Zusammenfassung
Im Mai 1946 schrieb der vormalige Reichsjugendführer Baldur von Schirach: »... wenn aber auf dem Boden der Rassenpolitik und des Antisemitismus ein Auschwitz möglich war, dann muss Auschwitz das Ende der Rassenpolitik und des Antisemitismus sein«.1 Dass sich diese Erwartung, die uns rückblickend als moralisch selbstverständlich erscheinen mag, nicht erfüllt hat, bedeutete vor allem für die Opfer eine schwere Enttäuschung. Im Blatt der Berliner Jüdischen Gemeinde, »Der Weg«, erschien im Februar 1947 ein Artikel mit dem Titel »Ein KZ-Häftling träumte...«. Der Traum handelte davon, dass die befreiten NS-Opfer von den Menschen draußen umsorgt wurden, dass die Deutschen ihre Schuld bekannten und wahrhafte Reue über die Verbrechen zeigten, dass sie die »braunen Gesellen« aufknüpften und den befreiten Häftlingen ehrenvolle Ämter und Wiedergutmachung anboten. Der ehemalige Häftling war nun wieder ein Mensch unter Menschen und legte seinen Hass ab — bis er erwachte und erfahren musste, dass man ihn »ungerührt, oftmals mit unverhohlenem Hass« anblickte und nur widerwillig einen kleinen Teil des Geforderten zugestand. Die Milde der Siegermächte und die Gleichgültigkeit der Bevölkerung ließen die Nazis ungeschoren davonkommen, und der Antisemitismus erwachte wieder, »so dass man es nicht einmal wagen konnte, seinen Ausweis als Opfer des Faschismus vorzulegen«.
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Anmerkungen
Vgl. Hitlerjugend, Sonderdokumentation III. Reich, Hamburg 1978, S. 5.
Wolfgang Benz, Antisemitismus nach Hitler. Beobachtungen der amerikanischen Militärregierung aus dem Jahre 1947, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6, 1997, S. 349–362.
Anna Merritt/Richard L. Merritt (Hrsg.), Public Opinion in Occupied Germany. The OM-GUS-Surveys, 1945–1948, Urbana. Ill. 1970, S. 146 ff.
Vgl. Frank Stern, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerungen 1991.
Institut für Demoskopie Allensbach, Ist Deutschland antisemitisch? Ein diagnostischer Beitrag zur Innenpolitik Herbst 1949, Allensbach 1949, S. 39; Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947–1955, Allensbach 1956, S. 128.
Im August 1952 hielten 54 Prozent des Bundesbürger die Wiedergutmachungszahlungen an Israel für überflüssig, weitere 24 Prozent für grundsätzlich richtig aber zu hoch, und nur elf Prozent stimmten ihr zu (21 Prozent unentschieden). Vgl. Institut für Demoskopie, Jahrbuch (Anm. 5) S. 130.
Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die methodisch anspruchsvollere Untersuchung von 1951: Friedrich Pollock, Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, Frankfurt/M. 1955.
Institut für Demoskopie, Deutsche und Juden — vier Jahrzehnte danach, Allensbach 1986, Tab. 13; Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Bd. II, Allensbach 1957, S. 126; Forsa, Studie zum Antisemitismus in Deutschland, 1998, Tab. 12.
Trotz aller Schwankungen in den Ergebnissen lässt sich von 1958 bis Mitte der 70er-Jahre eine abnehmende Bereitschaft erkennen, NS-Verbrecher auch weiterhin zu verfolgen (1958: 54 Prozent; 1965: 38 Prozent; 1974: 25 Prozent), danach nahm sie wieder zu und erreichte in den 80er-Jahren die Größenordnung von 1958 (Institut für Demoskopie, Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Bde. III–V, Allensbach 1965–1974; bzw. Aliensbacher Jahrbuch für Demoskopie, Bde. VI und VIII, Allensbach 1977 und 1984; Emnid-Informationen 1/2 1974, 2/1979,4/1988).
Werner Bergmann/Rainer Erb, Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung 1946–1989, Opladen 1991, S. 182.
Alphons Silbermann, Sind wir Antisemiten? Ausmaß und Wirkung eines sozialen Vorurteils in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1982, S. 63 u. Tab. 21; Herbert A. Sallen, Zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Konzepte, Methoden und Ergebnisse der empirischen Antisemitismusforschung, Frankfurt/M. 1977.
