Zusammenfassung
Was die Konzeptionalisierung eines Extreme vermeidenden Mittelwegs92 zu bewerkstelligen sucht, wird im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung auch dem Sprachspiel temporalisierter Friedensbegrifflichkeit zugetraut. Im Brennpunkt terminologischer Präzisierungen steht das Prozeßmuster, mit dem am Frieden die ganze Bandbreite historischer Situiertheit ausdrucksfähig werden soll. Schwerdtfeger (1988) hat in diesem Sinne den Begriff aus dem engen Funktionskontext gelöst, in dem ihn Czempiel (1972) ausschließlich als Figur der Vermittlung von Innen- und Außen- bzw. internationaler Politik und damit der Desiderate von Gerechtigkeit und Frieden gebraucht hatte. Mit der Definition vom Frieden als Prozeßmuster des internationalen Systems, das durch abnehmende Gewalt und zunehmende soziale Gerechtigkeit gekennzeichnet ist, war Zeitlichkeit bei Czempiel nur im Nacheinander von Handlungsschritten angesprochen, die Gewalt minimieren und Gerechtigkeit erhöhen. Die Akteursebene des zu realisierenden Prozeßmusters aber blieb die internationale Politik.93 Da ein Muster zweifellos Erwartungen stabil hält und nicht den Opportunitäten der Tagespolitik nachmodelliert ist, erscheint der Friede zugleich als ein „Zustand“ oder eine „Struktur“ (Czempiel 1997: 34), in dem der nichtgewaltsame Konfliktaustrag gleichsam als identifizierbare Konstante die Menschheit eint.
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Literatur
Für Senghaas ist der Friede einerseits ein „gewaltfreier und auf die Verhütung von Gewaltanwendung gerichteter politischer Prozeß“ (Senghaas 1994:47) und andererseits ist er identisch mit der Friedensordnung einer Realität gewordenen westlich-liberalen Konfiguration und darin ein Zustand.
Wellmann (1996:60) weist auf einen Widerspruch hin, wenn Senghaas die Universalität des Hexagons einerseits als „Idee im Kant’schen Sinne als einen ‘Begriff von einer Vollkommenheit’, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet“ (Senghaas 1995:204) umschreibt und andererseits die westliche Zivilisation als universalisierbare Konkretion des Friedens definiert. Kritikwürdig erscheint ihm besonders, daß Senghaas abweichend von Kant in der Idee keine Erkenntnis a priori verstehe, sondern etwas im Prinzip Erreichbares. Die Schwierigkeiten, die aus dieser Identifikation für den Friedensgedanken erwachsen, sind aber nicht dadurch zu beseitigen, daß auf die falsche Rezeption des Kantschen Begriffs hingewiesen wird, da genau diese Rezeption einem ideengeschichtlich vollendeten Tatbestand der Umstellung von transzendentaler auf empirische Begrifflichkeit korrespondiert, die Senghaas freilich der Kantschen Formel selbst schon unterschiebt.
Ein um die Koordinaten von Verteidigungsfähigkeit und Sicherheit herum angeordneter Friedensbegriff provoziert Reaktionen der Gegenseite, die eine Situation entstehen lassen, auf die die Bedrohungsanalysen wieder passen. Die methodologischen Schwierigkeiten der Übertragung psychologischer Mechanismen auf die überindividuelle Ebene zwischenstaatlicher Beziehungen versucht ein sprechakttheoretisch fundierter Ansatz (Waever 1996) zu umgehen.
Zur Kritik vgl. Schmidt 1992. Auch im Kommunitarismus Taylors (1979, 1993) werden die Institutionen als Verkörperung normativer Erwartungen im Sinne von Hegels „objektivem Geist“begriffen, die als Bedingungen individueller Selbstverwirklichung jedoch eines höheren Maßes an Partizipation der Bürger bedürfen.
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1972, S. 11
Zur Abhängigkeit demokratischer Verhältnisse vom Lebensstandard siehe Barro 1994.
Davon zeugt die große Zahl der Kriege seit 1945, vgl. Gantzel/ Schwinghammer 1995
Für den Erfolg von Verhandlungen spielt das gerechte Abwägen der Argumente eine wesentliche Rolle. H. Müller (1994:36) weist darauf hin, daß selbst an formal-strategischen Modellen orientierte Verhandlungstheoretiker gelegentlich einräumen, daß die Teilnehmer Verhandlungsverlauf und -ergebnisse an Fairneß-Standards messen.
Diese lautet: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1785, Werke IV, S. 429.
Senghaas (1992:649f.) propagiert eine „Kultur legitimer Intervention“, die „ungeachtet des alten völkerrechtlichen Prinzips der Nichteinmischung” ausschließlich durch gerechte Gründe legitim sei.
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Brücher, G. (2002). Zur Temporalisierung des Friedensbegriffs. In: Frieden als Form. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97565-2_6
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-97565-2_6
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