließen, indem sie die Pflicht zur friedlichen Beilegung von Differenzen auferlegte und für den Fall der Zuwiderhandlung die Solidarität der Staaten aufrief, sich kollektiv gegen einen Angreifer durch Sanktionen zu wenden. Mit diesem Zusammenstehen der Staatengemeinschaft gegen den Paktbrecher schien die herkömmliche Neutralität nicht zusammenzustimmen und so wurden schon in dieser Epoche Stimmen laut, daß die Einrichtung der Neutralität überholt oder jedenfalls stark gewandelt sei59. Freilich gewann in der Literatur schon bald eine andere Auffassung die Vorhand, die darlegte, daß das Recht des Genfer Paktes der Neutralität noch rechtlich wie tatsächlich einen erheblichen Raum beließ. Sie wies hin auf den Umstand, daß Nichtmitglieder der Liga nicht zur Abkehr von der Neutralität verpflichtet waren60, daß die Satzung selbst in Art. 15 Abs. 6 und 7 gewisse Lücken im Kriegsverbot offenließ 61 und daß die Organe des Völkerbundes keine bindende Entscheidung über das Vorliegen eines Angriffs zu treffen vermochten, vielmehr hier der Einzelstaat zum letzten Urteil berufen war62.
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Literatur
In diesem Sinne führend Quincy Wright, The Future of Neutrality, Int. Conciliation, 1928, S. 353 ff.; Politis, La neutralité et la paix.
In damaliger Zeit wurde die Auffassung, auch Nichtmitglieder könnten durch den Pakt gebunden sein, kaum vertreten. Vgl. Whitton, RdC 17 (1927 II), S. 490 ff., 498; Komarnicki, RdC 80 (1952 I), S. 422 ff. Während seines Bestandes gehörten stets mehrere Großmächte dem Völkerbund nicht an.
Der Völkerbundspakt erlaubte in Art. 15 Abs. 7 den Krieg bei Fehlen einer einstimmigen Ratsentscheidung. Und praktisch konnte ein Konflikt entstehen, wenn ein Staat sich nicht der einstimmigen Entscheidung fügte, dann durften gegen den durch den Beschluß begünstigten Staat Mitglieder nicht zum Kriege schreiten; nahm dieser Staat aber gegen den anderen Teil Gewalthandlungen vor, so blieb den Mitgliedern der Liga nur die Neutralität. Vgl. Komarnicki, RdC 80, S. 428 ff.; Whitton, RdC 17, S. 79 ff.; Wehberg, Krieg und Eroberung, S. 30 ff.
Nach der herrschenden Auffassung vermochte kein Organ des Völkerbundes eine für die Mitglieder verbindliche Entscheidung über den Angreifer zu treffen. Vgl. Komarnicki, S. 427; Boye, RdC 64 (1938 II), S. 219 f.
So insbesondere Whitton, a.a.O., S. 500 ff.; Harvard Draft on the Duties of States in Case of Aggression, AmJIL (1939), Suppl., S. 169 ff.; Komarnicki, S. 440 ff.
Zu dieser Umkehr der politischen Anschauung, die in der Annahme voller Neutralität durch die Schweiz, Belgien, die Niederlande und die skandinavischen Staaten ihren Ausdruck fand, siehe Schindler sen., ZaöRuVR 8 (1938), S. 413 ff.; Hambro, dort S. 445 ff.; Boye, a.a.O., S. 227 f.
Die Sowjetunion schloß in den 20er und 30er Jahren mit vielen ihrer Nachbarn (Persien, Türkei, Afghanistan, Polen u. d. baltischen Ländern) Nichtangriffs- und Neutralitätsverträge, die ausdrücklich die Neutralität im Falle eines Angriffs auf einen Teil stipulieren. Siehe Fiedler, Der sowjetische Neutralitätsbegriff in Theorie und Praxis, Köln 1959, S. 129 ff. Auch der Berliner Vertrag zwischen der UdSSR und dem Dt. Reich v. 24. 4. 1926 sieht eine Neutralität vor. Der Status der Neutralität bildete den Gegenstand mehrerer interamerikanischer Abkommen, z. B. der Konvention über maritime Neutralität von Habana vom 23. 2. 1928 oder des Abkommens über Nichtangriff und Versöhnung von Rio de Janeiro vom 10. 10. 1933. Auch in anderen Verträgen wurde auf den Stand der Neutralität ausdrücklich Bezug genommen. Vgl. meine Zusammenstellung in Intern. Law Association, Bd. 40 (1938), S. 285, 294.
