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Demokratische Staaten und totalitäre Staaten

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Book cover Über Deutschland und den Nationalsozialismus
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Zusammenfassung

  1. 1.

    Die Bildung von neuen führenden Eliten ist ein grundlegendes Charakteristikum der (deutschen und italienischen) totalitären Regime. — Gewalttätige, aus Halb-Intellektuellen oder Abenteurern zusammengesetzte Eliten, zynisch, effizient, aus ganzem Herzen machiavellistisch. Institutionen und Diplomatie stehen im Dienste des Machtwillens dieser Eliten: tyrannische Autorität im Inneren, grenzenlose Ausdehnung nach Außen. Faschismus und Nationalsozialismus ordnen die Wirtschaft der Politik unter und verkünden das Primat der Außenpolitik.

  2. 2.

    Die totalitären Regime stellen sich in erster Linie den Demokratien entgegen und nicht dem Kommunismus. — Gegensatz der ökonomischen und politischen Systeme. Gegensatz der Ideologien: Gemeinschaft gegen Individualismus, heroische Werte gegen bürgerliche Werte, Charakter gegen Intelligenz, Disziplin gegen Freiheit, Glaube gegen Vernunft. Nicht nur die vergänglichen politischen Werte des 19. Jahrhunderts, sondern auch die obersten Werte der abendländischen Tradition — Achtung vor der Person und vor dem Geist (esprit) — werden von den totalitären Regimen bewußt zurückgewiesen.

  3. 3.

    Die außenpolitischen Konflikte entstehen nicht aus den ideologischen Konflikten, aber die besitzenden Mächte, die unvermeidlich konservativ sind, müssen den neuen Imperialismen Widerstand leisten. Da das imperialistische Streben Deutschlands und Italiens (zumindest in seinen extremen Manifestationen) mit dem totalitären Regime verknüpft ist, sind die konservativen Mächte letztlich genötigt, die Regime — im Unterschied zu den Völkern — anzuklagen.

  4. 4.

    Es gibt für die gegenwärtigen außenpolitischen Konflikte keine ökonomische Lösung. — Die totalitären Regime haben ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten bewußt gewollt oder in Kauf genommen; diese sollten von den anderen Ländern so lange nicht gemildert werden, wie diese Regime nicht von ihren imperialistischen Versuchen ablassen. An dem Tag hingegen, wo sie, und sei es vorläufig, diese Versuche einstellen, könnten sie ihre Wirtschaftslage teilweise entspannen: es ist die Politik und nicht die Wirtschaft, die den Waffenstillstand oder den Frieden verhindert.

  5. 5.

    Die totalitären Regime sind in ihrem Ursprung revolutionär, die Demokratien sind ihrem Wesen nach konservativ. Die ersteren, die sich als Verteidiger der Kultur gegen den Bolschewismus ausgeben, haben in Europa einen permanenten Kriegszustand hergestellt; hinter der bürokratischen Fassade haben sie die moralischen und sozialen Fundamente der alten Ordnung zerstört. Nichts ist daher in dieser Hinsicht unverständlicher, als das Wohlwollen, das ihnen so lange von den Konservativen Frankreichs und Englands entgegengebracht wurde.

  6. 6.

    Die technischen Erfolge der totalitären Regime im Bereich des Ökonomischen, Politischen und Militärischen sind unbestreitbar, ebenso unbestreitbar, wie die passiven Tugenden ihrer Anhänger. Die Demokratien können sich nicht rechtfertigen, indem sie sich darauf beschränken, die Werte zu beschwören, die von ihren Gegnern verachtet werden, sie müssen sich der Tugenden fähig erweisen, für die die totalitären Regime das Monopol beanspruchen. Unglücklicherweise haben die antifaschistischen Bewegungen bis jetzt die politischen und moralischen Mängel der Demokratien vertieft, Mängel, die die besten Argumente zugunsten der Tyranneien liefern.

  7. 7.

    Der politische und historische Optimismus des 19. Jahrhunderts ist in allen Ländern tot. — Es geht heute nicht darum, die bürgerlichen, humanitären oder pazifistischen Illusionen zu retten. Die Exzesse der Vernunftfeindschaft disqualifizieren nicht das notwendige Bemühen um das erneute Infragestellen des Fortschrittsglaubens, des abstrakten Moralismus oder der Ideen von 1789, ganz im Gegenteil. Der demokratische Konservatismus ist ebenso wie der Rationalismus nur dann in der Lage sich zu bewahren, wenn er sich erneuert.

  8. 8.

