Zusammenfassung
Theorien des gesellschaftlichen Wertewandels, seiner Voraussetzungen und politischen Folgen mögen sich in vielerlei Hinsicht deutlich unterscheiden.1 In zwei Punkten herrscht allerdings weitgehende Übereinstimmung: Erstens sei der gesellschaftliche Wertewandel in liberaldemokratischen und postindustriellen Gesellschaften des Westens mit einer Ausbreitung von Selbstentfaltungswerten und Selbstverwirklichungsansprüchen verbunden. Und diese gingen zweitens einher mit einer Zunahme von politischen Partizipationsbedürfnissen. Diese steigende Bereitschaft zur politischen Beteiligung manifestiere sich insbesondere in direkten politischen Aktionsformen, mittels derer die jeweiligen Akteure ihre Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit und den politischen Entscheidungsträgern zu Gehör bringen wollene.
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Literatur
Einen Überblick über den Stand der sozialwissenschaftlichen Wertediskussion findet sich in Klages 1992; einen neueren Überblick über die politikwissenschaftliche Werteforschung bieten Van Deth/Scarbrough 1995.
Inglehart behauptet eine langsame, durch die Generationenfolge vorangetriebe Verschiebung von „materialistischen“, an ökonomischer und physischer Sicherheit orientierten Werten hin zu „postmaterialistischen” Werten, in deren Zentrum das Streben nach Selbstverwirklichung, gesellschaftlicher und politischer Partizipation und eine Orientierung an „Lebensqualitätsthemen“ im Gegensatz zu ökonomischen Verteilungsfragen stehe.
Unter politischem Protest soll in diesem Beitrag der Rückgriff auf direkte, nicht-institutionalisierte Formen der politischen Beteiligung verstanden werden, wobei wir uns auf nicht-gewaltförmige Beteiligungsarten beschränken, die auch Formen des zivilen Ungehorsams einschließen können. Die Protestwahl fällt demnach nicht unter dieses Verständnis des politischen Protestes.
Vgl. den Beitrag von Sabine Ruß und Jochen Schmidt zu den Auswirkungen des Wertewandels auf das Parteiensystem in diesem Band.
Aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit (i.S. einer möglichst großen Kontrolle von Hintergrundvariablen) beschränken wir uns auf die alte Bundesrepublik als Vergleichsland zu Frankreich. Dies erlaubt auch einen Vergleich der jeweiligen Umfrageergebnisse zu zwei verschiedenen Zeitpunkten.
Zu den Auswirkungen des Wertewandels auf die soziale Integrationsfähigkeit postindustrieller Gesellschaften des Westens s. den Beitrag von Dominique Pélassy in diesem Band.
Die Daten der europäischen Wertestudien wurden mir freundlicherweise vom Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität Köln zugänglich gemacht (World Values Survey 1981–1984 and 1990–1993, ICPSR-Nr. 6160, Primärfoscher: World Values Study Group).
Es wurden jeweils die Montags-bzw. Dienstagsausgaben von Tageszeitungen im Zeitraum von 1975–1989 ausgewertet, in Deutschland die Montagsausgaben der Frankfurter Rundschau, in Frankreich die Dienstagsausgabe von Le Monde. Eine detaillierte Präsentation der französischen Ergebnisse in vergleichender Perspektive findet sich in Duyvendak 1994, eine ländervergleichende Analyse auf dieser Datengrundlage bieten Kriesi/Koopmans/DuyvendaklGiugni 1995.
Darunter wurden folgende „nicht-konventionelle“ Aktionsformen gefaßt: friedliche sowie gewalttätige Protestdemonstrationen, Blockaden, Besetzungen und politische Gewaltakte (Bombenattentate, Brandstiftungen) (Duyvendak 1994: 113). Da die härteren Protestformen quantitativ kaum ins Gewicht fallen, dürften in allererster Linie Demonstrationen als Protestereignisse erfaßt worden sein.
Diese Daten wurden mir freundlicherweise von Hanspeter Kriesi zur Verfügung gestellt, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei.
Einen Erklärungsversuch für diese Sonderstellung des Bildungssystems als Protestarena liefert Ambler 1994.
Die Verweildauer im Bildungssystem ist gewiß ein sehr grober Bildungsindikator, vermeidet aber die kaum lösbaren Probleme eines internationalen Vergleichs von Bildungsabschlüssen. Zudem zeigt sich, daß dieser Indikator von allen in Tabelle 48 benutzten Indikatoren am besten diskriminiert.
