Zusammenfassung
Die Geschichte des Nationalstaats in Europa wurde bis in unsere Tage von allen europäischen Völkern nicht als ein universalhistorischer Prozeß, sondern in ihrer nationalen Vereinzelung dargestellt und gedeutet. Eine eigene Nation zu werden, sich einen unabhängigen Nationalstaat zu schaffen, galt für jedes europäische Volk als ein, wenn nicht das geschichtliche Hochziel, dessen Verwirklichung politischen Enthusiasmus erzeugte und die politische und historische Phantasie zur Schöpfung zahlreicher nationaler Legenden anregte. Die Einsicht, daß der Zug der Tausend unter Garibaldi nach Sizilien, die Schlacht von Sedan, aber auch die Umwälzungen von 1918/19 in Prag, Riga oder die Ereignisse in Helsinki im Grunde der gleichen Geschichtsstunde angehörten, ist noch kaum ins Bewußtsein getreten. Es wurde nur von wenigen — und meist von den Gegnern der nationalen Entwicklung — erkannt, daß die Geschichte des Nationalstaats in Europa eine allgemeine Epoche darstellte, die ihre gemeinsamen Merkmale und Erscheinungsformen bis zu den nationalen Symbolen und bis zum Wortschatz der politischen Sprache hatte. Die Paradoxie dieser nationalstaatlichen Epoche besteht eben darin, daß in der immer weiter getriebenen nationalen Differenzierung immer noch die Einheit der gleichen oder ähnlichen historischen Prinzipien erhalten bleibt. Wenn wir heute nach dieser Einheit suchen und fragen, so ist uns die Vielheit der nationalen Entwicklungen, der sprachlich-kulturellen und staatlich-politischen Individualisierungen noch ganz gegenwärtig. Ihre Anschauung verdanken wir der großen nationalen Geschichtsschreibung, die in ihren Ausläufern bis in unsere unmittelbare Gegenwart reicht. Sie hat nicht nur ihre bedeutende Funktion als Geburtshelferin des nationalen Bewußtseins der modernen europäischen Nationen gehabt, sondern stellte uns auch eine ungeheure Stoffmasse für die Deutung eines umfassenden universalhistorischen Prozesses zur Verfügung. Wir suchen ihn zu fassen mit den wissenschaftlichen Methoden einer historischen Forschung, die sich mehr und mehr anschickt, auch generelle und typische Züge der historischen Wirklichkeit aufzuspüren und diese durch vergleichende Untersuchungen zu erfassen.
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Schieder, T. (1964). Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen. In: Ansprache des Ministerpräsidenten Dr. Franz Meyers. Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen. Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, vol 119. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98776-1_2
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