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Zur Genealogie der theoretischen Klammer

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Reden zwischen Engel und Vieh
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Zusammenfassung

Was die Philosophie des 18. Jahrhunderts mit dem Begriff ‚Empfindung‘ bezeichnete und als subjektabhängige und subjektive Wahrnehmung oder als lediglich subjektives Konnotat einer Wahrnehmung begriff, ist inhaltlich Sediment einer Sozialisation, die meist nicht das sich selbst objektivierende, rational kalkulierende und entscheidende Subjekt zum Ziel hat, sondern die jeweilige und je spezifische Einfügung des Individuums in traditionelle Rollen und Formen, ständische Differenzierungen und praktische Handlungsmuster. Deren Gesamtheit definiert ein komplexes gesellschaftliches Gebilde mit komplizierten Strukturen und Interdependenzen, die das Urteil des Einzelnen prägen und noch seine scheinbar willkürlichen und unvernünftigen Handlungen in den Gesamtzusammenhang — mit der Freiheit seiner ‚Spielräume‘ — einpassen. Seine spezifischen Rollen- und Handlungsmuster werden nicht theoretisch definiert, sondern in Traditionen praktisch vermittelt: entweder — doch nur zum geringeren Teil — in Institutionen oder in ständischen und lokalen Sitten und Gebräuchen, die freilich, wenn sie je geschlossen und völlig stabil waren, zumindest zu Beginn der Neuzeit schon bedroht und teilweise zerstört sind durch den Zugriff der rationalen Ökonomie und ihrer Episterne mit ihren politischen und sozialen Folgen. Diese Tradition ist in gewisser, aus der Perspektive des Totalitätsanspruchs der Wissenschaft retrospektiv interpretierter Weise sprachlos — doch besagt dies nicht, daß sie keinen Ausdruck gefunden hätte, im Gegenteil: Sie hat viele, differente Formen des Ausdrucks, aber keine einheitliche Sprache, kein ‚System‘, das die Interdependenzen der verschiedenen Ebenen als Funktionen einer Ebene der ‚Wahrheit‘ erscheinen ließe und die verschiedenen Formen als Modi einer Semantik und als Funktionen einer Grammatik eineindeutigen Urteilens auswiese.

Das Geheimherz der Uhr

Elias Canetti

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Literatur

  1. Die theoretische Arbeit fand nicht nur in einem diskreten sozialen Raum — intra muros — statt und war in der Technik ihrer Wahrheitsfindung auf die vita contemplativa und damit auf die Exklusion der Notwendigkeiten kreatürlicher Praxis angewiesen — also auf Distanz zu der säkularen Welt; sie beruhte auch auf einem kanonischen Text, den zu lesen und zu verstehen dem in die Lebenswelt verstrickten Laien unmöglich war. Die Kompetenz des idiota ist ein Theorem der Renaissance.

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  2. Dies gilt schon für den aristotelischen Begriff, so man das Entstehen der Philosophie aus der Erschütterung und Infragestellung ehemals selbstverständlicher Traditionen in der Polis begreift.

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  3. Vgl. bes.: Erwin Panofsky. Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1975; u.: Ders. Gothic Architecture and Scholasticism. Latrnpe 1951. Zur französischen Ausgabe ersterer Schrift (Paris 1967) schrieb Bourdieu ein Nachwort (Unter dem Titel Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis separat veröffentlicht in: Pierre Bourdieu. Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a. M. 1974), in dem er seinen Habitusbegriff mit dem Panofskyschen fast zu identifizieren scheint. Dagegen ist zu beachten — und wird im Folgenden thematisiert werden —, daß der Bourdieusche Begriff über eine komplexe Sprachtheorie vermittelt ist.

