Zusammenfassung
Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 hatte sich in den deutschen Bildungs- und Besitzeliten ein neues Verhältnis zum Begriff und zur Realität der politischen Macht entwickelt. An anderer Stelle wurde bereits ausgeführt, daß es sich dabei nicht um eine spezifisch liberale Vorstellung vom Wesen der Macht handelte, sondern um eine praktisch-politische Kapitulation vor der Wirklichkeit des konservativ-reaktionären Machtstaates. Nach 1850 war im liberalen Bürgertum immer mehr die Verfolgung des Privatinteresses an die Stelle konstruktiv-politischer Staatsgestaltung getreten, die man den konservativen Oberschichten überließ. Nach 1870 versuchten nationalliberale Theoretiker, diese einer selbständigen Bildung liberaler Führungsschichten abträgliche Entwicklung auch theoretisch zu begründen und zu rechtfertigen. Bildung und Besitz bekannten sich zur Idee des Bismarckschen Staates, indem sie seine geistige und sittliche Substanz von der Staatsphilosophie Hegels herleiteten1. Bürgerliche Gesellschaft, Staat und Persönlichkeitsideal gewannen einen neuen, »realpolitischen« Inhalt. Einer der einflußreichsten Mentoren jenes Staatsbewußtseins, in dem die Grenzen von Liberalismus und Konservatismus verschwammen, war Heinrich v. Treitschke. Die Elitetheorie Treitschkes ist nur auf dem Hintergrund seines Staatsbegriffs zu verstehen. Er sieht im Staat das »Volk als Macht«, »ein hohes sittliches Gut... an sich selbst« 2. Die Macht des Staates wird getragen vom Streben der individuellen Persönlichkeit nach sittlicher Vervollkommnung, von der politischen Tätigkeit des Bürgers im Staat 3.
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Literatur
Vgl. J. Löwenstein, a. a. O., S. 98 ff., 106 ff.
Treitschke: Politik, Bd. I, S. 62f.
Ders., Parteien und Fraktionen, a. a. O., S. 574.
So zutreffend Knoll, a. a. O., S. 49, 53 f.; Sell, a. a. O., S. 260; anders Westphal, Welt-und Staatsvorstellung, S. 286; vgl. auch Dreitzel, a. a. O., S. 40 f.
Vgl. Meinecke, Idee der Staatsraison, S. 477 ff.
Treitschke, Politik, Bd. I, S. 49 f.
Ders.: Der Socialismus und seine Gönner, 1874, in: Zehn Jahre deutscher Kämpfe, 1865 bis 1874, Schriften zur Tagespolitik, Berlin 1874, S. 469 ff., 490 ff.
Vgl. Westphal: Der Staatsbegriff Heinrich von Treitschkes, in: Meinecke-Festschrift, S. 160–170.
Treitschke, Socialismus und seine Gönner, a. a. O., S. 501: Demgegenüber sei das allgemeine Wahlrecht »in diesem Staate der edlen Bildung die organisierte Zuchtlosigkeit, die anerkannte Überhebung des souveränen Unverstandes…«
Treitschke, Politik, Bd. II, S. 179: »Da es (das allgemeine Wahlrecht, K. K.) aber vielmehr eine bürgerliche Pflicht ist, nicht ein individuelles Recht, da es für das Wohl der Gesamtheit, für das Staatswohl ausgeübt werden soll, so muß es in der Macht des Staates liegen zu bestimmen, wer wählen darf.«.
Ders.: Das Zweikammersystem und das Herrenhaus, 1873, in: Zehn Jahre deutscher Kämpfe. Vgl. auch die das Oberhaus betreffenden Ausführungen in der »Politik«, passim. 10 Vgl. Bussmann: Treitschke, sein Welt-und Geschichtsbild, Göttingen 1952, S. 354 ff.
Treitschke, Zweikammersystem, a. a. 0., S. 400.
Über Treitschkes Selbstverwaltungstheorie vgl. auch Westphal, Treitschkes Staatsbegriff, a. a. O., S. 182 ff.; Knoll, a. a. O., S. 32 f.
Dazu und zum Folgenden Treitschke, Politik, Bd. I, S. 144, 161.
ebdt., S. 161: »Es gehört eben zu allem Regieren eine gewisse Überlegenheit gegenüber den Regierten durch Bildung, Vermögen, Geburt, oder was es sonst sein mag.«
Ders., Politik, Bd. II, S. 173, 493 f.; ders.: Das erste Kaiserreich, 1865, in: Historische und politische Aufsätze, 3. Bd., S. 70 f.