    Die Alternative „Kommunismus oder Faschismus“ ist nicht schicksalhaft; sie droht es zu werden, wenn man die ökonomischen und sozialen Bedingungen nicht erkennt, unter denen ein Regime der Freiheit möglich ist. Die Mischung von unbegrenzter und irrationaler Autorität, von rationalisierter Technik und demagogischer Propaganda bietet das Zerrbild einer möglichen inhumanen Gesellschaft. Das Erlöschen der demokratischen Institutionen, die Krisen der kapitalistischen Wirtschaft, die Konflikte zwischen den neuen Imperialismen und den saturierten Nationen, der Verfall der traditionellen Werte haben zur gegenwärtigen Lage geführt — wo alles zu tun bleibt, weil alles wieder in Frage gestellt ist.

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Literatur

  1. In der ersten Hälfte des Jahres 1939 hatte eine Reihe von Ereignissen eine Atmosphäre geschaffen, in der ein europäischer Krieg von den Zeitgenossen als reale Drohung empfunden wurde: Ende Februar hatte der Spanische Bürgerkrieg mit dem Sieg der Franquisten geendet. Hunderttausende von Republikanhängern waren nach Südfrankreich geflüchtet und dort nur notdürftig in Lagern versorgt. Im März hatte Hitler die Tschechei besetzt. Anfang April war Mussolini in Albanien einmarschiert (ans Karfreitag) und einen Tag später wurde es von Italien annektiert. Am 22. Mai 1939 war dann der Stahlpakt zwischen Deutschland und Italien geschlossen worden.

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  2. Vgl. dazu Arons Aufsatz über Pareto aus dem Jahre 1937: La sociologie de Pareto; Zeitschrift für Sozialforschung VI (1937), p. 489–521. Zu diesem Vortrag im allgemeinen vgl. Aron, Mémoires, p. 154–157.

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  3. Der Name ist vermutlich entstellt. Es dürfte sich vielmehr um Rosenstock-Franck handeln, ein korrespondierendes Mitglied der Société française de philosophie. Rosenstock-Franck hatte 1934 eine Studie über „L’économie corporative fasciste en doctrine et en fait“ veröffentlicht ( Paris: Lib. Univ. Gamber).

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  4. Diese Einschätzung Arons wurde Mitte August 1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt widerlegt. Zu Arons von Bestürzung und Fassungslosigkeit geprägten Reaktion auf diesen Pakt vgl. Aron, Le spectateur engagé; Paris: Julliard 1981, p. 54 sowie Arons Memoiren, p. 161. Arons Erinnerung an seinen Vortrag von 1939 ist übrigens nicht ganz korrekt. Sowohl im „Spectateur“ als auch in den Memoiren erklärt er, daB er in seinem Vortrag den Pakt „für die nächste Zukunft” bzw. „für den Augenblick“ für unwahrscheinlich gehalten habe.

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  5. Zu den wirtschaftspolitischen Zwangslagen des nationalsozialistischen Regimes Ende der Dreißiger Jahre vgl. Volkmann, Hans-Erich: Außenhandel und Aufrüstung in Deutschland 1933 bis 1939; und Mason, Timothy W.: Innere Krise und Angriffskrieg 1938/1939; beide in Friedrich Forstmeier/ Hans-Erich Volkmann (Hg.): Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges; Düsseldorf: Droste Verlag 1975.

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  6. Aron nimmt hier ein Argument wieder auf, das er bereits 1937 gegen die Wirtschaftspolitik der Volksfrontregierung verwendet hatte. Vgl. Réflexions sur les problèmes économiques français; Revue de métaphysique et de morale, t. XLIV (1937), p. 793–822.

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  7. Die Regierung Daladier erließ unter Federführung des Finanzministers Paul Reynaud im November 1938 Dekrete über die Erhöhung der Normalarbeitszeit von 40 auf 50 Stunden pro Woche, die Einführung der Sechs-Tage-Woche (anstatt fünf Tage), Pflichtüberstunden in der Rüstungsindustrie, Steuererhöhungen. Zur dadurch eingeleiteten Erholung der französischen Wirtschaft Duroselle, Jean-Baptiste: Politique étrangère de la France. La décadence, 1932–1939; Paris: Collection Points 1979; p. 443ff.

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  8. Vielleicht eine Reminiszenz an Arons damalige Machiavelli-Lektüre. Vgl. Machiavelli, Discorsi I,53. Das Problem einer Reform der französischen politischen Elite hat Aron während seiner Londoner Zeit bei „France libre“ immer wieder beschäftigt. Vgl. seine Artikelsammlung „L’Age des empires et l’avenir de la France”; Paris: Défense de la France 1945. Jetzt in: Raymond Aron: Chroniques de guerre. La France Libre 1940–1945; Paris: Gallimard 1990.

