Zusammenfassung
„Der Weg zu den Anfängen“, sagt Nietzsche, „führt überall zu der Barbarei“1. Barbarei erwartet denn auch den Juristen, der sich den Anfängen einer Verfassung zuwendet. Er stößt auf rechtliche Brüche und politische Willkür, auf historischen Zufall, auf rohe Faktizität. Die Umstände, unter denen eine Verfassung entsteht, spotten nicht selten den Regeln, denen sie ihrerseits die von ihr verfaßten Staatsorgane unterwirft. Demokratische Verfassungen, so zeigt die Geschichte, kommen nicht immer demokratisch zustande. Kritiker haben es leicht, hier demokratische Geburtsmakel aufzudecken und anzuprangern. Die Geschichte zeigt allerdings auch, daß einer demokratisch anfechtbaren Genese zum Trotz eine Verfassung kräftige Wurzeln im Rechtsbewußt-sein der Allgemeinheit treiben und eine tragfähige Rechtsbasis demokratischen Staatslebens bilden kann.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: ders., Werke (hg. von Karl Schlechta), Bd. III, 1956, S. 349 (355).
Zum Folgenden näher: Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. I, 1987, § 13 Rn. 26 ff., 121 ff. (Nachw.).
Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919,141933, Einl. S. 1. — Zur Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt für die staatsrechtliche und völkerrechtliche Identität des Staates Carl Schmitt, Verfassungslehre, U928, S. 94.
Dazu BVerfGE 36, 1 (16); 77, 137 (149 ff.); Georg Ress, Grundlagen und Grenzen der innerdeutschen Beziehungen, in: HStR Bd. I, 1987, § 11 Rn. 47 ff.; Dietrich Rauschning, Die nationalen und die internationalen Prozeduren zur Herstellung der Staatseinheit, in: HStR Bd. VIII, 1994, § 188 Rn. 1 ff., 14 f.; Hans H. Klein, Kontinuität des Grundgesetzes und seine Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, ebd., § 198 Rn. 3.
Dazu Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 31984, §§ 390,391 (S. 230 ff.); Wilfried Fiedler, State Succession, in: Rudolf Bernhardt (Hg.), Encyclopedia of Public International Law, Instalment 10, Amsterdam u.a. 1987, S. 446, 4438.
Victor Hugo, Aux Allemands, Paris, 9. September 1870: „Mais cette guerre, Allemands, quel sens a-t-elle? Elle est finie, puisque Pempire est fini. Vous avez tué votre ennemi qui était le nôtre. Que voulez-vous de plus?“. Der Aufruf wurde in französischer und deutscher Sprache publiziert. Die französische Version findet sich in: Victor Hugo, Œuvres complètes, Politique, Présentation de Jean-Claude Fizaine, Paris 1985, S. 725 ff. Dazu Helmut Berschin, Deutschland im Spiegel der französischen Literatur, 1992, S. 46.
Zu den Tatbeständen Verfassunggebung und Verfassungsrevision: Carl Schmitt (N 3), S. 26, 92 f., 101 ff.; Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 85 ff.; Wilhelm Henke, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1957, S. 36 ff.; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 21966, S. 921 f.; Udo Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt, 1966, S. 173 ff.; Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 163 ff., insb. S. 169 ff., 221 ff.; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 21984, S. 152 f.; Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: HStR Bd. I, 1987, § 19 Rn. 2, 10 ff., 31 ff.; Peter Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: HStR Bd. VII, 1992, § 160 Rn. 16 f.
Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 112 (ohne die Hervorhebungen im Original).
Vgl. Kelsen (N 8), S. 112.
IGH, Rep. 1986,108; vgl. ausführlich zur domestic jurisdiction und dem Interventionsverbot: Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1,21975, S. 183 ff.; Ian Brownlie, Principles of Public International Law, Oxford 41990, S. 291 f.; Knut Ipsen, Völkerrecht, 31990, § 57 Rn. 50–65.
Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen vom 24. Oktober 1970. Ähnlich der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“ (Teil I, Art. 1 Abs. 1).
Dazu mit Nachw. Dietrich Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, in: Der Staat 23 (1984), S. 523 ff.; Helmut Quaritsch, Wiedervereinigung in Selbstbestimmung — Recht, Realität, Legitimation, in: HStR Bd. VIII, 1994, § 193 Rn. 3 f., 5 ff.
Zu den Entwicklungen (mit Darstellung der Interventionsfälle der letzten Jahrzehnte und der internationalen Literatur) vgl. etwa: Kelly Kate Pease/David P. Forsythe, Human Rights, Humanitarian Intervention and World Politics, in: Human Rights Quarterly Vol. 15 (1993), S. 290 ff. Vgl. auch Helmut Rumpf, Der internationale Schutz der Menschenrechte und das Interventionsverbot, 1981, S. 51 ff.