Im Jahre 1920 gab das Deutsche Reich eine Neutralitätserklärung im russisch-polnischen Kriege ab. Die Entscheidung des Ständ. Intern. Gerichtshofs im Fall Wimbledon erkennt diese Haltung an, stellt sie aber für den Kieler Kanal hinter der durch Art. 380 Ver-sailler Vertrag angeordneten Offenhaltung zurück. Vgl. PCIJ, Reports Series A 1, S. 28. Im Jahre 1933 erklärten im Kampf zwischen Bolivien und Paraguay im Chaco mehrere Nachbarstaaten ihre Neutralität. Vgl. meine Darlegung Int. Law Ass. Bd. 40, S. 292.
Überblick der Praxis in meiner Darlegung a.a.O., S. 283 ff.; Komarnicki, a.a.O., S. 450 ff.; Örvik, Decline of Neutrality, S. 132 ff. Fabela, Neutralité, S. 93 ff.
Zur Entwicklung im Zweiten Weltkriege siehe Komarnicki, a.a.O., S. 450 ff.
Zur Einschränkung der Gewaltanwendung siehe Jan Brownlie, International Law and the Use of Force by States, Oxford 1963, S. 214 ff., 361 ff.; Rosalyn Higgins, The Development of International Law through the Political Organs of the United Nations, Oxford 1963, S. 167 ff.
Übersicht über das Sanktionssystem der U. N. bei Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl., S. 648 ff. Sørensen (Hrsg.), Manual of Public International Law, 1968, S. 785 ff. (Skubiszewski).
Vgl. die Betonung der Unvereinbarkeit einer traditionellen Neutralität mit der Charta bei Chaumont, RdC 89 (1956 I), S. 21; Fabela, Neutralite, S. 150 ff.; Brownlie, a.a.O., S. 403 f. sowie ferner die in Anm. 11 Genannten.
Die Entscheidungen des Sicherheitsrates vom 25. und 27. 6. 1950 waren nur wirksam, wenn man das abwesende ständige Mitglied des Sicherheitsrates nicht mitzählte. Vgl. Reisen, Law of the Un. Nations, S. 927 ff.; J. L. Kunz, AmJIL 45 (1951), S. 152 ff.; Brownlie, a.a.O., S. 334; Green, ArchVR6 (1956/57), S. 418 ff.
Hier darf vor allem hingewiesen werden auf das Nichteingreifen des Sicherheitsrates im Suez-Konflikt und in Ungarn 1956, in den Konflikten in Vietnam vor 1954 und seither oder auf den Krieg zwischen Indien und Pakistan 1965 und den Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn 1967. Das einzige weitere Beispiel der Beschlußfassung des Sicherheitsrates für Sanktionen (wirtschaftlicher Natur) bildet das Vorgehen gegen Rhodesien auf Grund der Resolutionen v. 9. 4. 1966 (S/221) und 16. 12. 1966 (S/231), in denen die ausdrückliche Feststellung enthalten ist, „that the resulting situation constitutes a threat to peace“ (Res. S/221). Zur Bedeutung dieser Resolutionen, auch in kritischer Hinsicht in bezug auf das Vorliegen einer Friedensstörung siehe Bindschedler, ZaöRuVR Nr. 28 (1968), S. 7 ff.; Zemanek, dort S. 29; Wengler, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, Berlin 1967, S. 39 f.; J. E. S. Fawcett, BrYBIL 41 (1965/66), S. 109 ff. Der französische Delegierte bei den U. N., Seydoux, lehnte die beiden Resolutionen ab. Vgl. RGDIP 71 (1967), S. 47.
Zum Wiederaufleben des Neutralitätsgedankens siehe Verdross, JuBl 77 (1955), S. 346 f.; Baltl, Probleme der Neutralität, S. 30; Schindler jun., RdC 121 (1967 II), S. 248.
In diesem Sinne Soder, Die VN und die Nichtmitglieder, 1956. Waldock, RdC 106 (1962), S. 38; Bishop, RdC 115 (1965 II), S. 217, 219. Vorsichtiger hingegen (Resolutionen der U. N. können unter bestimmten Umständen die Entstehung von Gewohnheit begünstigen und fördern): Virally in: Sørensen, Manual of Public International Law, S. 160 ff.; Brownlie, Principles of International Law, Oxford 1966, S. 11 f. Sørensen, RdC 101 (1960 II), S. 91 ff.