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  9. Charles Rist (1874–1955) Professor der Nationalökonomie an der Sorbonne. Leiter des Institut des recherches économiques. Aron hatte 1937 einen Besprechungsaufsatz zu einem Buch von Rist verfaßt: Monnaie et crédit (à propos d’un livre récent: Charles Rist: Histoire des doctrines relatives au crédit et à la monnaie — depuis Law jusqu’à nos jours; Paris: Sirey 1938); in Thalès IV; p. 235–253.

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  10. Aron bezieht sich wahrscheinlich auf Norman Angell: The Great Illusion. A Study of the Relation of Military Power to National Advantage; London: Heinemann 1914. Siehe vor allem die „Synopsis“ zu Beginn des Buches, sowie Kapitel IV: The impossibility of confiscation. Aron kannte das Buch Angelis vermutlich durch die Lektüre von Elie Halévys „L’Ère des tyrannies”, zu der er ja eine Rezension geschrieben hatte (s.o., Text 26). Halévy, op. cit., p. 183. Vgl. auch Aron: Paix et guerre entre les nations; Paris: Calmann-Lévy 1962; p. 253.

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  11. Jacques Maritain (1882–1973). Professor der Philosophie am Institut catholique. Maritains Hauptwerk: Humanisme intégral, war 1936 erschienen. Die Hauptthesen hatte Maritain am 23. Januar 1937 in der Union pour la vérité vorgetragen. Der Text dieses Vortrags jetzt in: L’Humanisme intégral de Jacques Maritain. Colloque de Paris; Paris: Ed. Saint-Paul 1986. Raymond Aron hatte 1943 unter dem Pseudonym René Avord eine Abhandlung über Maritain veröffentlicht: Pensée française en exil, H.: Jacques Maritain et la querelle du machiavélisme; France libre, t. VI., No 33; p. 209–215.

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  12. Vgl. dazu Aron, Mémoires, p. 157 und 744. Victor Basch (1863–1944) war Professor für Ästhetik an der Sorbonne und seit 1934 Präsident der französischen Liga für Menschenrechte. Er wurde im Januar 1944 in der Nähe von Lyon zusammen mit seiner Frau von französischen Milizionären ermordet.

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  13. Basch war einer der Initiatoren des Rassemblement populaire, das am 14. Juli 1935 eine große Demonstration zur Verteidigung der Demokratie gegen die Ligen und den Faschismus organisiert hatte.

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  14. Aimé Berthod, 1878–1944. Lange Zeit Abgeordneter der Radikalen Partei und zwischen 1932 und 1934 Pensions-und Erziehungsminister. Seit 1935 Senator.

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  15. Edmond Vermeil, einer der führenden französischen Deutschland-Spezialisten in der Zwischenkriegszeit.

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  16. Vermeil meint Hermann Rauschning: Die Revolution des Nihilismus; Zürich 1938.

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  17. Dominique Parodi (1870–1955), Philosoph und Generalinspekteur für das öffentliche Schulwesen. Nach dem Tode Élie Halévys (1937) dessen Nachfolger als Redaktionsleiter der Revue de métaphysique et de morale.

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  18. Zu Etienne Mantoux (1913–1945) vgl. Aron, Mémoires, p. 156f; Robert Colquhoun: Raymond Aron. Bd. 1: The Philosopher in History; London: Sage 1986; p. 186f. Der Nationalökonom Mantoux war ein Schüler Halévys und als Mitherausgeber an Halévys posthumer Histoire du socialisme européen (Paris: Gallimard 1948) beteiligt. Aron hatte ein Vorwort geschrieben zu Etienne Mantoux: La paix calomniée ou les conséquences économiques de M. Keynes; Paris: Gallimard 1946 (posthum; Mantoux war 1945 als Soldat bei einem Autounfall ums Leben gekommen).

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  19. Diese These wurde von Carl Schmitt prägnant zusammengefaßt in seinem Aufsatz vom Januar 1933: Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland; zunächst in Europäische Revue, wieder abgedruckt in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar — Genf — Versailles, 1923–1939; Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1940; p. 185–190.

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Joachim Stark

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© 1993 Leske + Budrich, Opladen

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Aron, R., Stark, J. (1993). Demokratische Staaten und totalitäre Staaten. In: Stark, J. (eds) Über Deutschland und den Nationalsozialismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97269-9_28

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-97269-9_28

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

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