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  4. Obwohl Bourdieu sich mit der Heideggerschen Philosophie in einer für die eigene Methode exemplarischen Analyse sehr kritisch und ablehnend auseinandersetzt (Pierre Bourdieu. Die politische Ontologie Martin Heideggers. Frankfurt a. M. 1988. Überarbeitete Neuausgabe einer gleichnamigen Studie von 1975.) beruht seine Theorie doch sowohl in ihrer Insistenz auf der faktischen Primordialität einer historisch begriffenen gesellschaftlichen Praxis, als auch in der Anerkennung der Abkünftigkeit ihrer diskursiven Repräsentanz auf genuin Heideggerschen Theoremen. Transponierte man dessen Terminologie, so könnten die folgenden Befunde auch bei Bourdieu stehen: „Das Man ist ein Existenzial und gehört als urspüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins. Es hat selbst wieder verschiedene Möglichkeiten seiner daseinsmäßigen Konkretion. Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit seiner Herrschaft können geschichtlich wechseln.“ (Martin Heidegger. Sein und Zeit. Tübingen ”1979 S. 129/Hervorhebung im Original); „Das Man entlastet [...) das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit“ (Heidegger, Sein, S. 127/Hervorhebung im Original). Ihre Wertung jedoch sind strikt entgegengesetzt: Während bei Heidegger die Weltlichkeit der Subjekte ein Negativum darstellt, das der Philosoph in der Reflexion auf das Sein zu transzendieren hat (— und dabei gleich die,Reflexion’ selbst transzendiert), gilt dieser Impetus Bourdieu als Attitude, die der Philosophie durch ihre bedrohte Stellung in der aktuellen Gesellschaft suggeriert wird und damit als abkünftiger Modus der Weltlichkeit ihrer Vertreter selbst. Dabei bedient er sich eines Verfahrens, das er verschiedentlich Heidegger vorwirft: Er radikalisiert die Heideggersche Position, indem er das letzte Refugium emphatischer Wahrheit bei Heidegger — die Sprache als,Haus des Seins’ — ver-wüstet und dem so ent-wurzelten Landgänger ein Appartment auf dem Campus zu-weist.

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  5. Der prinzipielle Unterschied zwischen der Bourdieuschen und der Heideggerschen Position ist im Grunde die Folge differenter semantischer Prämissen: Während bei Heidegger das Wort die mimetische Repräsentation einer Praxis darstellt — also substanzielle Entität ist —, beruht der Bourdieusche Ansatz auf strukturaler Sprachtheorie, welche die semantische Entität als Repräsentation eines funktionalen Wertes begreift, der sich nicht im Begriff, sondern im System begrifflicher Oppositionen wiederspiegelt. Ein Teil der Attraktivität Heideggers (besonders in Frankreich) mag darin liegen, daß seine Philosophie — fälschlicherweise — diesem semantischen Paradigmenwechsel ein ontologisches Fundament zu geben scheint.

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  6. Pierre Bourdieu. Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a. M. 1979.

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  7. Z. B. in:Bourdieu, Soziologie.

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  8. Pierre Bourdieu. Strukturalismus und soziologische Wissenschaftstheorie. In: Bourdieu, Soziologie, S. 7–41 bes. S. 17. In der,Theorie der Praxis’ charakterisiert Bourdieu am Beispiel der Ethnologie die allgemeine Perspektive des unengagierten Erkenntnissubjekts rationaler Theorie: „Zweifellos kommt auch der Begeisterung für die Tugenden der Distanz, die die Exterritorität erzeugt, die Funktion zu, die objektive Situation des Ethnologen — des,unparteiischen Beobachters’, wie Husserl formuliert —, die ihn dazu verführt, jede Realität und jede Praxis, einschließlich seiner eigenen, wie ein Schauspiel zu erfassen, in eine epistemologische Entscheidung zu verwandeln. (...) Es ist bezeichnend, daß man die,Kultur’ zuweilen wie eine Landkarte beschreibt: ein Vergleich, der sich am Vorgehen eines Fremden ausrichtet, der, da ihm die praktische Beherrschung fehlt, die allein der Einheimische aufweist, mittels eines Modells aller möglichen Wegstrecken das ihm zur Orientierung Fehlende sich hinzudenkt: Der Abstand zwischen diesem virtuellen und abstrakten, weil jeder privilegierten Orientierung und jeden privilegierten Zentrums ermangelnden Raum — ähnlich der Genealogie mit ihrem Ego, das nicht minder irreal ist als der Ursprung in einem cartesianischen Raum — und dem praktischen Raum der wirklich durchmessenen Strecken oder, besser, des im Zuge des Geschehens sich realisierenden Streckenverlaufs läßt sich an der Schwierigkeit ablesen, auf die wir, uns vertraute Wege auf einer Karte oder einem Plan suchend, so lange stoßen müssen, wie es uns nicht gelungen ist, die Achsen des virtuellen Systems mit jenem, wie Poincaré sagte,,System von unabänderlich an unseren Körper gebundenen Achsen, das wir allenthalben mit uns herumtragen und das den praktischen Raum (...) strukturiert, zur Deckung zu bringen. (...) Erkenntnis hängt nicht nur, wie der elementare Relativismus lehrt, von dem besonderen Standpunkt ab, den ein,nach Raum und Zeit festgelegter’ Beobachter gegenüber dem Gegenstand einnimmt, sondern auch davon, daß er als Betrachter, der gegenüber dem Handelnden einen Standpunkt einnimmt, der sich zurückzieht, um es zu beobachten, um es aus der Entfernung und von oben in Augenschein zu nehmen, die praktische Tätigkeit zum Gegenstand der Beobachtung und der Analyse macht. [...) Der absolute Standpunkt einer standpunktlosen Wissenschaft ähnelt darin dem eines Leibnizschen Gottes, der, einem General gleich, der die militärisch der Regel unterworfenen Aktionen seiner Untergebenen im vornherein beherrscht, in actu jene Essenz besitzt, die Adam und Cäsar sich allererst in der Zeit aneignen müssen. Stets schließt der Objektivismus einen virtuellen Essentialismus ein.“ (Bourdieu, Entwurf, S. 141f. /Hervorhebung im Original)

