Zusammenfassung
Politische Gesittung ist eine Seite der politischen Wirklichkeit. Es ist die Art, wie Menschen den Machtkampf führen und die politischen Einrichtungen benutzen mit Rücksicht auf ihre Partner und Gegner. Ich könnte auch sagen, mit Rücksicht darauf, daß ihre Partner Gegner sind oder mindestens werden können, und daß ihre Gegner Partner sind. Das Wort »mit Rücksicht« ist wörtlich zu nehmen. Es heißt nicht »rücksichtsvoll« im Sinne von freundlich. Aber es heißt allerdings, daß man nach rückwärts und nach allen Seiten um sich blickt, wenn man handelt, und nicht nur blind nach vorn auf das eigene Ziel. Ich könnte auch sagen: es handelt sich um die politischen Spielregeln. Und zum Spiel gehören nun einmal auch die Mitspieler. Ich muß mich von vornherein gegen zwei Mißverständnisse wehren: das moralische und das amoralische. Das moralische Mißverständnis besagt: es kommt nicht auf Sitte und Gesittung an, sondern nur auf die persönliche Sittlichkeit, nicht auf die guten Werke, sondern allein auf den guten Willen. Nun ist zwar die strenge Gesinnungsethik ein unentbehrliches Element für ein wahrhaft menschliches Zusammenleben und damit auch für die Politik. Es ist ihre Aufgabe, die in der Gesellschaft geltenden Maßstäbe kritisch zu prüfen und zu reinigen, sie an die ewig gültigen zu binden. Aber das heißt doch immer: das Ziel des guten Willens sind die guten Werke, oder drücken wir es ganz vorsichtig aus: die rechten Werke. Und die Sittlichkeit des guten Menschen mag zweckfrei sein, aber sie ist nicht sinnlos: sie will ein menschenwürdiges, eben ein »gesittetes« Zusammenleben. Es ist ja kein Zufall, daß die Sprache in ihrer Weisheit als Urwort »Sitte« hat, die anerkannte Regel, und daß Sittlichkeit davon erst abgeleitet ist. Politische Gesittung ist nicht eine moralische Forderung von außen her, es heißt nicht, daß Politik von guten Menschen gemacht werden soll, sondern es heißt, daß die Menschen in der Politik sich miteinander benehmen müssen, wenn das politische Leben zu ertragen sein soll. Der ethische Rigorist Kant unterscheidet so den nüchternen »moralischen Politiker«, der sich so anständig benimmt wie möglich, damit sein Staat funktioniert, von dem »politischen Moralisten«, der schließlich, um moralisch einwandfrei zu erscheinen, die Moral nach der Politik verbiegt1.
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von der Gablentz, O.H. (1964). Politische Gesittung. In: Der Kampf um die rechte Ordnung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98513-2_19
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