Ders.: Das constitutionelle Königtum in Deutschland (1869–71), in: Historische und politische Aufsätze, 3. Bd., S. 520 f.
Ders.: Politik, Bd. II, S. 495 f.
Treitschke, Zweikammersystem, a. a. O., S. 401: »In einem rührigen Volke wird das Unterhaus immer durch die größere geistige Fruchtbarkeit sich auszeichnen; dafür besitzt ein aus den regierenden Klassen gebildetes Oberhaus ein stärkeres Gefühl seiner politischen Verantwortlichkeit, einen lebendigeren Sinn für die Macht und Würde des Staates.«
Demgegenüber das günstige Urteil von Knoll, a. a. O., S. 55, der Treitschke nicht nur für einen »Elitetheoretiker von Rang« hält, sondern auch für einen »Politiker, der die Grenzen von Freiheit und Gleichheit markiert…«
Vgl. Arthur Rosenberg: Die Entstehung der deutschen Republik 1871–1918, Berlin 1928, S. 11 ff.
Vgl. auch Neumann, Stufen des preußischen Konservatismus, S. 165 f.
Vgl. A. Rosenberg, a. a. O., S. 27 f.; Neumann, Deutsche Parteien, S. 18 f.; Maenner, a. a. O., S. 484.; Buchheim, a. a. O., S. 82.
Beutin, Bürgertum als Gesellschaftsstand, S. 159; Schraepler, Politische Haltung des liberalen Bürgertums, S. 541 f.
Schraepler, Politische Haltung des liberalen Bürgertums, S. 542.
Vgl. die lebhafte Kritik bei Eugen Schiffer: Ein Leben für den Liberalismus, Berlin 1951, S. 155 ff. Vgl. auch Neumann, Stufen des preußischen Konservatismus, S. 166.
Vgl. Buchheim, a. a. O., S. 68.
Vgl. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 443.
Forckenbeck an Lasker, 21. 3. 1880, in: Heyderhoff-Wentzke, Bd. II, S. 312: »Eine liberal-konservative Koalition kann selbst, wenn dieselbe zu einer Vertretung des Liberalismus in der Regierung führte, bei der heutigen in der Tat konservativen Strömung im Volke, die aber nicht anhalten wird, in Wirklichkeit dem liberalen Gedanken gar nichts nützen, sondern für die Zukunft dadurch, daß der Liberalismus kompromittiert, verwischt und mitverantwortlich wird, nur höchst wesentlich schaden!« Vgl. auch Bamberger an Stauffenberg, 25. 2. 1887, ebdt., S. 429.
Dazu Gagel, a. a. O., S. 123 f.; Thieme, a. a. O., S. 94 ff., 210 f.
Vgl. A. Rosenberg, a. a. O., S. 40 f.
Delbrück, Regierung und Volkswille, S. 66 ff., 177; zu Delbrücks politischer Theorie vgl. Anneliese Thimme: Hans Delbrück als Kritiker der wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1955.
Naumann, Demokratie und Kaisertum, ein Handbuch für innere Politik, 4. neubearb. Aufl., Berlin-Schöneberg 1905, S. 27: »Die Vergangenheit zeigt keinen bleibenden einmaligen Sieg des Persönlichkeitsgedankens, aber ein beständiges erfolgreiches Ringen für ihn. Ihn nehmen wir Heutigen aus den Händen der Vorfahren und tragen ihn in unser technisches Zeitalter, so daß unsere Parole heißt: »Maschine und Persönlichkeit!« Zur Naumannschen »Persönlichkeitspolitik« vgl. Knoll, a. a. O., S. 110.
Vgl. Friedrich Sponsel: Friedrich Naumann und die deutsche Sozialdemokratie. Diss. Erlangen 1952, S. 111 ff., 125 ff.
Naumann, Politische Parteien, S. 110; ähnlich ders., Demokratie und Kaisertum, S. 28.
Ders.: Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin-Schöneberg 1907, S. 4221f.
Naumann, Demokratie und Kaisertum, S. 42; vgl. S. 51: »Erst durch dieses Recht haben wir einen politisch atmenden Gesamtkörper.« In diesen Zusammenhang gehört auch die Wahlrechtsauffassung Theodor Barths, des langjährigen Weggenossen Friedrich Naumanns, vorgetragen auf dem Parteitag der Freisinnigen Vereinigung am 18.2. 1906: »Eine gesunde politische Entwicklung Deutschlands erfordert die Beseitigung aller Klassenprivilegien aus den Wahlrechtssystemen der Einzelstaaten… Befriedigen kann nur der Ersatz des Dreiklassenwahlsystems durch das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht neben einer den veränderten Bevölkerungsverhältnissen angepaßten Neueinteilung der Wahlkreise.«; zit. bei Gerlach, Preußisches Wahlrecht, S. 217 f.
