Zusammenfassung
Das Wort „Volkskirche“ ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, obwohl das Wann und Wo seines ersten Auftretens noch nicht schlüssig nachgewiesen werden konnte. Vielleicht führen die Spuren bis in die preußische Reformära unter dem Freiherrn vom Stein zurück; doch läßt sich über die Vermutung von Theodor Strohm hinaus 3 noch nichts Verbindliches sagen. Sicher aber dürfte sein, daß der Begriff „Volkskirche“ ein besonderes Gewicht, eine eigentümliche Betonung des Wortes „Volk“ voraussetzt. Diese jedoch hat es vor Herder und der Romantik nicht gegeben. Der ältere Sprachgebrauch spricht von Staat, Land, Vaterland, und erst mit der Französischen Revolution gewinnt der Begriff der Nation große Bedeutung und Verbreitung; er ist aber, wie allgemein bekannt, mit der deutschen Vorstellung „Volk“ keineswegs identisch.
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Literatur
Dem Verfasser gegenüber im Dezember 1970 mündlich geäußert. In einem Brief von Theodor Strohm an den Verf. vom 18. 6. 1971 ist zu unserem Problem folgendes bemerkt: „1. Der Ausgang des Themas Volkskirche aus der Reformära Humboldts, des Freiherrn vom Stein und des frühen Schleiermacher (Volkskirche als durch und durch lebendiger Organismus) abgehoben von der bürokratisch-absolutistischen Kirchenverfassung (nicht organistisch verstanden). 2. Das Verständnis Wicherns und der Inneren Mission in der ersten Phase: Volkskirche als Innenseite des Staates und teilweise bereits als Adressat die aus dem Ordnungsrahmen gefallene emanzipierte Gesellschaft. 3. Die Politisierung der Volkskirche in den Parteiungen des späten 19. Jahrhunderts in der Dialektik von Staat und Gesellschaft. 4. Zu beschreiben wäre das paradoxe Phänomen des Zusammenbruchs des freien Protestantismus und damit auch der Kirchenparteien nach 1919 und die Reorganisation der Kirche als bürokratische Institution und Veranstalterin von Initiativen im Gegenüber zum,säkularen Volk’. Wiederholung dieses Vorgangs nach 1945: Alle Initiativen der Kirchen sind Veranstaltungen für das christliche bzw. säkulare Volk (Akademien, Kirchentage etc.). Volkskirche bleibt daher ein Postulat in der Richtung des allgemeinen Priestertums der Gläubigen. Zu diesem Aspekt hat mich beeindruckt eine Schrift Martin Rades aus dem Jahre 1913,Über das allgemeine Priestertum der Gläubigen’.“
Max Hildebert Boehm, Das eigenständige Volk, Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932, hat den theoretischen Ertrag der Gesamtbewegung zu erfassen versucht. Die Wendung gegen den Staat ( Etatismus) ist deutlich erkennbar, ebenso die wissenschaftlichen Schwierigkeiten bei der Erfassung des „Volkstums“. Aber dieses Werk lohnt noch heute die Auseinandersetzung mit der völkisch-romantischen Tradition, im Gegensatz zu dem ideologischen Schrifttum jener Zeit.
Zum Volksbegriff bei Schleiermacher vgl. neuestens Martin E. Miller, Der Obergang, Schleiermachers Theologie des Reiches Gottes im Zusammenhang seines Gesamtdenkens (Studien zur ev. Ethik, Bd. 6), Gütersloh 1970, S. 62 f., 97 f., 112 f., 124 f., 203 ff. Schleiermacher vermittelt zwischen der Differenzierung in Völker und der sittlichen Idee einer universalen Gemeinschaft. Über die Rezeption romantischer Vorstellungen in dieser Sache durch Schleiermacher ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, vgl. dazu Miller, a.a.O., S. 62, Anm. 25. — Hans Rudolf Müller-Schwef e, Art. Volkskirche, RGG, 3. Aufl., Bd. VI, Tübingen 1962, Sp. 1458 ff. — Friedrich Daniel Schleiermacher, z. B. Sämtliche Werke I /13, S. 662–703 (1850).
R. Rothe, Theologische Ethik, Bd. 1–3, Wittenberg 1845/48; vgl. Wolf-Dieter Marsch, Institution im Übergang, Die ev. Kirche zwischen Tradition und Reform, Göttingen 1970, S. 37 u. 271 f. Mit Recht wendet sich die theologische Aufmerksamkeit heute von neuem R. Rothe zu; über den Durchschnitt des sog. „Neuprotestantismus“ ragt er weit hinaus.
Vgl. hierzu Theodor Strohm, Theologie im Schatten politischer Romantik, München/ Mainz 1970, S. 36, der dort mit Recht feststellt, daß „die Staatskirche abstrakt bürokratisch geworden und dem einzelnen sich entfremdet“ habe (im Anschluß an ein Zitat aus A. Ruge, Die wahre Romantik, 1846 ).
Zu Gogarten vgl. jetzt die ausgezeichnete Darstellung und Kritik von Theodor Strohm, Theologie im Schatten politischer Romantik, München/Mainz 1970. Daß nicht nur Paul Tillich und Karl Barth scharfe Kritik an den völkischen Ideologien und dem „protestantischen Nationalismus“ übten, sondern auch Theologen und Laien, die in stärkerem Maße von den national-deutschen Traditionen herkamen, zeigt das von Walther Künneth u. Helmut Schreiner herausgegebene Werk „Die Nation vor Gott”, Berlin 1933, in welchem sich H.-D. Wendland mit der Volks-Nomos-Lehre auseinandersetzte (a.a.O., S. 106–137, 5. Aufl. 1937). Die durchgreifendste Kritik des „Ursprungsmythos“ der reaktionären politischen Romantik gab Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, Potsdam 1933, S. 28 ff., neu gedruckt in Ges. Werke, Bd. II, Christentum und soziale Gestaltung, Stuttgart 1962, S. 219 ff. Die Erstauflage wurde von den Nationalsozialisten sofort beschlagnahmt und eingestampft. Zu Tillichs Kritik vgl. Th. Strohm, a.a.O., S. 43 ff.
W. Stapel, a.a.O., S. 273, vgl. aber S. 9, wo Stapel sagt, daß er im Unterschied zu H. Blüher über Sünde und Erlösung „lutherisch“ denke. Die subjektive Ehrlichkeit der Überzeugung, ein Christ zu sein, kann ihm nicht abgesprochen werden; die theologische Kritik kann selbstverständlich diese eigenartige „Symbiose” von Luthertum, Mystik und völkischer Ideologie nicht verschonen. Max Maurenbrecher schrieb das Buch „Der Heiland der Deutschen“ mit dem bezeichnenden Untertitel „Der Weg der Volkstumschaffenden Kirche”
Vgl. hierzu Edmund Schlink, Die Lehre von der Taufe, Kassel 1969, S. 109 ff. Aus den neutestamentlichen Schriften kann u. E. der Brauch der Kindertaufe weder strikt bewiesen noch das Gegenteil sicher behauptet werden. Vgl. die zusammenfassende Stellungnahme Schlinks, insbesondere zu der Auseinandersetzung zwischen J. Jeremias und K. Aland.
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Wendland, HD. (1971). Bemerkungen zur Genese von Begriff und Sache. In: Die Krisis der Volkskirche — Zerfall oder Gestaltwandel?. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, vol 176. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98613-9_2
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