In diesem Sinne auch das von der Wiener Konferenz angenommene Law of Treaties. Vgl. ZaöRuVR 27 (1967), S. 570, Art. 31; Vgl. auch Sørensen, RdC 101, S. 74 ff.; Bindschedler, ZaöRuVR 28 (1968), S. 5 f.; v. Schenck, ZaöRuVR 29 (1968), S. 270 ff.
Zur Unterscheidung des allgemeinen Völkerrechts und des Rechts der Vereinten Nationen siehe Chaumont, RdC 89 (1956 I), S. 54; Castren, a.a.O., S. 433; Haug, a.a.O., S. 98; meine Darlegungen Festschr. Bilfinger, Köln 1954, S. 371 ff. Zur Möglichkeit eines Erwachsens von Resolutionen der U. N. in Gewohnheitsrecht siehe Brownlie, Principles of International Law, S. 11 f.
Die Möglichkeit einer echten Neutralität für Nicht mitglieder der U. N. wird auch anerkannt von Chaumont, RdC 89, S. 54; Taubenfeld, AmJIL 47 (1953), S. 383, 386; Lalive, BrYBIL 24 (1947), S. 84 f.; Haug, a.a.O., S. 98 f.
In diesen Konflikten hat der Sicherheitsrat Kampfeinstellung gefordert und andere Maßregeln getroffen; aber er hat keine Entscheidung über einen Angriff getroffen und keinerlei Sanktionen vorgesehen.
Vgl. in diesem Sinne Komarnicky, RdC 80, S. 493 ff.; Bindschedler, ZaöRuVR 17, S. 29; v. d. Heydte, Völkerrecht, Köln 1960, Bd. 2, S. 279; L. Delbez, Les principes généraux du droit international public, 3. Aufl., Paris 1964, S. 569; G. v. Glahn, Law among Nations, New York 1965, S. 629; William W. Bishop, RdC 115 (1965 II), S. 449; Schindler jun., RdC 121 (1967 II), S. 48.
Zu diesem Fall vgl. die in Anm. 81 Genannten und Haug, a.a.O., S. 98.
Zu dieser Unterstützungspflicht siehe Taubenfeld, AmJIL 47 (1953), S. 393 f.; Guggenheim, Völkerbund, Dumbarton Oaks usw., S. 55 ff.
Vgl. Komarnicki, RdC 80, S. 472; Potter, AmJIL 50 (1956), S., 102; L. Henkin, AmSocIL 57 (1963), S. 161; Starke, Introduction to International Law, 5. Aufl., 1963, S. 438 f.
Vgl. zur Lage der Mitglieder gegenüber wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen Guggenheim, Traite, Bd. 2, S. 270 f.; Haug, a.a.O., S. 93. Die Verpflichtung zu militärischen Sanktionen setzt den Abschluß von Übereinkommen nach Art. 43 voraus. Vgl. Chaumont, RdC 89, S. 38 f.; Guggenheim, a.a.O., S. 272 f.; Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl., S. 651; Schindler jun., RdC 121 (1967 II), S. 244. Daß auch der nicht durch Art. 43 gebundene Mitgliedstaat zur Unterstützung gemäß Art. 2 Ziff. 5,49 gehalten ist, ist anzuerkennen. Siehe Komarnicki, RdC 80, S. 477; Guggenheim, SchweizJbIntR 2 (1945), S. 41 ff.; v. d. Heydte, a.a.O., Bd. 2, S. 278 f. — Auf die Probleme, die sich aus Art. 106 und Art. 53 Abs. 1 der Charta ergeben (Eingriffsrechte der großen Mächte, die nicht Sanktionen sind, daher neutrales Verhalten zulassen), ist hier nicht einzugehen. Vgl. hierzu Chaumont, RdC 89. 41 ff.
Zu dieser Ermächtigung des Sicherheitsrates Guggenheim, a.a.O., Bd. 2, S. 274; Delbez, a.a.O., S. 569; Chaumont, RdC 89, S. 35; Haug, a.a.O., S. 95; Schindler jun., RdC 121, S. 249; Verdross, RGDIP 60 (1957), S. 183.
Das wird besonders betont von Gorgé, La Neutralité Helvétique, S. 113; Bonjour, a.a.O., Bd. 1, S. 218.