Vgl. demgegenüber Heinrich Jaeger: Anti-Naumann, das ungleiche aber gerechte Wahlrecht der Zukunft, Aachen 1909, S. 6: »Deutschlands Reichtum und politisches Glück ist bisher keineswegs von den Massen und deren Vertretern geschaffen worden, sondern von schöpferisch begabten Einzelpersönlichkeiten, von persönlichen Führern, die der Masse trotzen mußten, aristokratischen Führernaturen…«; vgl. auch S. 13.
Hierzu und zum Folgenden Naumann, Demokratie und Kaisertum, S. 80 ff.
ebdt., S. 87: »Indem die Demokratie das Wesen der aristokratischen Politik studiert, lernt sie überhaupt erst Politik.«
Zum Folgenden Naumann, Demokratie und Kaisertum, S. 88 ff., 110 ff., 122 ff.; dazu Theodor Heuß: Friedrich Naumann, der Mann, das Werk, die Zeit, 2. Aufl., Stuttgart und Tübingen 1949, S. 131 ff.
Naumann, Demokratie und Kaisertum, S. 113.
ebdt., S. 118: »Das Großunternehmertum legt sich die Frage vor, was ist für uns teurer, Kompromiß mit den Konservativen oder mit den Demokraten? Aus der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich die politische Zukunft Deutschlands.»
ebdt., S. 157 ff. Dazu Kohn, a. a. O., S. 294 ff.; Conze: Friedrich Naumann, Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit 1895–1903, in: Kähler-Festschrift, S. 355 ff.
Naumann, Demokratie und Kaisertum, S. 167 ff., 176 ff., 221 ff. Kritisch dazu Heuß, a. a. O., S. 126 ff.
Dazu Heuß, a. a. O., S. 257 ff.; Sponsel, a. a. O., S. 142 ff.
Zum Fehlen von klaren Verfassungsreformplänen vgl. auch Conze, Naumann, S. 378.
Vgl. dazu Naumann: Die Stellung der Gebildeten im politischen Leben, Berlin-Schöneberg 1910.
ebdt., S. 15: »Bismarck wurde der politische Meister des deutschen Denkens, aber nicht der Erzieher zur politischen Einzeltätigkeit der deutschen Gebildeten.«
ebdt., S. 20. Jedem politischen Tätigwerden liegt nach Naumann, Erziehung zur Politik, S. 7 der »Trieb zur Gestaltung menschlicher Gemeinschaft« zugrunde.
Vgl. dazu auch das Kapitel »Um die Erneuerung des Liberalismus« bei Heuß, a. a. O., S. 170 ff.
Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, München und Leipzig 1918.
Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 1959, S. 178 ff.; Bracher, Auflösung, S. B. Als Vergleich zu M. Weber sei auf die etwa zur selben Zeit erschienene Studie von Erich Kaufmann: Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, 1917, in: Autorität und Freiheit, von der konstitutionellen Monarchie bis zur Bonner parlamentarischen Demokratie (Gesammelte Schriften, Bd. I), Göttingen 1960, S. 143223, besonders S. 219 f. hingewiesen. Kaufmann übersieht nicht den Mangel politischer Talente im deutschen Reichstag, der keine Anziehungskraft auf aktive selbständige Geister habe ausüben können. Anders als Weber versucht Kaufmann jedoch diesen Zustand als natürliches Ergebnis der deutschen Geschichte, gleichsam organisch aus ihr erwachsen, zu rechtfertigen. An die Stelle einer politisch bedeutsamen Parlamentarierelite ist nach Kaufmann die Bürokratie getreten, die die eigentlich staatstragende, politische Klasse sei.
Weber, Parlament und Regierung. S. 54 f., 60 ff.; dazu Wolfgang J. Mommsen, a. a. O., S. 188 ff.
Weber, Parlament und Regierung, S. 73 f.; Wolfgang J. Mommsen, a. a. O., S. 387 ff.
Weber, Parlament und Regierung, S. 114 ff.
Wolfgang J. Mommsen, a. a. O., S. 397.
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Klotzbach, K. (1966). Das Eliteproblem in der Tragödie des Deutschen Liberalismus. In: Das Eliteproblem im politischen Liberalismus. Staat und Politik, vol 9. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98512-5_7
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