Zusammenfassung
Es scheint mir unmöglich, den Ernst der gegenwärtigen Lage in Deutschland zu übertreiben. Jegliche Vorhersage, die über mehr als ein paar Wochen hinausreichen soll, wird unsicher. Die Arbeitslosigkeit setzt ihr zerstörerisches Werk fort und verursacht jeden Monat ein neues Defizit im Reichshaushalt. Die finanzielle Unsicherheit wird ihrerseits durch die soziale Krise verstärkt, die Deutschland wenn schon nicht ins Chaos, so doch zumindest in die aller ungewissesten Abenteuer zu reißen droht. Die nationalsozialistische Springflut, die nach den Wahlen vom 14. September für einige Zeit den höchsten Stand erreicht zu haben schien, steigt erneut an, anscheinend unaufhaltsam wie eine Naturgewalt. Jede Landtags- oder Kommunalwahl weist ein Ansteigen der Zahl ihrer Anhänger aus, jeder politische Vorfall ein Anwachsen ihres Einflusses.
Der Titel bezieht sich einerseits auf einen Artikel von Ramon Fernandez (vgl. unten FN 8). Mit „Devoir présent“ bezieht sich Aron andererseits auf die Programmschrift des Gründers der Union pour la vérité, Paul Desjardins: Le Devoir présent; Paris: Colin 1892. Zum Einfluß der „Union“ auf Aron siehe Stark, Zwischen Devoir présent und Incertitudes allemandes (Einleitung, FN 13).
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Literatur
Möglicherweise eine Anspielung Arons auf die zweite Debatte über die „Problèmes franco-allemands d’après-guerre“ in der Union pour la vérité am 14. Januar 1931, wo Arthur Fontaine, der Vorsitzende des Verwaltungsrats des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, auf die Schnelligkeit dieser Rationalisierung als eine der Ursachen für die Arbeitslosigkeit hingewiesen hatte. Union pour la vérité (Hg.): Problèmes franco-allemands d’après-guerre. Entretiens tenus au siège de l’Union pour la vérité; Paris: Librairie Valois 1932; p. 97. In der damaligen Wirtschaftswissenschaft und vor allem bei den Gewerkschaften war es eine verbreitete Ansicht, daß eine verfehlte Rationalisierung zu den Hauptursachen der Massenarbeitslosigkeit gehörte. Vgl. Winkler, H. A.: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930–1933; Berlin/Bonn 1987; p. 87f.
Zu den Folgen des Goldstandards, der Abschottung der nationalen Märkte durch Hochzollpolitik, Güterkontingentierung und Devisenkontrollen vgl. Ziebura, Gilbert: Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24–1931; Frankfurt 1984, p. 35–43, 145–148.
Während der Völkerbundstagung Ende September 1930 wurde in Genf die Meinung vertreten, daß regionale Wirtschaftsabkommen z.B. zwischen den baltischen Staaten, zwischen Rumänien und Jugoslawien, zwischen den skandinavischen Staaten Kerne für den künftigen europäischen Zusammenschluß bilden könnten. Vgl. Frankfurter Zeitung (1. Morgenblatt), 28. 9. 30: „Europa — vertagt?“
Aron meint Schlumberger, Jean: Dun certain manque d’imagination, in Nouvelle Revue Française, 19e année, No 207 (ler décembre 1930 ), p. 757–771.
Europe, t. XXIV, No 96 (15 décembre 1930 ). Benno Reifenberg, der Pariser Korrespondent der Frankfurter Zeitung, hatte am 8. 1. 1931 im ersten Morgenblau unter dem Titel „Pariser Gespräche“ über den Artikel Schlumbergers, die Diskussion in der „Union” am 17. 12. 1930, die Pariser Vorträge von Pierre Viénot (die später unter dem Titel „Incertitudes allemandes“ als Buch erscheinen sollten) und über die Ausgabe von „Europe” berichtet.
Vgl. Fernandez, Ramon: L’Autre impasse (A propos des rapports franco-allemands); Nouvelle Revue Française, XIXe année, No 208 (ler janvier 1931), p. 113–123. Hier p. 114. Stark: Zwischen Devoir présent und Incertitudes allemandes; in: lendemains (s.o. Einleitung, FN 11); FN 34.
Natürlich eine Anspielung auf Julien Bendas „Trahison des clercs“, ein Buch, das Aron sehr genau kannte. „Réalisme” bedeutete für Benda Verrat an der Wahrheit. Die Leidenschaft für das Nationale war für ihn „réalisme divinisé“ (so vor allem bei Maurras). Vgl. Benda, La Trahison des clercs; Paris (Grasset) 1927; p. 48.
