Zusammenfassung
Glaubt man gängigen Statements von Politikern und politisierenden Intellektuellen aus Ost und West, dann gibt es nichts Unterschiedlicheres als die ehemals zwei feindlichen deutschen Brüder, von denen der eine 40 Jahre die Segnungen von Demokratie und Kapitalismus genießen durfte, während der andere unter der Knute realsozialistischer Tyrannei leiden mußte, und die nun gezwungen sind, miteinander auskommen zu müssen. Von der „ungleichen Nation“ ist die Rede, von „einer Nation — aber zwei Gesellschaften“, von der „Zweistaatlichkeit im Kopf“, von der Aufgabe der Einheit, die aus „Gegensätzen“ zu gestalten sei. An den bundesdeutschen Stammtischen in Ost und West schlagen sich diese intellektuellen Geistesblitze dann — quasi als gesunkenes Kulturgut — nieder in den wohlbekannten Stereotypen des „arroganten Besserwessis“ und des „arbeitsscheuen Ossis“. Eine neue Dimension gewinnt diese Debatte bei einigen linken Intellektuellen wie zum Beispiel Heiner Müllers1, die den Verlust ihres sozialistischen Leitbildes noch nicht verarbeitet haben: hier steigt — wie der Phönix aus der Asche — plötzlich wieder die alte, seit Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ berühmt-berüchtigte „Kultur-Zivilisations“-Dichotomie aus der Versenkung hervor: auf der einen Seite steht der durch die Zivilisation verdorbene Wessi, dem Materialismus und der Kulturindustrie hörig, auf der anderen Seite der zwar armselige, aber die wahren Werte und den besseren Teil der deutschen Kultur bewahrende Ossi. Folgt man diesem Schwanengesang, so haben sich die Grenzen der Zivilisation nach Osten verschoben: der Feind der deutschen Kultur wartet nicht mehr am Rhein, er lauert schon an der Elbe, hat diese sogar schon überschritten und beginnt mit der Kolonialisierung der ostdeutschen Lebenswelt. — Doch gleich wie die Bewertungen im einzelnen ausfallen, einig ist man sich darin, daß es gravierende Unterschiede im Denken, Handeln und Verhalten gibt zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen. Und das Zauberwort, das gefunden wurde, um diese Unterschiedlichkeit zu fassen, ist das der Mentalität. Überall werden sie beschworen, die „Mentalitätsunterschiede“ zwischen den „Ossis“ und den „Wessis“.
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Literatur
Vgl. dazu: Herzinger 1993.
Vgl. Manz 1990; Maaz 1991.
Vgl. Maier 1990; Weidenfeld 1992.
Vgl. z.B. Gensicke 1991; Gensicke 1992; Habich u.a. 1991; Marz 1991, Moericke 1991.
Raulff 1987, S.65.
Vgl. hierzu exemplarisch Hugo Balls „Kritik der deutschen Intelligenz“ von 1919: „Die Mentalität der Menge: das ist eine Summe von Ziel-und Ratlosigkeit, von Verzweiflung und kleiner Courage, von Opportunismus und Weichlichkeit, von verkappter Sentimentalität und überhobener Arroganz. Die Mentalität der Menge: das ist ihr schlechtes Gewissen, das sind ihre Fälscher und Wortverdreher, ihre jahraus, jahrein galoppierenden Federn’ und Denunzianten, ihre Spitzel und Rabulisten, ihre Großmäuler, Demagogen und Faselhänse. Ein heiloses Konzert! Eine Orgie seltsamer Verzerrung! Wehe dem Land, wo solche Mentalität den Geist überschreit, wo sie allein nur herrscht und sich selbst für den Geist hält” (Ball 1991, S.15).7 Raulff 1987, S.60.
Legoff 1987, S.19.
Annette Riecks kommt in ihrem Forschungsbericht zur französischen Mentalitätsgeschichte zu der gleichen Einschätzung: Riecks 1989, S.79.
Vgl. dazu: Riecks 1989, S.73: „Durkheims Theorie des kollektiven Bewußtseins als normsetzender Instanz für Gebräuche, Sitten und Rechtsverhältnisse führte
lektiver Einstellungs-und Vorstellungsmuster, die unabhängig vom einzelnen Individuum existieren, diesem vielmehr ihren unauslöschbaren Stempel aufdrücken; sie sind in letzter Konsequenz jenes „kollektiv Unbewußte“, das die Geschichte lenkt. „Die Ebene der Mentalitätsgeschichte”, sagt LeGoff, „ist die des Alltäglichen und des Automatischen, dessen, was den unpersönlichen Teil ihres Denkens ausmacht“”
LeGoff 1987, S.21.
