Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, literarische Mehrdeutigkeit zu akzeptieren.1 Sie beschäftigt sich mit einer bisher nicht untersuchten Seite des „Mann ohne Eigenschaften“ (im folgenden abgekürzt als MoE) und spürt innerhalb Musils nicht abgeschlossenem Roman vorrangig den Beziehungen, Korrespondenzen, Bewegungen und Konstellationen nach, die sich unter dem Begriff „Verkehr“ subsumieren lassen.
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Literatur
Mancher wird fragen: Welchen Standpunkt nimmt denn nun der Autor ein u[nd] welches ist sein Ergebnis? Ich kann mich nicht ausweisen. Ich nehme das Ding weder allseitig (was unmöglich ist im Roman), noch einseitig; sondern von verschiedenen zusammengehörigen Seiten [V,1937].“ Zur Zitier-weise: Zitiert wird im folgenden nach: Robert Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek 1978. Die römische Zahl gibt den Band an, die arabische (falls ihr ein Komma vorangeht) die Seite oder das Kapitel (falls sie auf einen Punkt folgt). Entstammt das Zitat den Tagebüchern Robert Musils (hrsg. Adolf Frisé, Reinbek 19832) so steht dem Seitenhinweis das Kürzel TB nebst einer Bandangabe voran, im Falle eines Briefzitats wird das Kürzel B verwendet. Jegliche Kursivierung sowie alle eckigen Klammern stammen, sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, vom Autor der vorliegenden Arbeit. Anführungszeichen verweisen im folgenden auf wörtliche Zitate und Schulterminologien, einfache Anführungsstriche auf Formulierungen, die in Ermangelung besserer Alternativen verwendet wurden. Die Kursivierung dient zum einen der generellen Herausstellung, wird aber zuweilen auch als Hinweis auf Mehrdeutigkeit eingesetzt.
In einer literaturwissenschaftlichen Veröffentlichung taucht der Verkehrsbegriff erstmals 1990 im Titel eines Sammelbandes zum Oeuvre Franz Kafkas auf, allerdings bleibt er dort explizit beschränkt auf die Schrift (Kittler/Neumann 1990). Innerhalb der Musilforschung wird das Nomen erstmals bei Meisel 1991a verwendet, die damit verbundene Überführung von Literatur in Naturwissenschaft wird in dieser Arbeit allerdings abgelehnt und der Verkehrsbegriff im folgenden mit generell konträrer Ausrichtung benutzt. Am nahesten kommt der hier vorgeschlagenen Begriffsverwendung
Dieses Zitat sowie alle weiteren Bestimmungen zur Wortgeschichte innerhalb dieser Einleitung entstammen Grimm 1956: 12. Bd, I. Abteilung, S. 625–35.
In seinen Tagebüchern hebt Robert Musil im Zusammenhang mit seinem eigenen Schreiben deutlich hervor: “Mehrdeutige Welten sind denkbar.” [TB I,819 und TB 1,839] Eine lapidare Äußerung ähnlicher Tendenz findet sich auch im Nachlaß: “Übrigens kann man in der Kunst von allem auch das Gegenteil tun [V,1941].”
Robert Musil selbst sah den Sinn seiner künstlerischen Tätigkeit programmatisch darin, “Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt zu geben”. Das geht zumindest aus der Schlußbemerkung Robert Musils in einem Interview mit Oskar Maurus Fontana hervor, welches am 30.04.1926 in der Zeitschrift “Die Literarische Welt, (2), Nr. 18, erschienen ist. [VII,942]. Bereits um diese Selbsteinschätzung auf ihre Angemessenheit zu überprüfen, wäre es notwendig, den MoE nicht nur bezüglich seines Inhaltes, sondern vor allem bezüglich der ästhetischen Organisation seines sprachlichen Materials zu untersuchen, um mit dem aufzuzeigenden Verhältnis beider, einer Beurteilung überhaupt erst eine Grundlage zu verschaffen.
Vor knapp zwanzig Jahren konnte Jochen Hörisch, damals noch in expliziter Zustimmung zu Habermas “[v]orbereitende[n] Bemerkungen zu einer Theorie des kommunikativen Handelns”, umstandslos reklamieren: “Die Sicherung des Anspruchs reiner Zuständlichkeit und Selbständigkeit ist der Wahrheitsgehalt des Romans. Seine Sachgehalte (z.B. psychoanalytische Theoreme) dürfen hinter dem Stand einzelwissenschaftlicher Einsichten nicht zurückfallen, wenn der erkenntnistheoretische Anspruch des Romans sich nicht selbst dementieren will. Umgekehrt aber insistiert er auf seiner genuinen Leistung, daß eine Verständigung über den Anspruch von Sachgehalten nur möglich ist unter der Bedingung einer gleichzeitigen Metakommunikation, die den Wahrheitsgehalt des Romans ausmacht.” (Hörisch 1975: S. 361) Ähnlich rigoros auch die folgende Äußerung: “Damit verweist [Ulrich…] die Möglichkeitsbedingung jener narzißtisch-inzestuösen Selbständigkeit, die seinen aporetischen Autismus zur Selbständigkeit verhält, auf ein Drittes, auf ein Medium. Erst dieses Medium vermag über die Angemessenheit von Ansprüchen eines Sachgehaltes zu entscheiden; und der Ulrich wie Agathe umfassende Zustand, der Autonomie erst ermöglichen kann, ist der ästhetische.” (ebenda, S. 360) Derartige sprechakttheoretisch abgefederte Unterstellungen einer Schiedsrichterfunktion sind von der neueren Literaturwissenschaft inzwischen eingehend kritisiert worden. Dementsprechend soll in der hier vorliegenden Arbeit vorrangig darüber nachgedacht werden, ob Musil, anstatt zu “insistieren” bzw. zu “entscheiden”, nicht vielmehr grundlegende Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten von “Wahrheitsgehalten” stellt und welche Konsequenzen dies für die Identität des Romanes haben könnte.
Zahlungsverkehr und Technik gehören im Gegensatz zu Fühlen, Denken, Sprechen und Bewegen nicht zur anthropologischen Grundausstattung.
I,34 führt dazu aus: “Denn nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort [in Kakanien] bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an.” Ebenso deutlich wird auf II,513 von einem “atmosphärisch verteilten, zwischen allen Geschöpfen schwingenden Haß” gesprochen, “der für die gegenwärtige Zivilisation so kennzeichnend [sei] und die vermißte Zufriedenheit mit dem eigenen Tun durch die leicht erreichbare Unzufriedenheit mit dem der anderen ersetz[e].”
Diese etwas umständliche Formulierung trägt dem Faktum Rechnung, daß Robert Musil 1937/38 zwanzig Kapitel [IV.39–58] zum Druck freigab, in den Korrekturfahnen indes weiterbearbeitete und letztlich wieder zurückzog.
Die volle Evidenz der nun folgenden Ausfiihrungen entwickelt sich selbstredend erst mit Lektüre der jeweiligen Kapitel. Seine Legitimation findet der hier vorliegende Problemaufriß allerdings in seiner Funktion, vermeidbare Mißverständnisse von vornherein auszuräumen.
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Schreiter, E. (1994). Einleitung. In: Verkehr bei Robert Musil. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97056-5_1
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