Zusammenfassung
Wie viel Geltung individueller Persönlichkeit braucht die Gesellschaft, wie viel moralische Individualität darf die Gesellschaft dem Einzelnen zugestehen? Wie viel Platz soll dem Einzelnen überlassen werden, wieweit darf, soll oder muss der Einzelne sich in der Gesellschaft entfalten? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen Sozialwissenschaftler und Philosophen seit jeher (vgl. Etzioni 1994: 29ff). Man kann vielleicht sogar soweit gehen und sagen, dass die Soziologie nichts anderes ist als eine Reaktion auf das Problem, wie Soziales trotz der Individualität sozialer Akteure möglich ist — das ist die „Geburt der Soziologie aus dem Geiste der Individualität“ (Nassehi 2000). Und fast immer steht eine bestimmte Anschauung über Moral Pate: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird vor dem Hintergrund allgemeiner Vorstellungen über Gut und Böse bewertet. Eine allgemein gültige Antwort auf die einleitenden Fragen ist gleichwohl bislang nicht gefunden worden. Vielmehr wurden zahlreiche Antworten und Modelle anhand dieser Fragen entwickelt, die von „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“ bis zu der Vorstellung individualistischer Theorien (in denen Gesellschaft etwa nur noch als „unsichtbare Hand“ auftaucht), vom Liberalismus bis zum Kommunitarismus reichen. Wenn es aber keine eindeutige Antwort zu geben scheint, bleibt nichts weiter übrig, als diese Fragen immer neu zu stellen und eine Antwort unter dem gegebenen situativen Kontext aktualisiert zu formulieren.
Es macht der Soziologie keine Schwierigkeiten, das Nebeneinandergelten verschiedener, einander widersprechender Ordnungen innerhalb des gleichen Menschenkreises anzuerkennen. Max Weber
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Literature
1989 erhielt Bauman den Amalfi Preis für Soziologie und sozialwissenschaftliche Forschung für sein Buch „Modernity and the Holocaust“ (dt. 1992b); 1998 nahm er den Theodor W. Adorno Preis der Stadt Frankfurt entgegen.
Dieses Experiment hatte die Untersuchung von Gehorsam gegenüber Autoritäten zum Inhalt: Zwei Personen, von denen eine in das Experiment eingeweiht ist, nehmen scheinbar an einem offiziellen empirischen Versuch über Erinnerungsvermögen und Lernfähigkeit teil. Durch ein manipuliertes Losverfahren wird die eingeweihte Person zum „Schüler“ ernannt, die vorgeblich in einem Nebenzimmer auf einem elektrischen Stuhl festgebunden wird. Die ahnungslose Person wird zum „Lehrer“erklärt, der den „Schüler“, der bestimmte Wortpaare lernen und wiedergeben soll, bei Fehlern mit Stromschlägen zu bestrafen hat, wobei die Volt-Zahl um je 15 Volt erhöht wird. An der Skala des fingierten Schockgenerators befindet sich die Einteilung von „Leichter Schock“ bis „Gefahr: Bedrohlicher Schock“, die letzte Stufe der Strafe wird nur durch ein „X“ bezeichnet. Das Ergebnis zeigte vor allem, dass der entscheidende Faktor zur Bereitschaft, die Stromstöße zu verabreichen, das Verhalten des Versuchsleiters ist: Je autoritärer der Versuchsleiter auftritt, desto weiter ging die Bereitschaft, den „Schüler“ bis zum Ende zu bestrafen. Fehlte diese Autorität ganz oder wird eine ganz normale Person (ohne entsprechendes Äußeres wie etwa einen weißen Kittel) als Versuchsleiter eingesetzt, wurde das Experiment deutlich früher abgebrochen bzw. mehr und früher Widerstand geleistet.
Da ich von Parsons ausgehe, setzte ich mich auch bewusst in einen Gegensatz zu dem soge-nannten „Struktur-Kultur-Paradigma“ von Hoffmann-Nowotny (siehe z.B. 1991c). Dieser verortet zwar, wie der Name verrät, Individualisierung zwischen strukturellen und kulturellen Dynamiken, weist ihr aber keinen systematischen Platz zu, sondern nennt lediglich Merkmale veränderter Parameter mit exemplizifizierenden Charakter. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb bei Hoffman-Nowotny im Kontrast zu der hier vorgestellten Untersuchung Individualisierung mit De-Institutionalisierung einhergeht.
Empirische Analysen zur Individualisierung bringen im Übrigen sehr unterschiedliche Ergebnisse hervor (vgl. auch die Beiträge in Friedrichs 1998). Günter Burkart (1997) z.B. kommt in seiner Analyse zu „Individualisierung und Elternschaft“ zu einer nahezu vollkommenen Relativierung der Individualisierungsthese: Individualisierung sei kein universeller Trend, sondern auf privilegierte Gruppen beschränkt; die Zusammenhänge zwischen Individualisierung/Standardisierung/Segmentierung seien zu unklar gefasst usw. Die Entwicklung der Semantik von Vornamen dagegen (siehe Gerhards/Hackenbroch 1997) verweist zwar auf signifikante Individualisierungen in der Bedeutung, dass Menschen immer weniger gemeinsame Merkmale (hier: Vornamen) mit anderen teilen. Dies gilt allerdings nur bis etwa 1950, danach konnte dieser Zusammenhang nicht mehr belegt werden (vermutlich auf Grund eines mangelnden Nachweises einer Entschichtung bei der Vergabe der Vornamen). Als Indikator für Individualisierungsprozesse zeigt sich wiederum ein eindeutiger Wandel der Beziehungsvorstellungen von einem traditionell-rollenteiligen Modell zu einem partnerschaftlichemotionalisierten Beziehungsmuster, dem das Leitideal eines expressiven Individuums zu Grunde liegt (siehe Buchmann/Eisner 1997).
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Kron, T. (2001). Einleitung. In: Moralische Individualität. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97522-5_1
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