Zusammenfassung
Das im vorhergehenden Kapitel entwickelte theoretische Grundgerüst erlaubt es nun, die in Kap. 2 erklärte Absicht in die Tat umzusetzen, in den Städten eingetretene Veränderungen und Probleme unter einer individualistischen, akteurorientierten Perspektive zu untersuchen. Nun ist die Suche nach Akteuren, nach den Verursachern der interessierenden Phänomene zunächst einmal kein spezifisches Merkmal allein dieses Ansatzes: auch die Vertreter anderer stadtsoziologischer Theorien suchen nach den Verursachern städtischer Prozesse oder zumindest nach den Agenten, durch deren Handeln bestimmte überindividuelle Kräfte (z.B. Interessen des Kapitals)oder Rahmenbedingungen (z.B. privatwirtschaftliche Organisation des Grundstücksmarkts) zur Wirkung kommen. Hierbei schenken sie üblicherweise den Trägern politischer und wirtschaftlicher Macht besondere Aufmerksamkeit. Ein Spezifikum der „constrained choice“-Perspektive dagegen ist, zunächst einmal keinen der identifizierten Akteure aus der Analyse auszuschließen, da — so die These — viele Veränderungen im städtischen Raum nicht allein auf das intentionale Handeln des kommunalen politisch-administrativen Systems oder wirtschaftlich mächtiger Gruppen zurückzuführen sind, sondern als kollektiver und nicht intendierter Effekt einer Vielzahl parallel gelagerter Handlungen einzelner Stadtbewohner auftreten.
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Literatur
“Abwanderung und Widerspruch, d.h. Markt-und Nichtmarktkräfte, d.h. wirtschaftliche und politische Mechanismen, sind als zwei Hauptakteure mit vollkommen gleichem Rang und vollkommen gleicher Bedeutung eingeführt worden. Dadurch, daß ich meine Oberlegungen auf dieser Grundlage entwickle, hoffe ich, den Politologen die Nützlichkeit ökonomischer Begriffe und den Ukonomen die Nützlichkeit politischer Begriffe zu demonstrieren” (Hirschman, 1974a, 16; Hervorh. i.0.).
Vgl. dazu die verschiedenen, anläßlich eines Symposiums der American Economic Association entstandenen Beiträge, in: American Economic Review, Papers and Proceedings, 66. Jg., Mai. 1976, 361 ff.
Vgl. dazu Hirschman (1981, 246 ff.).
Vgl. dazu die Arbeiten von Wippler (1982) und Keller (1983).
Es führt hier allerdings nicht weiter, die von Hirschman beschriebenen Transformationsmechanismen als verschiedene Wirkungsweisen der “unsichtbaren Hand” zu deuten, wie von Boudon (1979, 95 f.) praktiziert.
Vgl. o. S. 25 .
Diese Interpretation von “loyalty” vertreten Dear/Long (1978, 118 f.) in ihrer Adaption des “exit/voice”-Ansatzes im Hinblick auf städtische lokale Konflikte.
Eine detaillierte Obersicht über die möglichen Fälle findet sich bei Laver (1976, 480).
Vgl. u. S. 91.
Vgl. Opp et al. (1981, 160 ff.; 1984, 224 ff.). In den Augen vieler Vertreter des pluralistischen Ansatzes bildet der positive Zusammenhang von hoher Loyalität gegenüber dem politischen System und politischer Inaktivität einen wichtigen Grundpfeiler dieser Theorie. Vgl. u. S. 114 .
Vgl. Wolf (1979, 113 f.).
Ob mit dieser neu möglichen “exit”-Reaktion eine Qualitätsverschlechterung der Leistungen der Post auf diesem Gebiet droht, so wie Hirschman dies am Beispiel der staatlichen Eisenbahn in Nigeria veranschaulicht (1974a, 37 f.), müßte erst noch untersucht werden. Hirschman führt in diesem Fall die von ihm beobachtete Qualitätsverschlechterung der Leistungen der nigerianischen Eisenbahn auf das Aufkommen privater Kraftfahrzeuge als alternativem Transportmittel zurück, wodurch die zahlungsfähigsten und politisch ausdrucksfähigen Kunden der Eisenbahn als “Protestpotential” verloren gingen.
Am intensivsten haben sich bisher die englischen Politikwissenschaftler Barry (1974), Birch (1975) und Laver (1976) mit “Exit, voice, and loyalty” auseinandergesetzt.
