Zusammenfassung
Europa kommt in den amerikanischen Großperspektiven auf die Welt nur noch am Rande vor. Zwar erscheint es den USA durch privilegierte und gleichsam natürliche Beziehungen verbunden, aber der Blick ist auf andere, vitalere und wohl auch problematischere Partner und Gegner in der asiatischen und islamischen Welt und in Lateinamerika gerichtet. Für die immer noch vorherrschend weiße oder „kaukasische” Kultur der USA ist das europäische Haus so etwas wie ein Elternhaus, das voller Erinnerungen steckt, in dem man sich selbstverständlich bewegt und ab und zu nach dem Rechten sehen muss. Aber seine Einwohner repräsentieren eine alte und dekadente Welt, die ihre Ansprüche auf Vorherrschaft aufgeben musste, die endlich ihre Familienstreitigkeiten im Großen und Ganzen begraben hat (und wo nicht, eilen amerikanische Schlichter herbei) und deren verrückte Projekte zur Verbesserung oder Beherrschung der Welt mit „Terror und Propaganda” endlich und vollends gescheitert sind. Die tatkräftige Anregung Amerikas nach dem Zweiten Weltkrieg, Vereinigte Staaten von Europa zu bilden, ist in einem unübersichtlichen Gestrüpp florierender Familienunternehmen, in denen letztlich niemand das Sagen hat, stecken geblieben. Aber es geht ihr gut, der europäischen Verwandtschaft. Man braucht ihr nicht mehr zu helfen, man braucht sie nicht mehr zu fürchten, und man kann im Ernstfall kaum auf sie bauen. Egal, ob man die Zukunft des Planeten als posthistorische Megamaschine, deren liberale Selbststeuerung von Amerika überwacht wird, oder als Kampfplatz der Weltkulturen phantasiert, Europa hat darin keine eigene Identität, die (in Fukuyamas Modell) Anerkennung erheischte oder (in Huntingtons Modell) als eigener Kulturkreis berücksichtigt werden müsste.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlages aus Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, (rowohlts enzyklopädie) Reinbek 2000, S. 525–551, 625–632.
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Literatur
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Niethammer, L. (2001). Zuflucht Europa: Oder wie die Suche nach europäischer Identität die Verständigung über Politik in Europa verstellt. In: Tömmel, I. (eds) Europäische Integration als Prozess von Angleichung und Differenzierung. Forschungen zur Europäischen Integration, vol 3. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97505-8_19
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