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  9. Bourdieu, Entwurf, S. 208. Bourdieu unterscheidet zwischen „phänomenologischer Erkenntnis“ und „objektivistischer Erkenntnis”; erstere versucht ihren Gegenstand in naiver Intuition zu erfahren, sie „expliziert die Wahrheit der primären Erfahrung mit der sozialen Welt, d. h. das Vertrautheit.verhältnis zur vertrauten Umgebung. Sie begreift die soziale Welt als eine natürlich und selbstverständlich vorgegebene Welt, sie reflektiert ihrer Definition nach nicht auf sich selbst und schließt im weiteren die Frage nach den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit aus.“ (Bourdieu, Entwurf, S. 147/Hervorhebung im Original) Damit wird jede Frage nach der notwendigen strukturellen Isomorphic von Gegenstand und Verstehen, also jene nach der Adäquatheit der impliziten Erkenntnismethodik, ausgegrenzt: „Das unmittelbare,Verstehen’ setzt ein unbewußtes Verfahren der Entschlüsselung voraus, dem nur dort voller Erfolg beschieden ist, wo die Kompetenz beider: desjenigen, der sie in seiner Handlung oder seinem Werk verwirklicht, und desjenigen, der sie in seiner Wahrnehmung dieses Handelns oder dieses Werkes objektiv einsetzt, zur Deckung kommt; mit anderen Worten dann, wenn die Verschlüsselung als Transformation eines Sinnes in eine Praxis oder in ein Werk mit dem systematische Verfahren der Entschlüsselung zusammenfällt.” (Bourdieu, Entwurf, S. 152) Während diesem Verfahren im Falle des Fremdverstehens der Sinn einer Handlung undurchsichtig bleiben muß, da seine kontextuellen und prinzipiellen Determinanten nicht exponiert werden können, verliert die objektivistische genannte Erkenntnisweise die Kategorie des Sinnes selbst aus dem Blickfeld, weil sie lediglich den Vollzug exponierter Systematik konstatieren kann: „Die hier objektivistisch genannte Erkenntnisweise (wovon die strukturalistische Hermeneutik nur einen Sonderfall bildet) erstellt die — gewöhnlich ökonomischen oder linguistischen — objektiven Beziehungen, die die verschiedenen Praxisformen und deren Repräsentationen, d. h. im besonderen die praktische und stillschweigende primäre Erfahrung der vertrauten Welt strukturieren — freilich um den Preis eines Bruchs mit dieser primären Erfahrung, folglich mit den stillschweigend übernommenen Voraussetzungen, die der sozialen Welt ihren evidenten und natürlichen Charakter verleihen: In der Tat vermag die objektivistische Erkenntnis sowohl die objektiven Strukturen der gesellschaftlichen Welt wie die objektive Wahrheit der primären Erfahrung, der eine explizite Erkenntnis dieser primären Strukturen mangelt, nur unter der Bedingung zu erstellen, daß sie jene Frage stellt, die die doxische Erfahrung der primären Welt per definitionem ausschließt: die nach den (besonderen) Bedingungen dieser Erfahrung selber.“ (Bourdieu, Entwurf, S. 147/Hervorhebung im Original)

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  10. A. a. O., S. 210.