Dort, wo sich die Zusammenfassung der sozio-professionellen Gruppen zwischen beiden Ländern unterscheidet, wird zusätzlich die französische Variante angegeben.
Dieses Begriffspaar scheint uns angemessener als die in der Literatur in jüngerer Zeit verbreitete Bezeichnung „left-right materialism“ (Knutsen 1995), da uns die darin mitschwingende Verbindung zwischen wirtschaftlichen Gleichheits-oder auch Leistungs-und Freiheitswerten mit einem individuellen „Materialismus” alles andere als zwingend erscheint.
Diese Skala hat sich wiederholt als gutes McBinstrument zur Erfassung religiöser Orientierungen erwiesen; Fragetext: s. Frage 38 im Anhang.
Es handelt sich zum einen um eine Frage, ob bei gleicher Tätigkeit leistungsabhängige oder gleiche Belohnung als gerecht empfunden wird (Frage 20 im Anhang), zum zweiten um eine Prioritätensetzung zwischen Gleichheit und Freiheit (Frage 62) und schließlich um eine Frage zur Unternehmenskontrolle und Mitbestimmung (Frage 21). Die Wahl der Gleichheitsalternative in den ersten beiden Fällen und die Wahl der Antwortvorgaben „gemeinsame Leitung“ oder „Arbeitnehmer” in Frage 21 gelten uns als Ausdruck „sozialdemokratischer“ Wertorientierungen. Aus diesen drei Fragen wurde ein Index gebildet, der von 0 bis 3 reicht und die Häufigkeit der „sozialdemokratischen” Antwortwahl wiedergibt. Eine zuvor durchgeführte Faktorenanalyse zeigte, daß diese drei Fragen auf derselben Dimension liegen.
Die Frage nach dem wechselseitigen Zusammenhang zwischen den drei benutzten Indizes und nach deren eventueller Interpretierbarkeit als Unterdimensionen einer postindustriellen Wertedimension kann hier aus Platzgründen nicht behandelt werden.
Es wurden verschiedene Verhaltensweisen präsentiert und danach gefragt, „ob man das tun darf oder nicht“. Dabei wurde eine zehnstufige Skala mit folgender Erläuterung vorgelegt: „1 würde bedeuten, das darf man unter keinen Umständen tun; 10 würde bedeuten, das ist in jedem Fall in Ordnung”. Die von uns (auf der Grundlage einer Faktorenanaylse, die in beiden Ländern eine eindimensionale Struktur der fünf Variablen ergab) für die Skalenbildung ausgewählten Vorgaben lauten: „Geschlechtsbeziehungen zwischen Minderjährigen“, „Homosexualität”, „Prostitution“, „Abtreibung”, „Sich scheiden lassen“. Die jeweiligen Punktwerte der Befragten auf den fünf Skalen wurden addiert. Die in beiden Ländern daraus resultierenden zusammenfassenden Skalen zeichnen sich durch hohe Reliabilitätskoeffizienten aus (Cronbachs Alphas zwischen 0.83 und 0.86).
Frage 73 im Anhang.
Selbstverständlich wäre auch der Fall denkbar, daß die über Themen der „Neuen Politik“ vermittelten Zusammenhänge zwischen libertären Selbstverwirklichungswerten und politischer Protestneigung in beiden Ländern ähnlich stark sind. Eine geringere Bedeutung der „neuen” Politik für die nationale Protestszene in Frankreich wäre dann möglicherweise auf eine geringere Verbreitung von libertären Selbstentfaltungswerten jenseits des Rheins zurückzuführen.
Es handelt sich dabei um Maßzahlen, die die Stärke und Richtung (positiv oder negativ) eines Zusammenhanges zwischen zwei in sich abgestuften Variablen wiedergeben, wobei die Werte zwischen -1 und + 1 schwanken können. Ein Wert von -1 würde einen perfekten negativen Zusammenhang zwischen zwei Variablen anzeigen, 0 die völlige Unabhängigkeit und +1 einen perfekten positiven Zusammenhang. Nur Zusammenhänge über.10 werden als inhaltlich relevant interpretiert. Als Korrelationsmaß wurde Pearson’s r benutzt.
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Schild, J. (1998). Wertewandel und politischer Protest: Die wachsende Bedeutung direkter Partizipationsformen. In: Köcher, R., Schild, J. (eds) Wertewandel in Deutschland und Frankreich. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97376-4_12
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