Zusammenfassung
Zunächst einmal sollen die beiden ersten Grundtypen reziproken Austausches unterschieden werden. Der eine Typus soll „direkte“ oder „echte“ Reziprozität heißen, der andere, analog der gebräuchlichen Weise „generalisierte Reziprozität“. Direkte Reziprozität beruht auf direkten Beziehungen, die sich, egal wie viele Personen letztlich daran beteiligt sind, analytisch in Dyaden auflösen lassen.14 In solchen Beziehungspaaren werden, sofern nicht durch die Position der Akteure andere Tauschverhältnisse erwartet werden, ungefähr äquivalente Leistungen gegenseitig erbracht. Die andere Klasse reziproker Beziehungen nennt sich generalisierte Reziprozität, hierbei lassen sich die Leistungen nicht auf einen eindeutig benennbaren Gabenzyklus zwischen zwei Personen zurückführen.
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Diese Auflösung in Dyaden bezieht sich auf den Austausch, nicht unbedingt auf die Wirkung des Tausches.
Natürlich ist diese Formulierung so nicht ganz korrekt, denn es ergeben sich sehr wohl eine Reihe rechtlicher Verpflichtungen, etwa Gewährleistungsansprüche. Auch können sich Kulanzfolgen hinsichtlich der Möglichkeit des Umtauschs, einer ersten Inspektion etc. ergeben. Allerdings sind solche Verpflichtungen in der Regel asymmetrisch, obschon die Ware bezahlt ist, sind sie vom Verkäufer zu erbringen, bzw. sie gelten von vornherein als Vertragsbestandteil. Da die aus einem solchen Vertrag erwachsenden rechtlichen Ansprüche im Zweifel nur schwer durchsetzbar sind, ist eine gewisse Vertrauensbeziehung zum Verkäufer ebenfalls notwendig hierzu siehe Kappelhoff 1995 ).
Diese Art des Warentausches ist es wohl auch, die Ferdinand Tönnies dazu bewog, Reziprozität auf dem Gegensatzpaar Gemeinschaft und Gesellschaft, dem gesellschaftlichen Bereich zuzuschlagen.
Hierin entspricht er genau der Definition von Acham (1990: 78) zum Methodologischen Individualismus, der unten noch einmal genauer behandelt wird: „Der methodologische Mikro-Reduktionismus (Individualismus) ist durch die Annahme charakterisiert, dass die Systemeigenschaften aus den Komponenteneigenschaften folgen, ohne dass die Systemeigenschaften auf die Komponenteneigenschaften zurückwirken (oder, wenn sie dies tun, in einem Ausmaß, welches zu vernachlässigen ist).“
Hiergegen spricht Granovetters Idee der Embeddedness von wirtschaftlichem Verhalten — Reziprozität wird über schwache Verbindungen auch zwischen entfernteren Akteuren sichergestellt. Auch vermittelte und schwache Verbindungen tragen einen Ruf weiter. Fehlverhalten, nicht eingehaltene Reziprozität würde sich auf Dauer geschäftsschädigend auswirken (vergl. Granovetter 1985 ).
Das Argument stimmt nicht unbedingt für alle Situationen (auch hier ist die Beziehung die intervenierende Variable): Obgleich es seltener vorkommt findet man auch so etwas, wie bewusstes „Nichtgrüßen“. Auch dieses reproduziert Sozialität, allerdings in Form einer negativen Beziehung. Selbst bewusstem Wegschauen, um nicht Grüßen zu müssen, kommt eine Funktion im Beziehungsgefüge zu. Wegschauen kommt beispielsweise vor, wenn man sich nicht ganz sicher ist, ob die andere Person sich an einen selbst erinnert oder nicht — es kann also ebenfalls als eine Form, Reziprozität herzustellen angesehen werden.
An dieser Stlle ergibt sich ein Problem: Natürlich besteht eine Beziehung zwischen Fernfahrern, auch wenn die beiden, die im Restaurant aufeinandertreffen, noch nie miteinander Kontakt hatten. Diese Beziehung mag sogar relativ vielschichtig sein: 1. Solidaritätsbeziehung hinsichtlich externer Bedingungen, was sich z.B. an Streiks gegen zu hohe Spritkosten manifestieren kann. 2. Konkurrenzbeziehung — egal ob die Fahrer selbstständig sind oder nicht, so konkurrieren sie doch um Transportaufträge. 3. Eine imaginierte Beziehung hinsichtlich geteilter professioneller Kulturen und Verhaltensweisen.
Gegen eine individualistisch-rationale Auslegung solcher Verhaltenserwartungen spricht auch, dass sich die meisten Beteiligten nicht zuerst an Äquivalenzüberlegungen orientieren. Eine höhere Relevanz kommt wohl den gewohnten Formen des Austausches zu. Äquivalenzüberlegungen kommen erst dann ins Spiel, wenn der Austausch sehr einseitig wird.
