Zusammenfassung
Ein in der Vergangenheit viel zitiertes Diktum — das leider in den nächsten Jahrzehnten seine Gültigkeit verlieren wird — besagt, dass alle „echten“ Berliner aus Schlesien kommen. Das galt für die erste in diesem Band porträtierte Persönlichkeit, Paul Löbe, und eine freundliche Fügung des Zufalls will es, dass eben dieses Diktum auch für den letzten in diesem Band auftretenden Politiker gilt, für den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse: auch er sicher ein echter Berliner aus Schlesien. Das drückt sich möglicherweise darin aus, dass er auch als Bundestagspräsident seine angestammte Wohnung am Prenzlauer Berg nicht aufgegeben hat. Seine Laufbahn in Ostberlin nannte er einmal eine „grimmige Idylle der DDR“: ohne Jugendweihe, Militärdienst, FDJ- und SED-Mitgliedschaft war er darauf angewiesen, in sich gerade bietende berufliche Nischen zu retirieren. Nach der Wende, die er bereits als Mitglied des oppositionellen „Neuen Forums“ miterlebte — jenes „Neuen Forums“, das in der totalitären Eiswüste der DDR erstmals die Funktion des Eisbrechers wahrnahm —, wurden seine rednerischen und kommunikativen Qualitäten schnell entdeckt, und er rückte nach seinem baldigen Wechsel zur Sozialdemokratie in bedeutende Parteiämter ein, ohne sich allerdings damit auch nur im Mindesten von einmal gewonnenen Überzeugungen zu verabschieden. Dazu gehörten etwa die Stellung Berlins als Bundeshauptstadt, die Bildung eines „Politisch-Moralischen Tribunals“ über die DDR-Vergangenheit — das leider nie zustande kam — oder die Notwendigkeit einer Einschränkung des Asylrechts und die Stärkung der „Zivilgesellschaft“ in der früheren DDR. Als er 1998 mit großer Mehrheit zum Bundestagspräsidenten gewählt wurde, erklärte er, es sei mehr als eine Geste gewesen, dass nun „ein Bürger der überwundenen DDR das zweithöchste Amt im Staate bekleide“.
Nichts, was gegen die Wünsche der Mehrheit ist, kann sich auf die Dauer behaupten. So wird es sich also kaum ereignen, daß sich die Herrschaft eines Tyrannen auf lange Zeit erstreckt.
Thomas von Aquin
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Ferdinand, H. (2002). Mitgestalter des demokratischen Neuanfangs: Wolfgang Thierse. In: Ferdinand, H. (eds) Reden, die die Republik bewegten. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97558-4_39
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