Zusammenfassung
Nach fast acht Jahren intensiver Arbeit am empirischen Kulturvergleich YOUTH and HISTORY Hegen umfangreiche Befunde vor; aber es ist — unbeschadet langer und vielfältiger Durcharbeitung des Datenberges — nicht einfach, den nötigen Abstand für ein Fazit zu finden. Gleichwohl bleibt eine Zusammenfassung mit Betonung der wirklich wichtigen Erfahrungen, Ergebnisse und Einschränkungen unerläßlich. Zunächst ist festzustellen, daß die einschlägigen Reflexionen und Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen liegen:
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Methodologisch kommt es darauf an, die Qualität des bisherigen wissenschaftlichen Zugriffs auf den Kulturvergleich realistisch einzuschätzen (vgl. 8.1.).
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Grundlagentheoretisch muß festgehalten werden, inwieweit bisherige fundamentale Annahmen und Einsichten über Geschichtsbewußtsein gestützt werden konnten oder verworfen werden müssen (vgl. 8.2.).
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Demoskopisch interessiert vor allem die Frage nach den Besonderheiten, also auch Risiken und Chancen, des Antwortverhaltens der deutschen Stichprobe im europäischen Vergleich (vgl. 8.3.).
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Unterrichtspraktisch ist zu prüfen, welche geschichtsdidaktischen und -methodischen Folgerungen — z.B. für Lehrerausbildung, Richtlinien, Schulbücher und Stundenvorbereitung — gezogen werden können (vgl. 8.4.).
Abschließend sollen besonders wichtige künftige Forschungsaufgabeb bezeichnet werden (8.5.)
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Literatur
Notwendig ist dieser Rückschluß, weil man etwas anderes als “Performanz”, d.h. konkret beobachtbare Äußerungen in Einzelsituationen, beim Geschichtsbewußtsein gar nicht messen kann; unzulässig ist er, weil höchst wahrscheinlich für die Performanz das Prinzip der “Sparsamkeit an mentalem und intellektuellem Aufwand” gilt. Vermutlich bringen Subjekte, wenn sie einen akuten Erklärungs- oder Orientierungsbedarf wahrnehmen, immer nur so viel Komplexität wie nötig und so viel Simplizität wie möglich ins Spiel, d.h. begnügen sich z.B. mit “traditionaler Deutung” eines Phänomens, obwohl sie in anderen Kontexten und unter erhöhtem Druck von Dissonanz vielleicht auch das “genetische Muster” anzuwenden bereit und fähig wären. Wenn das so ist, hängt aber alles von der Realistik und Akzeptanz der im Fragebogen gestellten Aufgaben als “Ernstfällen” und von der Vielfalt verschiedener (hypothetischer) Anwendungen ab.
Pragmatisch vereinfachend könnte man auch von “Gültigkeit”/”Validität” und “Zuver-lässigkeit”/”Reliabilität” sprechen. Genau betrachtet hängen beide jedoch eng zusammen und lassen sich nicht eindeutig der Prüfung an Außen- und Binnenkriterien zuordnen.
Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Fragen nach der persönlichen Bedeutung von Geschichte und nach der Wichtigkeit für (vermutlich als “schulisch” vestandenes) Geschichtslernen verschiedene Konnotationen auslösen (können).
So nach dem Einfluß bestimmter Determinanten auf die vergangene und die künftige Entwicklung (Fr. 24/25), nach der Prognose der Lebensverhältnisse in 40 Jahren im Nationalstaat und in Europa (Fr. 36/37) und nach dem Spaß mit und dem Vertrauen zu Präsentationsformen von Geschichte (Fr. 3/4).
Die Übersetzung im deutschen Fragebogen ist hier nicht glücklich.
In der deutschen Stichprobe sind die Korrelationen geringfügig, manchmal (z.B. beim “Schulbuch” und “Museum”) merklich niedriger; auch das kann man als bessere Einsicht in die Verschiedenheit der Kriterien “Motivationskraft” und “Vertrauenswürdigkeit” auslegen..
Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen z.B. durch Fragen zum Verhältnis Europas und der Kolonien, zum Zusammenhang zwischen Industrialisierung und wissenschaftlich-technischem Fortschritt und zu verschiedenen Indikatoren für Gewaltbereitschaft. Jedesmal ist der Befund gleich: Korrelationen um .20 müssen bereits als hoch gelten.
Es gibt zweifellos auch einen gewissen Positionseffekt. Wenn sachlich verwandte Fragen im Fragebogen auch örtlich benachbart stehen, steigt die Chance einer einigermaßen parallelen Beantwortung. Nicht selten bestehen die höchsten Korrelationen überhaupt zwischen eng nebeneinander piazierten Items.
Hier liegt auch ein wesentliches Argument gegen eine Kapitulation vor der Unmöglichkeit absolut perfekter Übersetzungen. Denn es stellen sich ja hohe und höchste Korrelationen (positiver und negativer Richtung) auf Länderebene ein, obwohl die thematischen Zusammenhänge in verschiedenen Items meist mit sprachlich deutlich abweichenden Termini angesprochen werden.
Für die Geschichts-Schulbücher, ebenfalls eine extrem wichtige Variable historisch-politischer Sozialisation, gilt Ähnliches.
Genau dasselbe gilt natürlich für die Wandlungen im zeitgeschichtlichen Prozeß. Es ist völlig konform mit Jeismann und Rüsen, daß direkte und massenmedial vermittelte Gegenwartserfahrungen einen stärkeren Einfluß auf die Änderung geschichtlicher Vorstellungen ausüben als etwa Durchbrüche der Fachwissenschaft. Auffälligerweise betont Rüsen (1998) selbst inzwischen die Anforderungen bzw. Bedingungen der “Zukunftsfahigkeit” in besonderem Maße, so daß die Zeitebene Zukunft im Geschichtsbewußtsein fast ein Übergewicht erhält.
Das bedeutet natürlich nicht, daß Wissenschaft unwichtig wäre. Allerdings kann man bezweifeln, daß in der Mehrheit der außereuropäischen (und auch der europäischen) Länder überhaupt ernsthaft “wissenschaftsorientiert” unterrichtet werden soll — von der Realisierungschance einmal ganz abgesehen. Denn Wissenschaftlichkeit (und auch schon “Wissenschaftsorientierung”) müßte zwingend “Multiperspektivität”, “Kontroversität” und “Pluralität” einschließen.
Wie erwähnt entsteht hier eine methodische Schleife. Wenn man mit europaweit identischen Fragen die europaweit tief verschiedenen kulturellen Überlieferungen abgreifen will, muß man recht allgemein-abstrakte Fragen stellen und bekommt allenfalls eine minimale, gewiß keine maximale Messung der realen Differenzen zwischen Nationen bzw. zwischen Majoritäten und Minoritäten.
Dieser Begriff wird dem von Assmann (1997) benutzten Terminus “kulturelles Gedächtnis” vorgezogen, weil er die “Geformtheit” und “Verbindlichkeit” innerhalb der jeweiligen Gruppe deutlicher werden läßt.
Wenn man die Jeismann/Rüsen-Theorie ernst nimmt, stellt sich die entwicklungspsychologische Frage also nicht nur hinsichtlich der kognitiven Entfaltung oder Überforderung (vgl. 8.4.2.), sondern auch hinsichtlich der Konstituierung der Faches.
Die deutsche post-’68er Reform-Idee einer “Wissenschafts-Orientierung” statt der früher geläufigen “Traditions-Affirmation” durch die “großen Narrative” der Staatsnationen scheint jedenfalls international ziemlich isoliert geblieben zu sein.
Unter den Teilnehmerländern von YOUTH and HISTORY waren natürlich auch mehrere, deren “Nation-building” noch keineswegs abgeschlossen ist, z.B. Estland und Litauen, die Ukraine und Rußland, Slowenien und Kroatien, Israel und Palästina.