Es lassen sich einige Ausnahmen von der Reziprozitätsregel feststellen. Immer dort, wo Ungleichheit ins Spiel kommt, ist die Reziprozitätsregel gefährdet: Zwischen Statusungleichen, Eltern-Kind, Erwachsenen und Kindern, aber auch zwischen Ost-und West vor der Wiedervereinigung. In diesen Fällen wird aber mit der Aussetzung diese Regel auch die Ungleichheit erneut betont.
Etwa Iring Fetscher (1972), von dem es anekdotisch heißt, er habe sich die Zeit in langatmigen und langweiligen Gremiensitzungen an der Universität mit dem Schreiben, bzw. der Interpretation von Märchen vertrieben. Darüber hinaus liefert die Märchenforschung noch heute wesentliches Anschauungsmaterial für anregende methodische und wissenschaftstheoretische Diskussionen, wie nicht zuletzt das Bändchen von Hans Traxler (1963) über Hänsel und Gretel und die Behandlung des Lebkuchenrezeptes zeigt.
Vor allem, wenn man unterstellt, dass Hans nach seinen Jahren als Müllersgehilfe in einer weltabgelegenen Gegend nicht über die entsprechenden Informationen verfügte, welche ihn über den wahren Tauschwert seiner Güter unterrichtet hätte. M.a.W. man könnte sagen, er handelte rational, allerdings unter der Bedingung einer „bounded rationality“ (Simon 1993 ).
Gerade an der Börse zeigt sich, dass wirtschaftliches Handeln nicht viel mit rationalen Erwägungen zu tun hat: Das, was an einem Tag als Begründung für den Anstieg der Kurse herhalten muss, wird am nächsten Tag als Ursache für die Verbilligung der Aktien angegeben. „Herdentrieb“, „Hysterie” und „Phantasie“ bezeichnen die Aktionen der Beteiligten wohl weit treffender.
In einer Mailingliste werden alle eingehenden Nachrichten an einen genau definierten Teilnehmerkreis automatisch durch ein Programm weitergeleitet. Um an einer solchen Liste teilzunehmen, ist eine Einschreibung erforderlich. Die Listen sind meist um ein Thema herum organisiert — hierzu wird zwischen den Teilnehmer diskutiert, Fragen gestellt und beantwortet, aber auch Informationen übermittelt. Für nähere Betrachtungen zu Mailinglisten, siehe Stegbauer (2001).
Inwieweit „reine“ Geschenke vorkommen, kann als umstritten gelten. Durch die Erwartungs-Erwartung werden reine Geschenke zumeist in der Beziehung in „normale” Gaben transformiert, indem sich der Beschenkte jenseits der Intention des ursprünglichen Gebenden zu einer Rückzahlung verpflichtet fühlt.
Geld gilt als generalisiertes Austauschmedium, denn man kann im Gegensatz zum Tauschhandel fast immer und überall mit Geld für fast alle wirtschaftlichen Leistungen bezahlen. Es ist in der Lage als Ersatz für fast alle Güter herzuhalten und wird selbst dort eingesetzt, wo die Sache eigentlich unbezahlbar ist, etwa als Ausgleich für irreparable gesundheitliche Beeinträchtigungen, als sog. „Schmerzensgeld“ nach einem Unfall.
Als unmoralisch gelten aber auch offensichtlich zu hohe Zahlungen an scheidende Industriemanager, etwa die Zahlung an den ehemaligen Mannesmann-Chef Esser, nachdem seine Firma von Vodaphone übernommen wurde. Auch die Zahlung von 200 Millionen Euro an den Vorstandschef der schwedischen ABB gehört in diese Kategorie. Solche Summen stimmen die Beobachter skeptisch — es ist zu fragen, mit welchen Leistungen ein Einzelner solches Einkommen verdienen kann.
Überschär Vogel (1999: 14): „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, sagt ein Sprichwort. Und große? Führen sie zu Abhängigkeit, Bindung, Verpflichtung oder gar zu Korruption? Nach den Regeln und Ritualen des Schenkens an mittelalterlichen Höfen beruhte die Gabe im besonderen Maße auf Reziprozität. Im Unterschied zum ökonomischen Austausch von Waren war die vom Geber erwartete Gegenleistung nicht unbedingt gleichfalls ein Geschenk, sie konnte auch aus Ehre, Anerkennung, persönlicher Bindung und Verpflichtung bestehen. Aus dem höfischen System des Schenkens entwickelten sich später Dimensionen, die im 18. und 19. Jahrhundert auch die Form von Verschwendung und Korruption annahmen.“
Kreutz behandelt die Schilderung als Hinweis auf die „wertrationale“ Grundlage des Marktes. Er betont dabei, dass, um marktmäßigen, rationalen Tausch zu ermöglichen, zunächst über Reziprozitätssysteme eine soziale Integration der Akteure hergestellt werden müsse. Der Markt mit seinem rationalen Austausch schaffe jedoch die soziale Integration mit ihren im Verhältnis zur Marktrationalität irrationalen Austauschformen ab: Damit beraube er sich selbst seiner Basis.
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Stegbauer, C. (2002). Direkte Reziprozität. In: Reziprozität. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97106-7_3
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