Das wurde von einzelnen Schweizer Autoren (v. Waldkirch, Die dauernde Neutralität, 1926, S. 40 ff., u. a.) zugunsten voller Freiheit der Schweiz in Abrede gestellt. Andererseits nehmen einzelne Autoren eine eigentliche vertragliche Bindung an Neutralisation an, z. B. Krauel, Neutralität, Neutralisation und Befriedung, S. 38; Paulick, a.a.O., S. 53 f., dagegen Gorgé, a.a.O., S. 112. In dem Beitritt des Bundes zu der Erklärung wird man eine bindende Verpflichtung sehen dürfen, die nicht auferlegt, aber im Einvernehmen übernommen wurde. Gorgé spricht auch von einem Vertrage (a.a.O., S. 132).
Im Blick darauf, daß schon die Akte von 1815 das europäische Interesse anführte und diese Erklärung und ihre Annahme in Art. 84 der Wiener Schlußakte vom 9. Juni 1815 erscheint, wird man gegenwärtig die Schweizer Neutralität als einen anerkannten auch für die Schweiz bindenden Bestandteil des europäischen Gesamtrechts bezeichnen können. So auch Denise Robert, Etude sur la Neutralité Suisse, 1950, S. 59 ff. ; Haug, a.a.O., S. 39; Schindler jun., RdC 121, S. 303 f.
Vgl. die Dokumente bei F. Ermacora, Österreichs Staatsvertrag und Neutralität, Frankfurt 1957, S. 96 ff.; Verdross, ZaöRuVR 19 (1958), S. 512 ff.;
Marjorie M. Whiteman, Digest of International Law, Washington 1964, Bd. 3, S. 474 ff. Die dem Abschluß des Staatsvertrages der Mächte mit Österreich am 15. 5. 1955 vorhergehende Verhandlung Österreichs in Moskau im Mai 1955 trug nicht den Charakter bindender Absprache und Verpflichtung. Sie wird daher zu Unrecht als verpflichtende Basis der Neutralität in Anspruch genommen (so aber K. G. Idmann, RGDIP 63 (1959), S. 643; E. Bonjour, a.a.O., Bd. 1, S. 218; dagegen zutreffend Kipp, JuBl. 1960, S. 86; Verdross, ZaöRuVR 19 (1958), S. 515; Ders., Die immerwährende Neutralität der Rep. Österreich, Wien 1958, S. 11; de Nova, Friedens-Warte 54 (1958), S. 307.
Hierzu vor allem de Nova, a.a.O., S. 298 ff.; meine Darlegung in: Schlochauer, WB d. Völkerrechts, Bd. 2, S. 589; Verdross, Immerwährende Neutralität, S. 12 f.; Kipp, a.a.O., S. 86; Bald, Probleme der Neutralität, S. 24 f.; Plessow, Neutralität und Assoziation, S. 64 ff.
Zur tatsächlichen Anerkennung der österr. Neutralität durch das Verhalten der U. N. siehe Verdross, ZaöVR 19 (1958), S. 526 ff., ders., RGDIP 59 (1955), S. 188, eine Verpflichtung der großen Mächte betont, diese Vereinbarkeit mit der U.N.-Charta anzuerkennen und zu realisieren.
In diesem Sinne auch Verdross, Neutrality within the Framework of the U.N. Organization, Symbolae Verzijl, Den Haag 1958, S. 414 ff.; Schindler jun., RdC 121, S. 249 f.
Aus der reichen Literatur zu dieser tatsächlichen Wandlung des kollektiven Sicherheitssystems vgl. Chaumont, RdC 89, S. 34 f., 51 ff.; Castrén, ArchVölkR 5 (1955/56), S. 25 ff.; Bindschedler, ZaöRuVR 17, S. 9 f.; meine Darlegungen in: Berichte d. Dt. Gesellschaft f. Völkerrecht, Heft 2 (1958), S. 11 ff.; R. R. Baxter, ProcAmSocIL 62 (1968), S. 71 ; G. Schwarzenberger, The Law of Armed Conflict, S. 664 ff.
Zu diesem Problem siehe J. Stone, Aggression and World Order, London 1958; R. Higgins, The Development of International Law through the Organs of the U.N., Oxford 1963, S. 189 ff.
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Scheuner, U. (1969). Der Geltungsbereich der Neutralität in der Gegenwart. In: Die Neutralität im heutigen Völkerrecht. Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, vol 61. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99088-4_3
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