Das könnte ein Grund für das im Westen offener geäußerte Desinteresse an Geschichte sein. Die kulturelle Überlieferung traditioneller Oberschichten verliert hier wohl rasch ihre Dominanz und Verbindlichkeit.
Bei einer Pilotstudie wurden 1991 Hunderte von nordrhein-westfalischen Kindern und Jugendlichen nach Beschreibungen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gefragt (unveröffentlicht). Die Antworten zu Vergangenheit und Zukunft waren praktisch un-verbunden, die zu Gegenwart und Zukunft so hoch korreliert, daß eine getrennte Fragestellung für die Hauptuntersuchung aufgegeben wurde (vgl. v. Borries u.a. 1995, bes. 176).
Die erwähnten Korrelationen bedeuten eine erklärte Varianz zwischen 1 % (r = . 10) und 4% (r = .20), allenfalls einmal 6% (r = .24).
Auch die Lernenden “ohne deutschen Paß” weichen in den politischen Entscheidungen (z.B. zur Einwanderung und zum Denkmalschutz) weiter von denen “mit deutschem Paß” ab als bei den Interpretationen der Vergangenheit (vgl. 7.5.).
Dieser Befund ist auch das Ergebnis einer großen qualitativen Studie in französischen Schulen (vgl. Guyon u.a. 1993).
Auch auf das niedrige Alter der Befragten, den noch relativ unreifen Stand ihrer lebenslang andauernden historisch-politischen Sozialisation, ist erneut hinzuweisen.
Bei qualitativen Zugriffen sähe es günstiger aus (vgl. 8.5.2.).
Ich selbst habe vor 15 Jahren versucht, das aufklärerische und selbstreflexive Moment von Geschichtsbewußtsein in zwei (durchaus normativ verstandene) Reihen von Entwicklungsstufen zu fassen: “unvermeidliche Geschichtsbestimmtheit”, “geahnte Geschichtserfülltheit”, “bemerkte Geschichtsüberliefertheit”, “kritische Geschichtsreflexion” und “vorbewußte Vergangenheitsgleichgültigkeit”, “unterbewußte Vergangenheitsprojektion”, “bewußte Vergangenheitsanerkenntnis”, “aufarbeitende Vergangenheitsbewältigung” (vgl. v. Borries 1983, 17ff, 1988a, 12). Über die Termini ist heute gewiß neu nachzudenken, die Idee einer Hierarchie bzw. Taxonomie jedoch scheint nicht überholt (oder eingeholt).
Vgl. die klassische Formulierung: “The German is either at your foot or at your throat. “ Über das extrem negative Image auch der deutschen Jugend in Großbritannien und den Niederlanden ist in den letzten Jahren immer wieder sorgenvoll diskutiert worden.
Im folgenden wird tatsächlich nur auf Faktorenanalysen zurückgegriffen (vgl. Angvik/v. Borries 1997, Vol. B); die Daten entsprechen dadurch nicht immer genau den in früheren Kapiteln unter Bevorzugung von Skalen zitierten.
Es ist daran zu erinnern, daß dieser europaweite Mittelwert aus allen Befragten (ohne die Niederlande) berechnet wird und für Gesamteuropa nicht im strengen Sinne repräsentativ ist (fehlende Länder, fehlende Gewichtung), sondern nur eine Annäherung darstellt.
Von der besonderen Wertung — oder besser der partiellen Nicht-Beachtung! — des Reform-Prozesses in Osteuropa seit 1985 war schon ausführlich die Rede (vgl. 5.4.2.).
Ein gesondertes Eingehen auf die von Lehrenden wahrgenommenen Schülerinteressen und Geschichtsdeterminanten lohnt nicht (vgl. und 2.1.3. und 5.3.2.), weil die Abweichungen meist recht gering sind.