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  11. A. a. O., S. 148.

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  12. A. a. 0., S. 147/Hervorhebung im Original.

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  13. Vgl. Pierre Bourdieu. Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M. 1978.

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  14. Bourdieu, Entwurf, S. 165.

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  15. A. a. O., S. 167/Hervorhebung im Original.

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  16. A. a. O., S. 296.

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  17. Ebd. /Hervorhebung im Original.

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  18. Der Habitus ist „nichts anderes als dieses durch die primäre Sozialisation jedem Individuum eingegebene immanente Gesetz, /ex insita das nicht nur die Voraussetzung der Übereinstimmung der Praxis(formen), sondern auch die Voraussetzung der Praxis der Übereinstimmung darstellt.“ (A. a. O., S. 178/Hervorhebung im Original, vgl. a. a. O., S. 181.)

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  19. Vgl. a. a. O., S. 153, 171, 264.

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  20. A. a.O., S. 179.

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  21. Diese können sowohl sozial differenziert sein als auch — und darauf legt Bourdieu besonderen Wert, da hier eine konstitutive Differenz zur Simultaneität des Kalküls vorliegt (vgl. Bourdieu, Entwurf, S. 217ff.) — in einem zeitlichen Zyklus verortet.

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  22. Bourdieu spricht davon, daß „die Individuen eher vom Habitus besessen sind, als daß sie ihn besitzen, [...) deshalb weil sie ihn nur so weit besitzen, wie er in ihnen als Organisationsprinzip ihrer Handlungen wirkt, d. h. auf eine Weise, deren sie symbolisch schon nicht mehr habhaft sind.“ (Bourdieu, Entwurf, S. 209; vgl. Bourdieu, Soziologie, S. 154)

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  23. Bourdieu, Entwurf, S. 166.

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  24. Pierre Bourdieu. Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. In: Bourdieu, Soziologie, S. 125–158.

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  25. Der Habitus gehört zu den Relativa menschlicher Existenz, er stellt eine Qualität dar, die sich im Verhältnis des Subjekts zum jeweiligen Gegenstand ausdrückt (vgl. Aristoteles, Kategorien, 7, 6bf.). Im Unterschied zum Habitus ist die verwandte,Disposition’ eher flüchtig und okkasionell: „Der Habitus unterscheidet sich von der Disposition dadurch, daß er von längerer Dauer und bleibender ist. Von solcher Art sind die Wissenschaften und die Tugenden.“ (A. a.O., 8, 8b) In dieser Definition als Möglichkeit und Resultat individueller Praxis findet der Begriff Eingang in die Tradition stoisch-rhetorischer Philosophie: „Habitus constantem et absolutam aliqua in re perfectionem [...J non natura datam, sed studio et industria partam.” (Cicero, De Inventione, 1, 36)

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  26. Vgl. J. Auer/ N. Seelhammer. Art. „Habitus“ in: Lexikon Theologie und Kirche.

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  27. Ebd.

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  28. Zugleich ändert sich der Status der Logik; sie bewegt sich in Richtung eines reinen Formalismus und zur mathematischen Logik als Lehre von den Wahrheitsbedingungen der Schlußformen. Da sie als solche das Gerüst jeder wissenschaftlichen Methodik liefert, kann die Diskussion über den Status der Logik, die in der frühen Neuzeit, wie gezeigt wird, interdependent ist mit der Diskussion des Habitus-Begriffs, paradigmatisch für die Genese des Selbstverständnisses methodisch-wissenschaftlicher Vernunft interpretiert werden. Dabei erscheint die Psychologisierung der Logik in der klassischen intentionalen Logik nicht mehr als finsteres Zwischenspiel, sondern als notwendige Bedingung der praktischen Expansion ihres Geltungsanspruchs als formaler Instanz der Überprüfung diskursiver Wahrheit und gleichzeitig als Abkehr vom hybriden metaphysischen Wahrheitsanspruch,scholastischer’ SchluBtechniken, der in der Naturalisierung ihrer semantischen Entitäten begründet worden war.

