Frankreich: Hauptstadt Vichy

Zusammenfassung

1940 wurde die Dritte Republik so alt wie auch Menschen werden, 70 Jahre, und es schien so, als sollte sie ewig fortbestehen. Ihr prägender Einfluß drang durch die Volksschulen bis in das kleinste Dorf vor. Die Lehrer, diese laizistischen Heiligen mit Diplom, lehrten dort mit Hingabe das Rechnen und die republikanischen Prinzipien: Freiheit, Gleichheit, Laizität, Leistungsdenken. Dieses pädagogische Werk hatte die Franzosen geformt. Eine verlorene Schlacht und einige wenige Wochen reichten jedoch aus, um die Demokratie zusammenstürzen zu lassen. Die Diktatur des Marschall Pétain richtete sich für vier Jahre in Vichy ein. Während dieser „schwarzen Jahre“ kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Deren gravierendste ist in meinen Augen die Komplizenschaft des französischen Staates bei der Judenvernichtung. Kann man diese Verirrungen lediglich als ein Zwischenspiel abtun, bei dem durch die tragischen Ereignisse von 1940 zufällig an die Macht gekommene Führer Frankreich gegen seinen Willen in eine Richtung trieben, die nicht die seine war? Ist es zulässig, allein den Mut der Widerstandskämpfer und das Genie ihres Chefs de Gaulle ins Rampenlicht zu rücken, wie es nach 1944 geschah? Die Exzesse des Vichy-Regimes konnten nur dank des Gehorsams der Beamten und der Passivität (bzw. einer gewissen Form von Zustimmung) der Bevölkerung stattfinden. Man schaudert angesichts dieses üblen Schauspiels und wagt kaum, näher hinzusehen. Vichy, das ist die Leiche im Schrank, über die man in besseren Kreisen nur ungern spricht. Aber das Unbehagen ist da, unterschwellig oder ausdrücklich. Die Kollaboration quält seit einem halben Jahrhundert das Gewissen der Franzosen. Auch nach Vichy ist Vichy lebendig.