Zum Forschungsethos eines internationalen Projektes gehört es, daß die Verantwortlichen der zentralen Analyse (in diesem Falle die Hamburger Gruppe) nicht versuchen, ihre Kolleg(inn)en aus anderen Ländern zu bevormunden oder ihnen Interpretationen vorzuschreiben.
Da solche zusammenfassenden Schlußfolgerungen im Verlaufe der empirischen Forschungen schon mehrfach vorgelegt worden ind (vgl. v. Borries u.a. 1992,185–188,1995, 411–433, v. Borries 1992b, 1995a, 1997b, 1998a, 1999b), soll die Aufzählung hier bewußt kurz gehalten werden.
Man kann auch unter Verwendung der drei Lernstufen von Rüsen (1994b, 156–170) sagen, daß schon die “historische Wahrnehmung” (von erstaunlicher Vergangenheit) nicht gelingt und daher “historische Deutung” (hinsichtlich relevanter Gegenwart) und “historische Orientierung” (für erwart-/gestaltbare Zukunft) unzureichend bleiben müssen (vgl. Veit 1995).
Rüsen (1994b, 156–170) verlangt zu recht “Multiperspektivität” auf allen drei Ebenen der “historischen Wahrnehmung”, “historischen Deutung” und “historischen Orientierung”. Um die Differenz und die jeweils neu nötige Sorgfalt anzudeuten, ziehe ich verschiedene Termini vor, eben “Multiperspektivität” bei der Wahrnehmungsoperation, “Kontroversität” bei der Deutungsoperation und “Pluralität” bei der Orientierungsoperation.
Die (sogenannten) Fakten gehen der Interpretation nicht voraus, sondern werden in einer gemeinsamen Spiralbewegung des Denkens mit ihr gleichzeitig “konstituiert”, nämlich kritisch geprüft, gegenkontrolliert, ausgewählt, verdichtet, abstrahiert (auf höheren Ebenen zusammengefaßt), sprachlich bezeichnet, gewichtet, zusammengestellt, verbunden (synthetisiert), bewertet (vgl. v. Borries 1995a, 1999a). Das ist übrigens schon lange bekannt (vgl. z.B. Carr 1963, 7ff.). Geschichte ist mithin ebenso “Konstruktion” wie “Rekonstruktion”, sie ist “Sinn-Bildung” aus Vergangenheit, nicht maßstabsgerecht verkleinerte “Modell-Abbildung” der Vergangenheit.
Der (zunächst bloß negative und resignative) Gedanke der Toleranz ist bekanntlich aus der schmerzlichen Erfahrung erwachsen, daß es sich im Konfessionsstreit des 16. und 17. Jahrhunderts sowohl als unmöglich erwies, die Gegner zu überzeugen, als auch, sie alle totzuschlagen.
Jörn Rüsen benutzt — unter Berufung auf Hegel — als Beispiel nicht zufällig die Liebe von Mann und Frau und deren Synthese, das gemeinsame Kind.
Ein wichtiges Indiz ist z.B. das nachgewiesene überragende Interesse der Jugendlichen an der jüngsten Geschichte. Das Übergewicht von Zeitgeschichte in offenen Äußerungen des Geschichtsbewußtseins ist so groß (vgl. Lutz 1997), daß daraus forschungsmethodisch leicht eine Verkürzung auf die Erkundung von “zeitgeschichtlichem Bewußtsein” (wenn nicht von bloßem “politischem Bewußtsein”) folgt. Auch wenn man diese methodische Einengung von Geschichtsbewußtsein auf “politische Kultur” (vgl. Lutz 1997) für einen Irrweg hält, muß offenbar die Strategie zur unterrichtlichen Legitimation temporal entlegenerer Stoffe geändert werden.
Als Gegenbeispiel: Lehrer- und Schülerangaben über die Unterrichtsformen stimmen zwar nicht völlig überein, sind aber doch relativ ähnlich, nur daß die Lehrenden ein etwas “günstigeres” und “moderneres” Bild zeichnen (vgl. 2.3.2.).