Fernandez hatte in der ersten Debatte über die „Problèmes franco-allemands“ (s. FN 3) in der Union pour la vérité am 17. 12. 1930 angesichts der Wahlen vom 14. September 1930 gefordert, daß es nun für die Franzosen an der Zeit sei, sich einer Gewissensprüfung zu unterziehen (p. 35). Mit seinem Artikel für die N.R.F. hatte Fernandez offenbar seine persönliche Gewissensprüfung abgeschlossen.
Friedrich Sieburgs Buch „Gott in Frankreich“ war 1930 in französischer Übersetzung unter dem Titel „Dieu est-il Français?” bei Grasset (Paris) mit einem Nachwort von Bernard Grasset erschienen. Ramon Fernandez’ Rezension erschien in der N.R.F., XIXe année, No 208 (I er janv. 1931), p. 142–145. Aron spielt auf eine Passage dieser Rezension an (p. 145), wo Fernandez auf Grassets Nachwort eingeht: „M. Grasset, dans son éloquente lettre, a beau répéter que la France, défenseur d’une idée de civilisation universelle, ne cherche qu’A être aimée: le fait est qu’elle ne l’est point, ou qu’elle ne l’est plus.“ Der Grund dafür sei, daß Frankreichs Vorstellung von der Welt falsch sein müsse, weil ein allgemeines Ideal nun einmal von der Welt als solches anerkannt sein sollte. Frankreich mißachte die tatsächlichen Vorgänge in der Welt.
Aron bezieht sich auf die Tatsache, daß nur den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns, des Osmanischen Reiches und des zaristischen Rußland Minderheitenschutzverträge oktroyiert worden waren, während die Großmächte sich weigerten, allen voran Frankreich und Großbritannien, den Minderheitenschutz zu generalisieren, so daß er auch auf sie selbst anwendbar gewesen wäre. Dies hätte für Frankreich z.B. bedeutet, daß Elsässer, Bretonen, Basken oder auch die polnischen Bergarbeiter in Lothringen Minderheitenrechte hätten geltend machen können, wodurch das französische Staatsverständnis empfindlich infrage gestellt worden wäre. Vgl. Veach, Richard: Minorities and the League of Nations; in United Nations Library, Geneva (Ed.): The League of Nations in retrospect. Proceedings of the Symposium, Geneva, 6 — 9 November 1980; Berlin/New York 1983; p. 369–383.
Anspielung auf einen Diskussionsbeitrag Georges Guy-Grands in der zweiten Debatte fiber die „Problèmes franco-allemands d’après-guerre“ vom 14. Januar 1931 in der Union pour la vérité (vgl. oben, FN 3), p. 92–94.
Bezieht sich auf die Vorwürfe Deutschlands an Polen während der polnischen Wahlen, daß die deutsche Minderheit „terrorisiert“ werde. Unter Verletzung der Verfahrensregeln hatte Deutschland eine Beschwerde beim Völkerbundrat eingereicht (nur die bedrohte Minderheit selbst wäre dazu berechtigt gewesen), und bei der Genfer Ratstagung im Januar 1931 hatte Curtius Polen in scharfer Form angegriffen. Vgl. Kimmich, Christoph M.: Germany and the League of Nations; in United Nations Library, op.cit. (FN 15), p. 118–127. Siehe auch Text Nr. 4, FN 3.
Bezieht sich auf Spinozas Traité politique, Kap. III, § VII; Kap. V, § IV. Vgl. auch Benda, Trahison des clercs (FN 9); p. 225. Im Januar 1941 greift Aron dieses Spinoza-Zitat mit kritischer Wendung gegen den Pazifismus noch einmal auf in: Philosophie du pacifisme; La France libre I,3 (Januar 1941). Auch in Aron, Chroniques de guerre; Paris: Gallimard 1990; p. 490. Angesichts des von Hitler-Deutschland geführten Krieges drohe das Wort „Friede“ die Bedeutung einer Zustimmung zur Sklaverei anzunehmen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Aron Elie Halévys drei Oxforder Vorlesungen aus dem Jahre 1929 vor Augen, die in den drei Ausgaben der „Libres Propos“ zwischen Juli und September 1930 unter dem Titel: „La crise mondiale de 1914–1918. Une interprétation” abgedruckt worden waren. Die Passage, auf die er sich bezieht, findet sich am Schluß der dritten Vorlesung (Libres Propos, 4e année, No 9 [sept. 1930], p. 422–431, hier 430f). Die drei Vorlesungen sind erneut veröffentlicht in Halévy, Elie: L’Ère des tyrannies. Etudes sur le socialisme et la guerre; Paris (Gallimard) 1938, p. 171–199. Aron hat 1939 für die Revue de métaphysique et de morale eine Besprechung dieser Artikelsammlung verfaßt. Siehe weiter unten in diesem Band, Text Nr. 26.
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© 1993 Leske + Budrich, Opladen
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Aron, R. (1993). „Andere Sackgasse“ oder „Forderung des Tages“. In: Stark, J. (eds) Über Deutschland und den Nationalsozialismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97269-9_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-97269-9_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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