Zusammenfassung
Die Verwendungsforschung untersucht, ob und in welcher Weise wissenschaftliches Wissen praktisch angewandt werden kann. Sie nimmt an, dass Verwendung ein Anwendungsprozess ist, „in dessen Verlauf je nach Handlungszusammenhang bestimmte Ergebnisse in die Praxis ‚durchdringen‘, andere hingegen nicht“ (Beck und Bonß 1985: 610). Damit stellt sie die Frage nach der Art der Selektionsprozesse, ihren Verläufen, nach Faktoren und Kontexten, die sie begünstigen oder behindern. Das Ziel der Verwendungsforschung besteht darin, zu analysieren, wie die vielfältig produzierten sozialwissenschaftlichen Ergebnisse in praktischen Handlungszusammenhängen tatsächlich verwendet werden (Beck und Bonß 1985; Dewe und Otto 1991).
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Literatur
Einige Autoren halten eine verbindliche Definition des Verwendungsbegriff auf Grund der verschiedenen Arten von Verwendung für unmöglich; auch Begriffe wie „Nicht-“ oder „Miss-Verwendung” seien ungeeignet bzw. falsch, da es sich auch hier in jedem der Fälle um eine Verwendung handle — nur eben nicht um die von der Disziplin gewünschte, sondern die für die Akteure in einem Praxisfeld rationale und angemessene Strategie (Wingens 1988: 30).
Praktische Ziele der Anwendung von Wissenschaft sind in diesem Verwendungsverständnis: die Bearbeitung eines Sachproblems (vgl. Daheim et al. 1989), Vorbereitung von Entscheidungen durch gezieltes sozialwissenschaftliches Wissen (z.B. durch Trendstudien; vgl. Zetterberg 1972), Begründung von Entscheidungen gegenüber einer Öffentlichkeit (vgl. dazu z.B. Lau 1989), Legitimation von Entscheidungen, die so — oder von der entscheidenden Person - „eigentlich“ nicht hätten getroffen werden dürfen (vgl. Schneider 1989), Aufschub oder Verhinderung von Entscheidungen, Diffamierung oder Verwirrung politischer Gegner durch „störende” Analysen (vgl. zu den letzten drei Möglichkeiten Zetterberg 1972) - um nur die wichtigsten Möglichkeiten zu nennen. Dabei wird wissenschaftliches Wissen vielfach zur Sicherung des eigenen Vorteils genutzt.
Der Name „enlightenment concept“ legt (irrtümlicherweise) ein Konzept der Aufklärung durch Wissenschaft nahe, das an die wissenschaftszentrierten Vorstellungen eines Rationalitätsgefälles zwischen Wissenschaft und Praxis anschließt. Der Begriff „conceptual use” beschreibt dagegen den praxisrelevanten Beitrag der Sozialwissenschaften angemessen: Sozialwissenschaftliches Wissen trägt zur Strukturierung und Interpretation sozialer Realität bei; es bildet „einen generellen Wissens-und Interpretationshintergrund für den gesamten Bereich politischen Handelns, auf dem die politische Praxis ihre Probleme wahrnimmt und bearbeitet… Vertreter der politischen Praxis verwenden soziologisches Wissen,more to orient themselves to problems than to find solutions to discrete policy problems. Research provides the intellectual background of concepts, orientations and empirical generalisations that inform policy… Much of this use ist not direct, but a result of longterm infiltration of social science concepts, theories and findings with the general intellectual culture of a society“ (Wingens 1988: 139–140; Zitat im Zitat von Bulmer). Ich selbst halte den Begriff „konzeptualisierendes Verwendungsverständnis” nicht für günstig, da er m.E. für den deutschen Sprachraum zu abstrakt ist. Ich werde ihn im Folgenden dennoch verwenden, da in der Literatur kein klarerer als der von Wingens geprägte Begriff zu finden war.
Oder, wie Evers und Nowotny es definieren: „Wissen, dessen Erkenntnisobjekt die aktuellen Problematisierungsvorgänge sind, das aus gesellschaftlichen Konflikten entsteht und dennoch zur Verständigung über sie beiträgt; Wissen, das benennbar macht, was als gesellschaftliches Phänomen noch keinen Namen hat… jenes Wissen, das, wie diffus auch immer, Beiträge zur Suche nach neuen gemeinsamen Orientierungen und Fragen liefert“ ( 1989: 379 ).
