Zusammenfassung
Das Interesse an Gemeinschaften und Formen der gegenseitigen Hilfe von Bürgerinnen hat im letzten Jahrzehnt eine politische und gesellschaftstheoretische Belebung erfahren. Politisch stimuliert von den „friedlichen Revolutionen“ in Osteuropa und ihren postrealsozialistischen Transformationsproblemen sind Konzepte der Zivil- bzw. Bürgergesellschaft zu politischen Visionen und philosophischen Moden geworden. Die negativen Folgen der radikalen sozialen Austeritätspolitik im Westen, die in den achtziger Jahren mit den Namen Reagan und Thatcher verbunden war, provozierten im Westen eine kommunitaristische Gegenbewegung. Gemeinsam ist beiden Strömungen die Vorstellung von einem zu stärkenden eigensinnigen Bereich des Bürgerengagements. Freiwilliges soziales Engagement soll nicht länger zum sozialpolitischen Notnagel in Krisenzeiten verkümmern, sondern avanciert zur Voraussetzung und zum Wesenszug einer „starken“ Demokratie und sozial integrierten „guten“ Gesellschaft.1
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Anmerkungen
Zwei programmatische Titel aus der Literaturflut mögen genügen: Benjamin Barber, Starke Demokratie, Hamburg 1994; Robert N. Bellah et al., The Good Society, New York 1991.
Einige Hinweise auf das gestiegene Interesse: Die „Deutsche Gesellschaft für Sozialarbeit“ kiln-digt für den Herbst 1995 einen stark „kommunitaristisch” gestimmten Kongreß zur „Standortbestimmung“ mit dem Titel „Bürgerschaftliches Engagement. Perspektiven im Ehrenamt, in Sozialer Selbsthilfe, in Gemeinschaftsinitiativen” an. Warnfried Dettling, Vordenker des sozialreformerischen Flügels der CDU, fordert in der „Zeit“ (Nr. 30 vom 21.7.1995) kommunitaristisch inspiriert „Sozialisiert den Wohlfahrtsstaat!”. Im April dieses Jahres versammelte die baden-württembergische Landesregierung zahlreiche Wissenschaftlerinnen, um Antwort auf die bange Frage zu erhalten: „Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?“.
Exemplarisch hierfür das Konzept der „civic community“ von Robert D. Putnam — vgl. ders., Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993, S. 86ff.
Georg Vobruba hat jüngst auf die paradoxe Grundstrpktur kommunitàäistischen DenTcens auf-merksam gemacht: „Gemeinschaft ist ein moderner Begriff, der sich auf Vormodernes bezieht, um das moderne Problem der Gestaltung der Gesellschaft zu bewältigen.“(ders,. Gemeinschaft ohne Moral. Theorie und Empirie moralfreier Gemeinschaftskonstruktionen, Wien 1994, S. 20 )
Daran hat sich vor allem die feministische Kritik entzündet — vgl. Herlinde Pauer-Studer, Das Rechte oder das Gute? Feministische Kritik am Kommunitarismus und Liberalismus, in: Das Argument Nr. 206, H. 4/5 1994, S. 775–784.
Die Programmschrift der US-Communitarians ruft zwar zur erhöhten Aufmerksamkeit für die Nöte von Familien, Nachbarschaften und lokalen Gemeinschaften auf, läßt aber übergreifende sozialpolitische Überlegungen vermissen.
Ein üppiges Vereinswesen und das Wachstum des Dritten Sektors insgesamt widersprechen diesem Befund nur scheinbar. Kommunitäre Qualitäten gehen in dem Maße verloren, wie dauerhafte und direkte Kommunikationsbeziehungen durch kommerzielle Freizeitangebote oder individualisierte Mitgliedschaften in Großorganisationen ersetzt werden — zu diesem Trend für die USA s. Robert D. Putnam, Bowling Alone: America’s Declining Social Capital, in: Journal of Democracy, 1/1995, S. 65–78.
Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, Frankfurt/M. 1986, S. 310f.
So das Fazit einer neueren Untersuchung der Caritas, in der religiös motivierte Ehrenamtlichkeit noch am ehesten vermutet werden konnte — Gisela Jakob/Thomas Olk, Professionelles Handeln und ehrenamtliches Engagement — ein „neuer“ Blick auf ein „altes” Problem, in: Sozialmagazin 3/1995, S. 20.
Bernd Halfar/Adrea Koydl, Geht dem Ehrenamt die Arbeit aus? in: Blätter der Wohlfahrtspflege 6/1994, S. 119.
Zu dieser Perspektive siehe Adalbert Evers, Pluralismus, Fragmentierung und Vermittlungsfähigkeit. Zur Aktualität intermediärer Aufgaben und Instanzen im Bereich der Sozial-und Gesundheitspolitik, in: Alf Trojan/Helmut Hildebrandt (Hrsg.), Brücken zwischen Bürgern und Behörden. Innovative Strukturen für Gesundheitsförderung, Asgard 1990, S. 27–40.
Ulrich Kettler, Selbsthilfeförderung: Förderbedarf, Empfehlungen und Perspektiven, in: Sozialmagazin 3/1995, S. 31.
Otto Haug, Das soziale Lernen muß neu organisiert werden, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 6/ 1994, S. 111.
