Zusammenfassung
Religion ist ein Urphänomen der Gesellschaft. Das Leben der Menschheit ist eingespannt zwischen Natur und Geist und zwischen Tod und Leben. Dem entsprechen die vier sozialen Grundfunktionen: Die Wirtschaft ist der Natur zugewandt, die Bildung dem Geist. Die Politik steht auf der Todesseite mit der Verantwortung, die Gesellschaft vor dem Zerfall zu wahren; die Religion integriert alle Bereiche der Gesellschaft, indem sie den Menschen das Heil weist, den Weg zum Leben. In fast allen Epochen und Kulturen ist »Religion« ein eindeutig zu isolierendes Kulturelement. In seltenen Fällen, in Verfallszeiten hochdifferenzierter Kulturen »erlischt« die Religion, mindestens tritt ihre soziale Bedeutung so stark zurück, daß andere Kräfte die Aufgabe der Integration übernehmen müssen. Dafür steht zunächst die politische Macht bereit — es gibt dann eine Staatsreligion im Sinne des Cäsaropapismus; es kann aber auch eine Gruppe des Bildungswesens einspringen, wie die konfuzianischen Literaten in China; ja sogar Gruppen, die sich im Bereich der Wirtschaft gebildet haben, können integrieren, wenn die Wirtschaft überwertig geworden ist: das ist der Fall bei der modernen Arbeiterbewegung. Immer aber muß die Integration erreicht werden. Auch wenn ein immanentes Ziel gesetzt wird, wie Staat, Klasse, Volk, erhält dieses Ziel die typisch religiöse Qualität der Heiligkeit. Nicht nur ein einzelner Zweck wird mit diesem Ziel erstrebt, sondern das ganze Heil der Gruppenzugehörigen wird davon abhängig gemacht, es wird nicht nur überwertig, sondern schlechthin höchstwertig. Es erhält Symbolcharakter, es wird verehrt, ihm werden Opfer gebracht, die Lehre von dieser heiligen Macht wird dogmatisch verkündigt, theologisch exegisiert, die Schriftgelehrten als Träger dieses Kultus bilden eine Hierarchie — kurz, für den Soziologen ist der Tatbestand der Religion in vollem Umfang gegeben. Die Religionswissenschaft wird den Unterschied bestimmen müssen zwischen den Religionen »erster« und »zweiter« Ordnung, den bewußt sakralen und den auf dem Umweg über die Integration als unentbehrliche soziale Funktion entstandenen Religionen. Wie eng sie zusammengehören, zeigt eine weitere Beobachtung.
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Literatur
Rudolf Otto, Das Heilige, 1936.
Gerard v. d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, 1933.
Joachim Wach, Religionssoziologie, 1951.
Gustav Mensching, Soziologie der Religion, 1947.
Helmut v. Glasenapp, Die fünf großen Religionen, 1952.
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© 1964 Westdeutscher Verlag · Köln und Opladen
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von der Gablentz, O.H. (1964). Die Krisis der säkularen Religionen. In: Der Kampf um die rechte Ordnung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98513-2_12
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-98513-2_12
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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