Hier sei noch vermerkt, daß der Hirschman’sche Ansatz zwar inzwischen in Lehrbücher der “Neuen Politischen Ukonomie” oder auch der “public choice”-Schule Eingang gefunden hat (vgl. B.S. Frey, 1977; Mueller, 1979), aber dennoch Schwierigkeiten bestehen, seinen Beitrag richtig einzuordnen. Arbeiten in der Tradition von Tiebout (1956), auf den der Betreff der “Abstimmung mit den Füßen” zurückgeht, konzentrieren sich auf Entscheidungen von Individuen, Gebiete/Gemeinden mit dem gewünschten Versorgungsgrad an öffentlichen Gütern zu wählen (“exit”); Arbeiten über das Wählerverhalten bei politischen Wahlen bleiben in der Regel auf Hypothesen über das Auftreten von “voice” beschränkt. Der wichtige Schritt von Hirschman, beide Reaktionsalternativen gleichzeitig zu betrachten, wird meist nur ansatzweise (interpretierend) nachvollzogen, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil sichAiiese komplexere Entscheidungssituation sehr viel schwerer mathematisch formalisieren läßt.
Barry (1974, 92) und Birch (1975, 75 ff.) zeigen an einigen Beispielen auf, daß auch Reaktionen denkbar sind, die sowohl Elemente von “voice” als auch Elemente von “exit” enthalten (z.B. ein Emigrant, der aus politischen Gründen sein Land verläßt, aber vom Ausland aus weiter gegen die politischen Mißstände in seiner Heimat kämpft). Solche Fälle scheinen aber so selten zu sein, daß sie die Anwendbarkeit des “exit/voice”-Ansatzes nicht beeinträchtigen.
“Thus, voice should be conceived of not only as a possible ‘response to decline’ but as a possible response to the belief that a firm or other organization could do better. It is this belief which is a necessary condition ... for the exercise of voice” (Barry, 1974, 90).
Vgl. u. S. 104 ff..
Hirschman schreibt angesichts dieser parallelen Entwicklung: “In the field of urban studies, the exit-voice dichotomy was obviously one of those ideas whose time had come” (1974b, 21).
Diese Auffassung stimmt mit der oben gegebenen Definition der Stadt überein. Vgl. o.S. 22 .
Vgl. auch die graphische Darstellung des Ansatzes bei Franz, 1984a, 86).
Hier muß man wissen, daß Cox seinen Ansatz unter der Fiktion einer primär rein privaten úkonomie - also ohne Existenz des Staates - entwickelt und das Entstehen rechtlicher Regelungen und staatlicher Instanzen darauf zurückführt, daß Verhandlungen zwischen den (privaten) Entscheidungseinheiten in den meisten Fällen nicht zustandekommen oder scheitern (1973, 7 f., 10 f.). Dies ist zweifellos eine der Schwachstellen dieser Arbeit.
“An alternative strategy to the resolution of locational conflict is some form of collective action. The dissatisfied may combine to form a neighborhood association, regional political party or to organize a local petition and provide pressure for an alternation in policy with respect to their locality or region” (Cox/Reynolds, 1974, 34 f.). (Fortsetzung der Anmerkung auf der folgenden Seite) Auf die Argumentation von Cox beziehen sich Mercer/Barnett (1975) in einem Ubersichtsartikel über neuere Entwicklungen in der Analyse städtischer politischer Prozesse and kommen zu folgendem Schluß: “Those who are dissatisfied have a range of strategies open to them. They can move to another unit of local government where they expect to find a preference pattern for publiclY provided goods closer to their own ... Another strategy is to bring pressure for change or to make demands for compensation on the elected decision makers. This may be done individually or collectively From the perspective of those who are negatively affected but cannot obtain redress at the local or municipal level, another possible strategy is to attempt to alter the nature of the political environment” (1975, 7 f.).