Heinz Janning, Ehrenamtlichkeit fällt nicht vom Himmel. Über das niederländische Freiwilligen-system, in: Sozialmagazin 3/1995, S. 29.
Roland Roth, „Sozialpolitik von unten“. Soziale Bewegungen und sozialpolitische Reformen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 1/1991, S. 4156.
Fast vergessen sind z.B. die heftigen politischen Kontroversen um die einschlägigen Berliner Projekte (SEKIS, BBJ-Consult, „Erfahrungswissen älterer Menschen nutzen“, „Treffpunkt Hilfbereitschaft” etc.), die oft schon ihr zweites Jahrzehnt begonnen haben — vgl. SEKIS, Selbsthilfe Kontakt-und Informationssstelle und Paritätischer Wohlfahrtsverband (Hrsg.), Versionen und Visionen für das Soziale. Diskussionen über Selbsthilfe und Sozialpolitik aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens von SEKIS in Berlin, Berlin 1993.
Statt vieler s. Heiner Keupp/Bernd Röhrle (Hrsg.), Soziale Netzwerke, Frankfurt/M 1987; Bernd Dewe/Norbert Wohlfahrt (Hrsg.), Netz- werkförderung und soziale Arbeit, Bielefeld 1991.
Daß gerade mit den neuen sozialen Bewegungen Milieubildungen verbunden waren, in denen nicht nur Abgrenzungen, sondern auch neue Solidarnormen entwickelt wurden, hat eine Forschungsgruppe um Michael Vester in empirischen Studien herausgearbeit und gegen allzu schlichte Individualisierungsthesen gesetzt — vgl. Michael Vester u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln 1993; zur Debatte über entsprechende Werteverschiebungen verschiedene Beiträge in Ansgar Klein (Hrsg.), Wertediskussion im vereinten Deutschland, Köln 1995. Wie stabil diese neuen Milieubildungen sein werden und wie sich dabei ihre sozialmoralische Substanz verändern wird, dürfte sich erst im Rückblick zeigen.
Programmatisch und konzeptionell berücksichtigt werden diese Motive zum Beispiel im Berliner Projekteverbund „Erfahrungswissen“, der von der „Wissensbörse”, über das „Erzählcafé“, das „Werkhaus Anti-Rost” bis zum „Stadtführer mit Erfahrungswissen“ reicht.
Vgl. Thomas Olk, Sozialengagement als Lebensstil, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 9/1993, S. 270ff.
Heinz Barnes, Die etwas andere Professionalität. Thesen, Überlegungen und offene Fragen zum „Neuen Ehrenamt“, in: Sozialmagazin 3/1995, S. 15; Bernd Halfar/Adrea Koydl, Geht dem Ehrenamt die Arbeit aus? in: Blätter der Wohlfahrtspflege 6/1994, S. 120.
Eindrucksvoll dokumentieren diese Veränderung für die Altenpolitik Adalbert Evers u.a., Alt genug, um selbst zu entscheiden. Internationale Modelle für mehr Demokratie in Altenhilfe und Altenpolitik, Freiburg 1993.
Zu IKEM s. Runheide Lisner, Am Morgen klingelt das IKEM-Telefon…, in: Sozial Extra 4/1995, S. 2ff; zum „Treffpunkt Hilfsbereitschaft“ siehe Carola Schaaf-Derichs „Eine Agentur für `Social-Profit—, in: Sozialmagazin 3/1995, S. 25ff.
Zu den gesellschaftsspezifischen Konnotationen von „Gemeinschaft“ und den daraus resultierenden Mißverständnissen in der transatlantischen Kommunitarismusdiskussion s. Micha Brumlik, Die Gemeinschaft, das Neue und die Demokratie — Leitmotive einer modernen Sozialpädagogik, in: Hans-Uwe Otto u.a. (Hg.), Zeit-Zeichen sozialer Arbeit, Neuwied 1992, S. 43–48.
Gängige Wahrnehmungen über staatliche Sozialpolitik unter Krisenbedingungen korrigiert z.B. Paul Pierson, The New Politics of the Welfare State, Bremen 1995 (ZeS-Arbeitspapier 3/95).
Dies auch die Botschaft der grundlegenden Renten-Studie von Frank Nullmeier/Friedbert W. Rüb, Die Transformation der Sozialpolitik. Vom Sozialstaat zum Sicherungsstaat, Frankfurt/M-New York 1993.
Auf diesen Zusammenhang hat jüngst noch einmal Claus Offe nachdrücklich aufmerksam gemacht: „Freiwillig auf die Teilnahme am Arbeitsmarkt verzichten. Arbeitslosigkeit, Gewerkschaften und gesellschaftspolitische Innovation“, in: Frankfurter Rundschau vom 19.7.1995.
Auf diese politische Dimension des „social citizenship“ hat immer wieder Adalbert Evers aufmerksam gemacht — so zuletzt in einem Referat mit dem Titel „Sozialstaatliche Traditionen, Institutionen und neue soziale Bewegungen. Über das politische Defizit der Wohlfahrtsgesellschaft” auf dem eingangs erwähnten wissenschaftlichen Kongreß der Landesregierung Baden-Württemberg (61 7. April 1995).
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Roth, R. (1995). Kommunitaristische Sozialpolitik?. In: Klein, A., Legrand, J., Leif, T. (eds) Kommunitarismus und praktische Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98529-3_7
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