Erläuterungen zur psychoanalytischen Deutungskunst — Die Konstruktion der Wirklichkeit

Zusammenfassung

„In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor sich als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt“ (Freud, 1916/17, S.9; Hervorh. W.L.). Gemeint ist, es finden keine körperlichen Untersuchungen statt wie üblicherweise sonst in der ärztlichen Praxis. Die direkten Handlungen zwischen Analysand und Analytiker beschränken sich auf eine Reihe von Gesten, ein Händeschütteln, ein Nicken des Kopfes, ein Lächeln. Strikt vermieden werden alle Kontakte außerhalb der Sitzungen, wie gemeinsames Kaffeetrinken, Waldspaziergänge (ich nenne sie, weil mich gerade darum eine Patientin anflehte, um — wie sie meinte — literarische Themen miteinander zu erörtern). Strikt zu vermeiden sind sexuelle Begegnungen. Warum nehmen es die Analytiker mit diesen Regeln so ernst, Regeln, die man unter der Überschrift Abstinenz zusammenfaßt? Sie haben einen einfachen Grund. Alle Ereignisse der genannten Art schaffen Fakten, welche die Entfaltunsg der freien Assoziation beim Analysanden beeinträchtigen, womit das Ins-Spiel-Treten derjenigen Determinanten, die seinen Wünschen und Absichten zugrunde liegen, verschleiert oder unmöglich gemacht wird. Gerade diese Determinanten möchte der Analytiker kennenlernen und gemeinsam mit seinem Analysanden studieren. Sie geben Aufschluß über „geheime“, „unbewußte“ Motive (Freud, 1895, S. 298), denen bekanntlich eine so entscheidende Rolle bei der Entwicklung ‚neurotischer‘ Phänomene zukommt.

„Eine Psychoanalyse ist eben keine tendenzlose wissenschaftliche Untersuchung, sondern ein therapeutischer Eingriff; sie will an sich nichts beweisen, sondern nur etwas ändern“

(Freud, 1909, 339).

„...daß jedes Paar von Geschäftspartnern seine eigene Sprache entwickelt“

(Hacking, 1990, 231).

Die Hsfveöffentkidmng dieser am 6.11.1992 m der Joalmn Wolfgang Goethe-Univeisittät, Frankfurt a.M., gehaltenen Sigmund-Freud-Vorlesung erfolgte in der Zeitsdrrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, VIII, 1993, 2. Mit fre ndlidier Genehmigung der Redaktion drucken wir eine leicht veränderte Fassung ab.

Siehe zu dieser Thematik: Loch, 1966, Loch, 1969, Loch und Jappe, 1973, Loch, 1988 sowie insbesondere Loch, 1993.