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  29. Zwar trennt die Paduaner (averroistischen) Aristoteliker, wie Jürgen Mittelstrass betont, das Fehlen quantitativer Bestimmung von der Nuova Scienza, die Galilei inaugurieren wird, doch übernimmt dieser aus der Paduaner Schule — er lehrt selbst von 1592–1610 in Padua — das resolutiv-kompositive Beweisverfahren, ein Kernstück wissenschaftlicher Methode (vgl. MittelstraB, Neuzeit, S. 185. Zur logischen Struktur der Methodenlehre der Paduaner Schule vgl. Wilhelm Risse. Logik der Neuzeit. Bd. 1: 1500–1640. Stuttgart-Bad Canstatt 1964 S. 278ff.).

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  30. A. a. 0., S. 276/Hervorhebungen im Original. Risse fährt fort und charakterisiert damit en passant am Ort seiner Entstehung ein Grundproblem neuzeitlicher Philosophie, welches sich aus der unaristotelischen Identifizierung inhaltlich-praktischer Erkenntnis mit den Notwendigkeiten ihrer methodischen Darstellung ergibt: „Letztere, zu denen auch die Logik zählt, unterliegen nicht den realen Sachbedingungen und gehören nicht als Gegenstandslehre in die Metaphysik, sondern in die Begriffslehre als Verfahrensweise der sachbezogenen Disziplinen. Die habitus-Lehre ist also im doppelten Sinne ein wissenschaftstheoretisches Problem der Logik, sofern einmal die habitus nach logischem Verfahren darzustellen sind und zum andern die Logik selbst den habitus unterliegt. Denn bedürfen die habitus formal der logischen Methoden zu ihrer begrifflichen Ordnung, so ist die Logik ihrerseits Material des durch die habitus repräsentierten gegenständlichen Inhalts. Namentlich der grundlegende, wenn auch praktisch nur selten eigens benutzte habitus die intelligentia als das,innere Auge der Seele’, bedingt das theoretische Verständnis der Begriffe und Prinzipien. Dabei sind die wohl potentiellen, nicht aber aktuell angeborenen Prinzipien entweder als Vernunftwahrheiten aus dem denkbaren Wesen der Dinge oder als Erfahrungswahrheiten aus den Sinnesempfindungen gewonnen. In beiden Fällen aber sind die Prinzipien nicht aus anderen Prinzipien deduziert, sondern aus Singulärem induziert.“ (Risse, Logik, S. 276f.)

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  31. Logicam instrumentum esse philosophiae (...3 disciplinam instrumentalem seu habitum instrumentalem.“ (Jacobus Zabarella. De natura logicae I,2, Opera 1597, p. 21. Zitiert nach: Risse, Logik, S. 279)

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  32. Risse, Logik, S. 278.

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  33. Vgl. a. a. O., S. 279.

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  34. Vgl. a. a. O., S. 17.

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  35. Diese (notwendig) grobschlächtige Zusammenfassung subsummiert lediglich das Resultat eines differenzierten, langwierigen Prozesses mit wechselnden Parteien und Konjunkturen, dessen Verlauf in den entsprechenden Passagen des Risseschen Werks detailliert nachvollzogen werden kann. Hier seien nur noch zwei prägnante Positionen benannt: 1.) Selbst bei Franciscus Suarez, dem bedeutendsten Philosophen jesuitischer spanischer Neuscholastik, bildet der Habitus lediglich noch, wie Risse formuliert, „das subjektive Gegenstück zu den objektiv gültigen Prinzipien“ (a. a. O., S. 397). 2.) Letztendlich aus dem Feld der Wissenschaft verwiesen wird der Habitus zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der endgültigen Etablierung des Systembegriffs durch Bartolomäus Keckermann (vgl. a. a. O., S. 440ff.; vgl. Stephan Otto. Renaissance und frühe Neuzeit. (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung Bd 3.} Stuttgart 1984 S. 46ff.).

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  36. Vgl. Bourdieu, Entwurf, S. 362ff.; Otto, Renaissance, S. 72ff u. Walter J. Ong. Ramus. Method or the Decay of Dialogue. Cambridge/Mass. 1958, 149ff. In diesen Kontext gehört die Insistenz auf sapientia oder prudentia als Formen praktischer Klugheit im Gegensatz zur scientia, dem theoretisch-methodischen Wissen. Die Opposition bleibt freilich unscharf und wird z. B. bei Vico gegen die mathematische Wissenschaft cartesianischer Prägung selbst ausgespielt. In der Bewegung neuzeitlichen Denkens, das in einer antispekulativen Wendung zur Praxis einen Anfang fand, in einem praxeologisch reflektierten Aristotelismus aber sein konsistentes Gerüst, bleibt diese Opposition unaustragbar und wird zum je polemischen — ob affirmativen oder denunziatorischen — Korrektiv zwischen den präskriptiven Zwängen systematischer Konsistenz und dem Imperativ,vorurteilsfreier’ Offenheit der Praxis.