Das läßt sich gerade auch aus YOUTH and HISTORY belegen. Wo immer auch nur von fern an Frauen zu denken ist (z.B. bei “Königinnen”, “Burgfräulein”, “religiösen Führer(inne)n”, “einfachen Leute”, “Gleichstellung der Frau”), signalisieren die Mädchen — in Deutschland wie in ganz Europa — sofort ihre merklich höhere Zustimmung.
Eine große Verantwortung für die mißliche Lage trägt die Tatsache, daß seit ungefähr 1970 “entwicklungspsychologische” Fragestellungen in der Geschichtsdidaktik tabuisiert waren. Die — zu recht kritisierte — ältere Reifungstheorie wurde ersatzlos abgeschafft statt durch eine differenzierte fachdidaktische Sozialisationsforschung ersetzt (vgl. v. Borries 1987).
Diese Forderung ist alt (vgl. z.B. Schörken 1972a), aber nur scheinbar trivial, weil durchaus noch nicht eingelöst. Jeder Blick in Schulbücher des Faches zeigt, daß sie — trotz beachtlicher Bemühungen in manchen Fällen — noch immer primär nach der Chronologie der historischen Stoffe, nicht nach der Komplexität der historischen Operationen aufgebaut sind und zudem kaum Rücksicht auf Lebens- und Lernalter nehmen.
Ein Dilemma stellt sich hinsichtlich der “Lokal- und Alltagsgeschichte”. Sie wird zunächst von den Jugendlichen selbst weniger bevorzugt, als reformorientierte Lehrende an Schule und Hochschule glauben (vgl. 2.1.1., 2.1.2.). Außerdem hängt die Bevorzugung von “lebensweltlich naher Geschichte” leicht negativ mit “Politikinteresse” und kognitiver Kompetenz zusammen (vgl. 6.1.1.); sie wirkt tendenziell entpolitisierend. Natürlich bleibt es richtig, daß gerade “Nahgeschichte” sich für offene Lernformen eignet (vgl. v. Borries 1997b), aber es besteht kein Anlaß zur “didaktischen Heiligsprechung” der Lokal- und Alltagsgeschichte.
Noch immer kann man die Aufgabe des Geschichtsunterrichts ganz einfach zusammenfassen: Es gilt, den Satz Kants aus “Was ist Aufklärung?” (1784) fachspezifisch einzulösen: “Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!” (Kant 1967, 55) Die Frage ist allenfalls, ob es sich dabei in jedem Alter und bei jedem Schritt um eine direkt anwendbare Handlungs-Maxime oder nur um eine mittelbar wirkende regulative Idee handelt.
Die Unterscheidung einer Öffnung der Themenwahl, der Verfahren, des Lemortes und der Lernergebnisse ist wichtig (vgl. v. Borries 1997b, 251).
Das gilt auch für das Material von YOUTH and HISTORY selbst. Die Daten sind bei weitem nicht ausgeschöpft, sondern könnten und sollten im Hinblick auf einzelne politisch-kulturelle, sozialpsychologische oder geschichtsdidaktische Fragen sowie auf bestimmte Nachbarschaftsoder Mehrheits-Minderheits-Konstellationen weiter analysiert werden.
Der beginnende Friedensprozeß in Irland seit 1998 erübrigt diese Aufgabe nicht, sondern macht sie — wie in Südafrika — erst recht wichtig.
Die neue IEA-Studie “Civic Education” wird — trotz ihrer Abstinenz gegenüber Geschichte -wenigstens teilweise die Lücke füllen.
Hier sei nur ein Beispiel genannt. Es ist — auch international — durchaus fraglich, ob es genügt, den Nationalsozialismus und den Holocaust in der Abschlußklasse der Sekundarstufe I (oder kurz zuvor) zu behandeln. Unverständlicherweise scheint das große Gegenexperiment in Niedersachsen, wo der NS bereits in der 6. Klassenstufe Gegenstand von “Welt- und Umweltkunde” ist, nicht systematisch-empirisch ausgewertet zu sein.
