Zusammenfassung
„Fotografie ist die einzige ‚Sprache‘, die in der ganzen Welt verstanden wird und, indem sie zwischen allen Nationen und Kulturen Brücken schlägt, die Menschheit zu einer Familie macht.“ Dies schrieb der englische Fotografie-Historiker Helmut Gernsheim 1962. Im gleichen Jahr erschien Umberto Ecos „Offenes Kunstwerk“, dessen Begrifflichkeit zu einer zentralen Metapher der Rezeptionsforschung wurde (vgl. Fiske 1987, S. 94 f.; Livingstone 1995, S. 40 f.; 1996, S. 165; Liebes 1996, S. 177 ff.). Sie legt nahe, daß Gernsheims optimistische Erwartungen und das allfällige Ausbleiben ihrer Erfüllung trotz einer explosionsartigen Verbreitung von Fotos rund um den Globus auf einer fragwürdigen Prämisse beruhen. So mögen Fotografien zwar „in der ganzen Welt“ verstanden werden, jedoch nicht unbedingt in der gleichen Weise. Denn nach Eco resultieren sowohl Wahrnehmungs- als auch Verstehensprozesse aus einer „interaktiven Beziehung (...) zwischen den Reizen und der Welt des Empfängers“ (Eco 1962=1977, S. 133). Der Sinn eines „Reizes“ ist demnach prinzipiell als Interaktionsprodukt von „Reiz“ und Rezipierenden zu denken. Daraus ergibt sich eine „fundamentale ‚Offenheit‘“ (ebd. S. 134) der Sinnbildung, die nach Eco „jedem Wahrnehmungsakt zugrunde“ liegt und „jeden Augenblick unserer Erkenntniserfahrung“ prägt (ebd. S. 51). Auch Fotografien (und nicht nur „Kunstwerke“) sind demnach offen und erlangen ihre Bedeutung erst in der Interaktion mit konkreten Rezipierenden. Will man daher „die Bedeutungsmöglichkeiten einer kommunikativen Struktur untersuchen, so kann man vom Pol ‚Empfänger‘ nicht absehen. Sich in diesem Sinne mit dem psychologischen Pol zu beschäftigen, bedeutet die Anerkennung der (für die Erklärung von Struktur und Wirkung der Botschaft unerläßlichen) formalen Möglichkeit, daß eine Botschaft vielleicht nur Sinn hat, sofern sie durch eine gegebene Situation (eine psychologische und damit geschichtliche, soziale, anthropologische im weiteren Sinne) interpretiert wird.“ (ebd. S. 133) Diese Auffassungen werden für alle Arten von Medientexten mitt-lerweile weithin als common sense der Rezeptionsforschung geteilt (vgl. Jensen 1986, S. 78). So postuliert Livingstone (1996, S. 172) für die Forschungspraxis: „Texte und Leser können nicht mehr als unabhängig voneinander angesehen und separat betrachtet werden, denn sie sind interdependente, aufeinander bezogene, gemeinsame Produzenten von Bedeutung, wobei Texte nicht festgelegt und abgeschlossen und die Zuschauer nicht nur aktiv oder passiv sind.“ Neben jener „fundamentalen“ Offenheit bzw. „Unabgeschlossenheit“, die allen Medientexten zukommt, scheint es aber eine „graduelle“ bzw. „partielle“ Offenheit zu geben, die auf formalen Merkmalen der Textstruktur beruht: „Some texts are more open than others, and this openness is controlled by different textual strategies.“ (Fiske 1987, S. 179) Nur vor diesem Hintergrund ist es möglich, zwischen „offenen“ und „geschlossenen“ Texten zu unterscheiden. Während geschlossene Texte demnach die Sinnbildung mehr oder weniger determinieren, lassen offene Texte Freiräume der Interpretation und führen so zu einem höheren Maß an Polysemie. Eine solcherart objektivierende und reifizierende Auffassung von Offenheit wird allerdings nicht gedeckt durch die Vorstellung von Offenheit, die Eco im „offenen Kunstwerk“ vertritt1: „Das Modell eines offenen Kunstwerks gibt nicht eine angebliche objektive Struktur der Werke wieder, sondern die Struktur einer Rezeptionsbeziehung.“ (Eco 1977, S. 15)
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© 2003 Leske + Budrich, Opladen
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Michel, B. (2003). Dimensionen der Offenheit. Kollektive Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption von Fotografien. In: Ehrenspeck, Y., Schäffer, B. (eds) Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97489-1_14
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