Zusammenfassung
Man kann die unterschiedlichen psychiatrischen und medizinisch-psychologischen Ansätze um zwei Pole gruppieren. An dem einen Pol befinden sich jene Orientierungen, die als „objektivistisch“ bezeichnet werden können und die versuchen, die Bedingungen einer klassischen Konzeption von Wissenschaftlichkeit zu erfüllen. Sie entfalten sich innerhalb traditioneller medizinischer Institutionen und werden von in hohem Maße professionalisiertem Personal vertreten. Am anderen Pol sind jüngere Ansätze zu finden, welche sich innerhalb weniger institutionalisierter Gebilde entwickeln und die von Personen vertreten werden, deren Qualifikation nicht immer durch akademische Diplome ausgewiesen ist.
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Anmerkungen
Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes unter dem Titel: „Les thérapies éphémères“ in: Prospective et Santé, No 30/1984
Unter dieser Bezeichnung fassen wir die Vielfalt der Strömungen zusammen, die als „neue Therapien“, als „Bewegung des menschlichen Potentials“ oder als „humanistische Psychologie“ bezeichnet werden. Eine genauere Analyse müßte der Tatsache Rechnung tragen, daß hier Praktiken zusammengefaßt werden, die voneinander sehr verschieden sind. Man könnte sogar ihren Charakter der „Flüchtigkeit“ anzweifeln, da die wichtigsten unter ihnen sich in den USA in den 50er Jahren schon zu entwickeln begannen. Auf der ursprünglichen Grundlage von Bioenergetik, Gestalttherapie, klientenzentrierter Gesprächstherapie und Transaktionsanalyse, welche, wie zu zeigen sein wird, auf Abwandlungen der Psychoanalyse zurückgehen, hat sich jedoch eine Menge mehr oder weniger phantasievoller Innovationen herausgebildet, die sich vorwiegend auf die Bereiche des Gefiihls und der Sexualität richten, und dies im Namen einer Ideologie der Entfaltung der Person und der Entwicklung ihrer Beziehungsmöglichkeiten.
Zu Entstehen, Entwicklung und aktueller Funktion in den USA vgl. „La Societé psychiatrique avancée, le modèle americain, Paris 1979“ (dt. Castel, F., Castel, R., Lovell, A., Psychiatrisierung des Alltags: Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA, Frankfurt 1982), besonders Kapitel VIII, „Die neuen Konsumenten der Psychowaren“; zu ihren Auswirkungen in Frankreich vgl. R. Castel, La Gestion des risques, Paris 1981, besonders Kapitel IV, „Die neue psychologische Kultur“.
Auch hier wären wieder Nuancierungen angebracht, denn das von diesen Techniken abgedeckte Feld sieht nur dann homogen aus, wenn man es von außen und von ferne betrachtet. Jedoch ist die gesamte Palette der praktischen und theoretischen Einstellungen vertreten: von den gewissenhaften Professionellen bis zu den Schwindlern; von den Sonderlingen bis zu den Erfindern kommerzieller Geräte. Besonders in Frankreich und anders als in den USA, wo die Bewegung im Großen und Ganzen durch ihren Pragmatismus und Anti-Intellektualismus charakterisiert ist, beobachtet man derzeit sehr feine Tendenzen, die sich auf Lacan berufen und wissenschaftliche Stringenz wie auch professionelle Seriosität beanspruchen.
Eine Vorstellung von dieser öffentlichen Wirkung vermittelt außer „La gestion des risques“, a.a.O., das Sonderheft No. 43, oct. 1982, der Zeitschrift „Autrement“, mit dem Titel: „A corps et à cri“.
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© 1988 Leske + Budrich, Opladen
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Castel, R. (1988). Die flüchtigen Therapien. In: Brose, HG., Hildenbrand, B. (eds) Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Biographie und Gesellschaft, vol 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97182-1_7
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-97182-1_7
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-322-97183-8
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