Zu den tatsächlichen Schwierigkeitsgraden von Geschichts-Schulbüchern und deren Ursachen gibt es erstaunlich wenige Forschungen; da eigene Ergebnisse zu beispielhaften Darstellungen über die Antike (also für besonders junge Schüler!) wohl nicht mehr gedruckt werden, seien einige Befunde kurz zusammengefaßt. - Man kann leicht zeigen, daß häufig erhebliche grammatikalische Erschwernisse (z.B. sehr lange und mehrebige hypotaktische Satzgefüge und Konjunktivbenutzung) vorliegen. Die “Quellenorientierung” ist dabei nicht selten mitverantwortlich - Lexikalische Schwierigkeiten (z.B. zahlreiche, kaum aussprechbare Namen, entlegene Fremdworte und gelehrte Fachtermini) lassen sich anschließen. Sie treten — auch wegen des Anspruches auf “Wissenschaftsnähe” — oft so gehäuft auf, daß sie die kindlichen Leser(innen) vorweg entmutigen. - Dazu kommt oft eine sehr ungünstige Relation zwischen der Menge neuer Informationen und der Menge allenfalls bereits vorauszusetzender Kenntnisse (“mangelnde Redundanz”). Angesichts eines solchen Mißverhältnisses können die zusätzlichen Elemente kaum angeknüpft und verbunden — und deshalb auch nicht strukturiert und gespeichert — werden. - Das vierte Hauptproblem bildet der — oft viel zu hohe — Grad an Abstraktion, das Fehlen konkreter Fallbeispiele und anschaulicher Vorstellungshilfen. Erst wenn auf diesen vier Ebenen detaillierte Forschungsergebnisse vorlägen und alle möglichen Erleichterungen ausgeschöpft wären (wozu es zwar erfreuliche Ansätze, aber kaum systematischen Bemühungen gibt), könnte sich die fünfte Ebene der fundamentalen fachlogischen Denkfiguren (z.B. Perspektivität, Zeitsprung, Wandel) definitiv als Hauptproblem des unzureichenden Leseverständnisses (und der kognitiven Überforderung im Geschichtsunterricht insgesamt) herausstellen. Das bleibt jedoch keineswegs ausgeschlossen und müßte dann tiefgreifende Folgen für die Post-’68-Geschichtsdidaktik haben.
Anders als bei den eben erwähnten Studien sollte hier bewußt die Anknüpfung an Unterricht vermieden werden. Es hat nämlich den Anschein, als ob die Institution Pflichtschule gerade die historische Beschäftigung so stark überprägt, daß ihr Kontext bei Grundlagenforschung zum Geschichtslernen auch schaden kann.
Gedacht ist an Fälle, die im Lernenden kognitive Dissonanzen und moralische Konflikte auslösen, z.B. zwischen “Identifikation”, “Erfolg”, “Recht” und “Maßstabsänderung” (Moralwandel).
Ersatzweise kann — wegen des Motivationseffektes wie der Auswertungschance — auch das Durcharbeiten von Materialien zu Dilemmata mit dem Computer erwogen werden. Dann sollte ebenfalls die “thinking-aloud-Methode” (“nachträgliches lautes Denken”) benutzt werden; d.h. die Probanden sollten Kommentare zu ihrem eigenen Tun abgeben (“Reflexivität”).
Erwägenswert ist auch die Berücksichtigung fiktionaler und projektiver Momente, wie sie besonders durch Bildmaterial (auch Spielfilmauszüge) evoziert werden können.
Es bedarf zweifellos hoher Drittmittel und qualifizierter wissenschaftlicher Partner auch aus anderen Disziplinen (besonders Psychologie).
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von Borries, B. (1999). Fazit einer kulturvergleichenden Erkundung. In: Jugend und Geschichte. Reihe Schule und Gesellschaft, vol 21. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97451-8_8
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