Tocqueville 1984, S.332.
Sellin 1985, S.597.
Weber 1976, S.12.
Geist“ und „Stil der Lebensführung” sind zentrale Begriffe der „Protestantischen Ethik“ (Weber 1978b). In der Auseinandersetzung um die dort vertretenen Thesen, sah sich Weber veranlaßt, das Gemeinte zu präzisieren. In den „Anti-Kritiken” und im „Anti-Kritischen Schlußwort“ (abgedruckt in Weber 1975) entwikkelte er den Begriff des „Habitus”, den er aufspaltete in einen,inneren“ und „äußeren”. Der Begriff des „inneren Habitus“, definiert als eine spezifische psychische Disposition, die der einzelne sich in seinem alltäglichen „religiösen Leben, seiner religiös bedingten Familientradition, seiner religiös beeinflußten Umwelt” (Weber 1975, S.318) aneignet, und die sich in spezifischen Verhaltens-und Orientierungsmustern niederschlägt, kommt dem „Mentalitätsbegriff` am nähesten. Vgl. dazu: Gebhardt 1993.
Geiger 1987, S.78.
Geiger 1987, S.77.
Vgl. Sellin 1985.
Vgl. Schütz 1971, S.B.
Vgl. Schütz 1972, S.153.
Vgl. Berger/Luckmann 1977, S.44; Esser 1991, S. 13.
Schütz 1972, S.153.
Vgl. Esser 1991, S.14.
Vgl. Schütz 1972, S.153.
Schütz 1972, S.154.
Schulze 1992, S.264.
Esser 1991, S.20.
Sellin 1985, S.580.
Vgl.Schütz 1972, S.154f.
Haußer 1989, S.279ff.
In diesem Sinne glauben wir, daß der Begriff der Mentalität, ähnlich wie der der Institution dazu beitragen kann, die unfruchtbare Polarität zwischen handlungstheoretischen und systemtheoretischen Ansätzen in der Soziologie zu überwinden, weil er zwischen beiden Positionen vermittelt. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Hartmut Esser unternommen, als er versuchte, die institutionellen Leerstellen der „rational choice-theory“ mit Hilfe der Lebensweltkonzeption von Alfred Schütz, die wie gesehen ja große Ähnlichkeiten mit dem Mentalitätskonzept besitzt, auszufüllen (Esser 1991).
Soeffner 1992; Schulze 1992, S.273. — Schulze hat die Bedeutung der „Alltagsästhetik“ in seiner kultursoziologischen Analyse der bundesdeutschen Gesellschaft deutlich herausgearbeitet. Sein Entwurf von fünf spezifischen „Milieus”, die die moderne „Erlebnisgesellschaft“ charaktersieren (S.277ff.) ist für die Zwecke dieser Studie unmittelbar relevant. Insbesondere die von ihm vorgenommen Beschreibungen der sogenannten „Harmonie-und Integrationsmilieus” geben wichtige Interpretationshilfen für unsere Studie.
Dorfstudien haben in den deutschen Sozialwissenschaften eine lange Tradition. Man muß dazu nicht an Wilhelm Heinrich Riehl oder Gustav Schmoller erinnern. Interessant (ob lohnend steht noch dahin) wäre sicher eine Aufarbeitung der vielen Dorfstudien, die unter der Leitung von Gunther Ipsen und Hans Linde im Dritten Reich angefertigt wurden. Vgl. dazu das theoretische Gerüst, das Ipsen bereits 1933 formulierte: Ipsen 1933. — Als klassisches Beispiel einer Gemeindestudie gilt bis heute unangefochten „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda u.a. 1933 ).
Vgl. dazu die entsprechenden Kapitel im „Handbuch der qualitativen Sozialforschung“ 1991, S.177ff.; S.189ff.; S.228ff. Zur Bildanalyse vgl.: Barthes 1985; Bourdieu u.a. 1983. — An dieser Stelle sei Thomas Jung, Lothar Voigt und Stefan Müller-Doohm (Oldenburg) gedankt, die uns freundlicherweise ihrer „Leitfaden zur Bildanalyse” zur Verfügung gestellt haben. Vgl. auch: Jung u.a. 1992.
Vgl. Schulze 1985.
Vgl. Geißler 1992, S.100 u. S. 106.
Vgl. Schulze 1992, S. 277ff.
Vgl. Plessner 1924.
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Gebhardt, W., Kamphausen, G. (1994). Ostdeutsche und Westdeutsche: Wie verschieden sind sie wirklich?. In: Zwei Dörfer in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97290-3_1
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