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  37. Davon zeugen die Versuche zu,wissenschaftlicher’ Physiognomik, ihr notwendiges Scheitern und ihre schrecklichen Resultate ebenso wie die unverständige pauschale Denunziation typlogischer Ordnungskategorien als praktischer Orientierungsparameter. Ironischerweise ist das positivistische Residuum der Physiognomik als sedimentiertet Pathognomik und Praxis des Subjekts via Individualgeschichte wieder an einen impliziten Habitus-Begriff verwiesen; ein neuerer, semantischer Physiognom, Gert Mattenklott, bezeichnet die Charaktere seiner „Physiognomischen Essais“ als „Hilfsvorstellungen über gewisse Neigungen Reflexe und zum Habitus gewordene Strategien” (Gerd Mattenklott. Blindgänger. Physiognomische Essays. Frankfurt a. M. 1986 S. 13), doch er gibt die semantische Differenz wieder preis, wenn er die habituelle Physiognomik einem (post-)modernen Verdämmern der Charakterologie zuschlägt (vgl. a. a. O., S. 37) und damit unter der Hand einer,natürlichen’ Repräsentanz ex negativo das Wort redet (vgl. a. a. O., S. 35), die sich in der Physiognomik als schicksalhafter Typik niedergeschlagen haben soll. Solche Interpretation verwechselt,Schicksal’ mit,Charakter` (vgl. Walter Benjamin. Schicksal und Charakter. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäxser. Frankfurt a. M. 1980ff., Bd. II, 1, S. 171–178).

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  38. Ich habe als Ego eine fortwährend für-mich-seiende Umwelt, in ihr Gegenstände als für mich seiende, nämlich schon in bleibender Gliederung für mich als bekannte, oder nur antizipiert als kennenzulemende. Die ersteren, die im ersten Sinne für mich seienden, sind es aus ursprünglicher Erwerbung, das ist der ursprünglichen Kenntnisnahme, der Explikation des zunächst nie Erblickten in Sonderanschauungen. Dadurch konstituiert sich in meiner synthetischen Aktivität der Gegenstand in der expliziten Sinnesform,Identisches seiner mannigfaltigen Eigenschaften’, also als Gegenstand mit sich Identisches, als in seinen mannigfaltigen Eigenschaften sich Bestimmendes. Diese meine Aktivität der Seinssetzung stiftet eine Habitualität meines Ich, vermöge deren mir nun dieser Gegenstand als der seiner Bestimmungen bleibend zueigen ist. Solche bleibenden Erwerbe konstituieren meine jeweilige bekannte Umwelt mit ihrem Horizont unbekannter Gegenstände, das ist noch zu erwerbender, im voraus antizipiert mit dieser formalen Gegenstandsstruktur.“ (Edmund Husserl. Erfahrung und Urteil. Hamburg 1977 S. 69f.)

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  39. Vgl. a. a. O., S. 78.

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  40. Vgl. a. a. O., S. 82.

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  41. Die zentrale Bedeutung der Zeitlichkeit ist schon für Husserl — wie später auch Bourdieu — nicht in Begriffen der Kausalität, sondern der Narrativität als einer nicht-deterministischen Form zu denken: „Das Ego konstituiert sich für sich selbst sozusagen in der Einheit einer,Geschichte’. [...] Daß für mich eine Natur ist, eine Kulturwelt, eine Menschenwelt mit ihren sozialen Formen usw., besagt, daß die entsprechende Möglichkeit für mich besteht — als für mich jederzeit ins Spiel zu setzende, in gewissem synthetischen Stil frei fortzuführende, ob ich gerade solche Gegenstände wirklich erfahre oder nicht; in weiterer Folge, daß ihnen entsprechende andere Bewußtseinsmodi, vage Meinungen und dgl., Möglichkeiten für mich sind und daß ihnen auch Möglichkeiten zugehören, sie durch Erfahrungen vorgezeichneter Typik zu erfüllen oder zu enttäuschen. Darin liegt eine fest ausgebildete Habitualität — eine aus einer gewissen, unter Wesensgesetzen stehenden erworbene.“ (A. a. O., S. 78)

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  42. A. a. O., S. 106.

