Zusammenfassung
Vom Ritual kann die Psychoanalytikerin schon einiges erzählen, schließlich pflegt sie ausführlichen Umgang damit. Man sucht sie auf, weil man sich in Ritualisierungen verstrickt hat und deren Ausweglosigkeit verspürt; die Psychoanalytikerin verpflichtet auf bestimmte Regeln der Kur: auf die Grundregel der möglichst freien Assoziation, aber auch auf die strikte Wahrnehmung der wöchentlichen Stundenzahl und Termine. Die Regeln sollen dazu verhelfen, die Sackgassen des privaten Zeremoniells zu öffnen und in das Gesetz des Allgemeinen einüben. Und wenn sich derartige Exerzitien zunächst auch nebensächlich und banal ausnehmen mögen, so ist daran zu erinnern, daß für das Unbewußte ja gerade das Banale und scheinbar Nebensächliche von besonderem Interesse ist. Nehmen wir der Anschaulichkeit halber ein Beispiel: Montagmorgen kurz nach acht Uhr, das Telefon läutet. Noch dem Wochenende nachhängend und nicht ganz sende- und empfangsbereit, ahnt die Angerufene, daß ein so früher Appell nichts Gutes verspricht. Eine Analysantin ist am Apparat und will den für den Nachmittag festgelegten Psychoanalysetermin verschieben. Startposition beziehen und die noch im Home-Dress steckende Psychoanalytikerin aktivieren, ist das Eine, das Andere, sich daran erinnern und mitteilen, daß ein Psychoanalysetermin nicht zu verschieben ist und in jedem Fall (d.h. monetär) realisiert werden muß, sofern er nicht 24 Stunden vorher aufgekündigt worden ist. Daß solche Mahnung Kampf nach sich zieht, steht zu erwarten und gehört zu den Spielregeln quasi dazu. Die Selbstbehauptungsansprüche werden schließlich auf eine harte Probe gestellt. Die Analysantin jedenfalls ruft am Mittag desselben Tages noch einmal an und erklärt gottergeben, doch lieber zum vereinbarten Zeitpunkt kommen zu wollen. Die Kampfansage gegen das unmenschliche Gesetz und Reglement der Psychoanalyse, das noch nicht einmal erlaube, daß man krank sei, wird sie dann in der Sitzung erteilen.
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© 1998 Leske + Budrich, Opladen
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Seifert, E. (1998). Ritual total. In: Schäfer, A., Wimmer, M. (eds) Rituale und Ritualisierungen. Grenzüberschreitungen, vol 1. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97423-5_6
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