Institut für Demoskopie, Deutsche und Juden (Anm. 8); Emnid-Institut, Antisemitismus, Bielefeld 1986; Dass., Ausmaß und Form des heutigen Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, Aliensbach 1987; Emnid-Institut, Zeitgeschichte, Bielefeld 1989. Vgl. dazu die Analysen in Bergmann/Erb (Anm. 10).
Umfrage des American Jewish Committee vom 1.–5.10.1990: David A. Jodice, United Germany and Jewish Concerns. Attitudes Toward Jews, Israel, and the Holocaust, American Jewish Committee 1991; im Okt.-Dez. 1990 vgl. Reinhard Wittenberg/Bernhard Prosch/Martin Abraham, Antisemitismus in der ehemaligen DDR, in: Tribüne, 30 (1991), 118, S. 102–120.
Vgl. Forsa (Anm. 8)
Vgl. Helmut Willems u. a., Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen, Täter, Konflikteskalation, Opladen 1993;
Rainer Erb, Antisemitische Straftäter der Jahre 1993 bis 1995, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 6 (1997), S. 160–180.
Hans-Uwe Otto/Roland Merten (Hrsg.), Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch, Bonn 1993; empirische Studien: Peter Förster/Walter Friedrich/Harry Müller/Wilfried Schubarth, Jugend Ost: Zwischen Hoffnung und Gewalt, Opladen 1993; Dietmar Sturzbecher/Peter Dietrich/Michael Kohlstruck, Jugend in Brandenburg ‘93, Potsdam 1994.
Emnid-Institut, Antisemitismus in Deutschland, Bielefeld 1992; Jennifer Golub, Current German Attitudes toward Jews and Other Minorities. New York: American Jewish Committee, 1994; Institut für Demoskopie, Umfragen Nr. 5064,5074,5075,5076, April 1992 bis Febr. 1993; Elisabeth Noelle-Neumann, Rechtsextremismus in Deutschland (im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), Allensbach 1993.
Vgl. P. Förster u. a. (Anm. 16) S. 114–116.
Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. ALLBUS 1996. Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln und Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA), 1996, Daten für 1998: Forsa (Anm. 8).
Rudolf Weiskopf/Ronald Freytag/Dietmar Sturzbecher, Antisemitismus unter Jugendlichen in Ost und West. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 9, 2000, S. 35–70.
Vgl. D. A. Jodice 1991 (Anm. 13); Emnid 1992; J. Golub (Anm. 17).
Manuela Mühl/Olaf Müller/Thomas Saalfeld, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und politische Gewaltbereitschaft unter Dresdner Schülern. Ergebnisse der »Dresdner Schülerbefragung« (1994/95). Forschungsbericht, Dresden o. J.
Alphons Silbermann und Herbert Sallen, Juden in Westdeutschland. Selbstbild und Fremdbild einer Minorität, Köln 1992.
Die Exklusion wurde über die Items Nachbarschaft, Einheirat und rechtliche Gleichbehandlung gemessen.
Nach dem Krieg verurteilten viele die NS-Judenverfolgung, hielten aber an ihrer Überzeugung fest, die »Judenfrage« hätte auf irgendeine Weise gelöst werden müssen, etwa über eine Ausweisung der Juden, Berufsbeschränkungen, rechtlich minderen Status u. ä.
Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson/R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality, New York 1950.
John Dollard u. a., Frustration und Aggression, Weinheim 1970.
Ian Walker/Thomas F. Pettigrew, Relative Deprivation Theory: An Overview and Conceptual Critique, in: British Journal of Social Psychology, 23 (1984), S. 301–310.
Deutsche Shell AG (Hrsg.), Jugend 2000.13. Shell Jugendstudie, Opladen 2000, S. 254 ff.
Muzafer Sherif u. a. Intergroup Conflict and Cooperation. The Robbers Cave Experiment, Norman, Oklahoma 1961.
Vgl. Robert A.Levine/Donald T. Campbell, Ethnocentrism: Theories of Conflict, Ethnic Attitudes, and Group Behavior, New York-London 1972.
Henry Tajfel/J. C. Turner, The Social Identity Theory and Intergroup Behavior, in: S. Worchel/W. G. Austin (Hrsg.), Psychology of Intergroup Relations, Chicago 1986.
Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen, Weinheim-München 1988.
Vgl. erste Ansätze dazu bei Bernd Estel, Soziale Vorurteile und soziale Urteile, Opladen 1983.
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Bergmann, W. (2001). Antisemitismus in Deutschland. In: Schubarth, W., Stöss, R. (eds) Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97526-3_5
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