Dies entspricht dem „konzeptuellen Verwendungsverständnis“ bei Wingens (1988).
Vgl. als Beispiel für viele die Arbeiten von Zinn (1997) sowie Dammann und Zinn (1995, 1997), die Beiträge von Bausch (1995), Brüderl et al. (1995), Eiben und Gernand (1995), Hillmert (1995), Schreiber (1995) sowie Alemann (1995).
Gute Übersichten über die im Rahmen des Schwerpunktprogramms durchgeführten Forschungsprojekte in Franz (1985; Bericht über die fortlaufenden Projekte) und in Beck und Bonß (1989; Bericht über die abgeschlossenen Projekte).
Diesen Aspekt findet man auch bei Dewe und Schmitz (1985; s. oben); vgl. auch Dewe (1985, 1991a, 1996 a, b); Dewe und Radtke (1989).
Beck und Lau (1982) leiten von dieser Tatsache den Begriff der „praktischen Verwendungstauglichkeit“ ab: Dieser Begriff bezeichnet die Beziehung zwischen den praxisrelevanten Eigenschaften von Theorien (und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen) und ihrer Verwendbarkeit in bestimmten sozialen und politischen Handlungszusammenhängen. Er ist praktisch unabhängig von wissenschaftlichen Beurteilungskriterien wie methodischer Validität und Reliabilität, empirischem Informationswert und theoretischer Erklärungskraft. Weisen Theorien Eigenschaften auf, die politisch-administratives Handeln optimieren, erfreuen sie sich großer und dauerhafter politischer Wirksamkeit, auch wenn sie wissenschaftlich nachhaltig kritisiert worden sind.
Diese sinnvolle Verbindung beider Konzepte oder Thesen gelang zuerst Wingens (1988), der selbst den Ansatz von Ronge für unzureichend hält.
Daheim (1989) nennt als weitere Bedingung den Professionalisierungsgrad einer Wissenschaft. Ich werde auf diesen Punkt weiter unten eingehen, wenn ich die Theorien der Professionalisierung und des professionellen Handelns darstelle.
Bei diesem Vorgehen unterscheidet man zwischen zwei Hauptrichtungen der eklektizistischen Aneignung wissenschaftlichen Wissens: 1. Bei der „gemäßigt-eklektizistischen Aneignungslogik“ erfolgt der Wissenstransfer unter drei grundsätzlichen Aneignungsbedingungen: Die erlernte therapeutische Zusatzqualifikation steht im Mittelpunkt; hinzu tritt der Versorgungsauftrag der Einrichtung, in der der Psychologe arbeitet, und das spezifische kollegial-fachliche Netzwerk des jeweiligen Beraters. 2. Der „radikal-eklektizistische mainstream” synthetisiert die verschiedenartigsten Wissensquellen zu einem „subjektiv-persönlichen Behandlungskonzept“ (Keupp et al. 1989: 167). Es lassen sich kaum noch Bezüge zu den unterschiedlichen Wissensquellen erkennen. Diese verlieren im Zuge der Aneignung ihre Bedeutung bzw. werden auch bewusst getilgt.
Allerdings müssen die beruflichen Standards mit den Interessen des Klienten im Resultat übereinstimmen, und hier liegt das Problem von Wissenschaftlern und ihren Auftraggebern: Während bei Ärzten der Erfolg in der Heilung und bei Rechtsanwälten in einem gewonnenen Rechtsstreit zu sehen ist und als Erfolg für beide Verhandlungspartner gilt, fehlt ein derartiges interprofessionell verankertes Erfolgsverständnis bei Wissenschaftlern (Schneider 1989 ).
Vgl. Zetterbergs (1972) Annahme einer Notlage oder eines Krieges als Ausgangspunkt für die Inanspruchnahme von sozialwissenschaftlichen Experten.
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von Alemann, A. (2002). Stand der Theorie in der Verwendungsforschung. In: Soziologen als Berater. Forschung Soziologie, vol 133. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97549-2_3
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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