In einem ähnlichen Kontext stehen die Schlußfolgerungen von Schmeling (1978) aus einer Studie über Wanderungsbewegungen in der Stadt Kassel, beruhend auf amtlichen statistischen Daten und auf der Befragung einer Bevölkerungsstichprobe. Er sucht nach einer umfassenden Interpretation des sich ihm bietenden Datenbildes und folgert - ohne sich auf Hirschman zu beziehen -: “Dem einzelnen ... stehen drei Verhaltensmuster zur Wahl, wenn er den vorhandenen Entfaltungsraum als unerträglich und beklemmend empfindet. a)Er verläßt den vorgegebenen Entfaltungsraum (z.B. er wechselt den Arbeitsplatz und/oder den Wohnsitz und/oder den Partner... . b)Er strebt die Änderung des Entfaltungsraumes durch Ande-rung der Umwelt an. Gelingt dies nicht unmittelbar, so schließt er sich einer der Gruppen an, die den jeweils herrschenden entgegengesetzt sind. Er geht in die legale oder illegale Opposition ... . c)Er erkennt, daß ihm die Voraussetzungen fehlen, seinen Freiheitsspielraum zu erweitern, und resigniert. Soweit er das Gefühl des Beengtseins nicht durch Aktivitäten in neuen Verhaltensweisen kompensieren kann, treten Tendenzen auf, sich religiösen Gruppen anzjschließen. Resignationen können sich bis zum Selbstmord steigern” (Schmeling, 1978, 163).
“By explicitly adopting a wider view of the choices available to households, we are better able to understand the consequences of household decisions. From an analytic standpoint, our concern is to identify the range of demographic, socioeconomic, environmental, and institutional factors that are associated with the polytomous exit, active and passive voice, and inaction options, rather than with the dichotomous move-stay decision, and to evaluate the impacts of these different choices on individual experience as well as on social and spatial organization” (Moore/Harris, 1979, 180).
Vgl. o. S.91 .
Daneben gehen natürlich auch noch andere Gesichtspunkte in das Klassifikationsverfahren mit ein, wie z.B. die Intention, einzelne Reaktionsweisen möglichst so zusammenzufassen, daß die Kategorien einer fachspezifischen Betrachtung - wie in Kap. 5 durchgeführt - noch zugänglich sind.
Vgl. o.S.22
Auch Schmeling (1978, 163) erwähnt aggressive Reaktionen, die sich allerdings gegen die eigene Person richten (vgl. o. Anm. 23).
Unternehmen können zum Adressaten politischen Protests werden, wenn ihre Aktivitäten standortbezogene negative externe Effekte nach sich ziehen. Vgl. Fall 6 in Obersicht 3, S. 87
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß im Verlauf der letzten 15 Jahre gerade auf Stadtteilebene durch die’Gesetzgebung zum Städtebau manche Formen politischer Aktivität konventionalisiert worden sind.
Dieser Punkt wird eingehender behandelt in Abschn. 7.3, S. 185 ff..
“A great many of the objects that constitute the human world have a ‘pre-existing’ meaning, in the sense that people confront such objects with a set of assumptions about them - with a particular preparedness to act in routine, familiar and unquestioned ways. These meanings have to be verified, to be sure, as people act toward familiar objects in routine ways and either find or do not find that their lines of conduct can be completed. But so long as conduct can be constructed appropriately by taking familiar objects for granted, the objects persist and their meanings are relatively stable” (Stokes/Hewitt, 1976, 841).
That which is problematic is perceived only against the background of that which is not. The perception of Andres Anse to features. of the environment that interfere with a line of conduct are framed against the background of features that are there, known and trusted to be what they seem to be. What is not problematic consists, in the main, of recognized objects that constitute the effective environment within which individual and joint action is underway with respect to those objects. Interference may stem from a variety of sources: the introduction of new objects, the failure of intended conduct to yield anticipated results, unexpected actions by those present and the like“ (Stokes/Hewitt, 1976, 842).
Die Polarität dieser beiden Typen von Alltagstheorien setzt sich auch bis tief in die Wissenschaft hinein fort: “A major theoretical premise of social science is that the root causes of social problems are located within the social order rather within the individuals who comprise it. This ‘societal’ or ‘structural’ interpretation of social problems has often had to contend with an equally powerful tradition of thought which attributes social problems to more individualistic causes” (Bogart/Hutchison, 1979, 97).
Vgl. Abschn. 7.3
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Franz, P. (1989). Handlungsalternativen städtischer Akteure und Handlungsfolgen — eine Anwendung des „constrained choice“-Ansatzes in der Stadtsoziologie. In: Stadtteilentwicklung von unten. Stadtforschung aktuell, vol 21. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97485-3_4
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