So Malvina Halberstam, The Copenhagen Document. Intervention in Support of Democracy, in: Harvard International Law Journal Vol. 34 (1993), No. 1, S. 163 ff. Text des Dokuments in: Europa Archiv (EA) 45 (1990), S. D 380–394; zur Konferenz vgl. ebd., S. Z 150.
Hierzu Rumpf (N 13), S. 57–59 (zur Verfassungsintervention der Vereinten Nationen). Zur Intervention zugunsten von Menschenrechten und Demokratie vgl. auch Darstellung neuester Entwicklungen von: Klaus Otto Nass, Grenzen und Gefahren humanitärer Intervention. Wegbereiter für Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung, in: EA 48 (1993), S. 279 ff.
Zu den Wechselbeziehungen zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht: Christian Tomu-Schat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HStR Bd. VII, 1992, § 172 Rn. 1 ff., 11 ff., 66 ff. (Nachw.).
Das Naturrecht fungiert als legitimierender Grund des positiven Rechts (Rechtfertigungsgrund) und als sein normierendes Richtmaß (Regulativ) — so Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 1964, S. 196 ff. Das Bundesverfassungsgericht verwirft die Annahme, daß der Verfassunggeber alles nach seinem Willen ordnen könne, als Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzes-positivismus, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden sei. Eine Verfassungsnorm könne dann nichtig sein, wenn sie grundlegende Gerechtigkeits-postulate in schlechthin unerträglichem Maße mißachte (BVerfGE 3, 225 [Ls. 2, 231 ff.]). Vgl. auch BVerfGE 1, 14 (32 f.); 4, 294 (296); 23, 98 (106 f.); 84, 90 (121). Die Wahrscheinlichkeit, daß ein freiheitlich-demokratischer Verfassunggeber diese Grenze überschreite, sei freilich so gering, daß die theoretische Möglichkeit originärer „verfassungswidriger Verfassungsnormen“ einer praktischen Unmöglichkeit nahezu gleichkomme (BVerfGE 3, 225 [233]). Dazu Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungnormen?, 1951, S. 42 f.
Dazu Martin Kriele, Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, in: Festschrift für Hans Ulrich Scupin, 1973, S. 187 (188);
Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 229 ff., 237 ff., 275 ff.;
Werner von Simson, Überstaatliche Menschenrechte: Prinzip und Wirklichkeit, in: Festschrift für Karl Josef Partsch, 1989, S. 47 (52 ff.);
Klaus Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR Bd. V, 1992, § 108 Rn. 3 ff., 9 ff.; Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, ebd., § 115 Rn. 34 ff.
Die Funktion als Schranke der Verfassunggebung nehmen an Theodor Maunz in: ders./Günter Dürig, Grundgesetz (Stand 1991), Präambel Rn. 12; Ernst Gottfried Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 14 f.; Hans-Peter Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, in: HStR Bd. VII, 1992, § 158 Rn. 32 f. — Eine Bindung des Staates an die überpositiven Menschenrechte (ohne völkerrechtliche oder staatsrechtliche Anerkennung) wird dagegen abgelehnt von Winfried Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, in: AöR 114 (1989), S. 537 (542 f.).
Daß der Richter, der Auslegung und dem Dienste der positiven Rechtsordnung Untertan, den Geltungsanspruch des Gesetzes der wirklichen Geltung gleich achten muß und keine andere als die juristische Geltungslehre zu kennen hat, stellt Gustav Radbruch fest (Rechtsphilosophie, 51956, S. 182).
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Anhang I (A 75), in: ders., Werke (hg. von Wilhelm Weischedel), Bd. VI, S. 191 (235).
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 21960. 23 Kelsen (N 22), S. 196. 24Vgl. Kelsen (N 22), S. 205.
Etwa Kelsen (N 22), S. 203.
Kelsen (N 22), S. 204, 205.
Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 269.
Kelsen (N 22), S. 205.
Kelsen (N 22), S. 228.
Als real-historische Kraft kann die verfassunggebende Gewalt kein Thema für Kelsen sein. Wenn er den Terminus einmal verwendet, so steht er für eine andere Sache. „Es kann sich bei der Lehre vom pouvoir constituant nur um einen der positivrechtlich zu begründenden Fälle erschwerter Normänderung handeln“ (N 27, S. 253).
So Kelsen zu der „ewigen Frage, was hinter dem positiven Recht steckt“ (Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 3 [1927], S. 53 [55]).
Rights and permissions
Copyright information
© 1995 Westdeutscher Verlag GmbH Opladen
About this chapter
Cite this chapter
Isensee, J. (1995). Aporie des Anfangs. In: Das Volk als Grund der Verfassung. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98764-8_1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-98764-8_1
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-322-98765-5
Online ISBN: 978-3-322-98764-8
eBook Packages: Springer Book Archive