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  43. A. a. O., S. 136.

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  44. Vgl. Jacques Derrida. Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Frankfurt a. M. 1979; ders. ‚Genesis und Struktur’ und die Phänomenologic. In: Ders. Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976, S. 236–258.

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  45. Husserl 1972, S. 136f. /Hervorhebung im Original.

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  46. Vgl. Edmund Husserl. Cartesianische Meditationen. Hamburg 1977 S. 138f.

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  47. Husserl 1972, bes. S. 136ff.

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  48. Alfred Schütz. Das Problem der Relevanz. Frankfurt a. M. 1971; Alfred Schütz/ Thomas Luck-mann. Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1979 u. 1984.

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  49. Derrida bezieht sich in exponierter Weise auf ein Fragment Husserls, das 1939 von F. Fink unter dem Titel „Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem“ (Revue Internationale de Philosophie. Brüssel, 1.2 {1936}, S. 203–225) herausgegeben wurde. Es gipfelt im Befund lebensweltlicher Irreduzibilität der geometrischen Methode, welche diese selbst als habituellen Modus der Wahrnehmung bestimmt: „Die Deduktion in ihrem Fortschreiten folgt der formallogischen Evidenz, aber ohne das wirklich ausgebildete Vermögen der Reaktivierung der in den Grundbegriffen verschlossenen ursprünglichen Aktivitäten, also auch des Was und Wie ihrer vorwissenschaftlichen Materialien, wäre die Geometrie eine sinnentleerte Tradition, von der wir, falls uns selbst dieses Vermögen fehlte, nicht einmal wissen könnten, ob sie einen echten, wirklich einzulösenden Sinn hat und je hatte. Leider ist das aber unsere Situation und die der ganzen Neuzeit.” (Husserltana, Bd. 10, S. 376 )

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  50. Schütz, Problem, S. 88.

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  51. A. a. O., S.90.

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  52. Schütz/Luckmann, Strukturen, Bd. 1, S. 36.

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  53. A. a. O., S. 36.

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  54. Vgl. Schütz, Problem, S. 92ff.

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  55. Vgl. Husserl, Erfahrung; Schütz, Problem; Schütz/Luckmann, Strukturen; aber auch die Bemühungen der Anthropologie, z. B. Plessners und Gehlens, sowie insbesondere Maurice Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966 fallen darunter.

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  56. Vgl. Schütz/Luckmann Strukturen, Bd. 1, S. 113ff. u. 44ff.

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  57. Elmar Holenstein. Von der Hintergehbarkeit der Sprache. Frankfurt a. M. 1980 S. 31; vgl. Husserl, Erfahrung, bes. S. 20.

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  58. Bes. Husserl, Erfahrung, S. 171ff. u. 200ff.

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  59. 59) Vgl. Elmar Holenstein. Menschliches Selbstverständnis. Frankfurt a. M. 1985, S. 23; und von einem materialistischen Ansatz: Klaus Holzkamp. Sinnliche Erkenntnis. Königstein 1973.

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  60. Holenstein, Hintergehbarkeit, S. 65; Holenstein, Selbstverständnis, S. 28.

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  61. Schütz/Luckmann, Strukturen, Bd. 1, S. 224ff.

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  62. Auch der anthropologische Ansatz ist letztlich nicht in der Lage, mehr als formale Kategorien habituellen Wissens zu bestimmen. Er ersetzt — ohne die logische Grammatik des Verfahrens zu ändern — den physikalistischen erkenntnistheoretischen Atomismus der mathematischen Wissenschaft durch anthropometrische Kategorien, die den Anspruch ihrer Gültigkeit nur intuitiv und spekulativ behaupten können. (Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie;Jean Paul Sartre. Das Sein und das Nichts. Hamburg 1962 S. 422ff.; Holenstein, Hintergehbarkeit, S. 53ff. u. 57)

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  63. Vgl. Husserl, Erfahrung, S. 136ff.

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  64. Mit jedem Schritt ursprünglicher Erfassung und Explikation eines Seienden wandelt sich daher der Horizont des Erfahrbaren im Ganzen; neue typische Bestimmtheiten und Vertrautheiten werden gestiftet und geben den apperzeptiven Erwartungen, die sich an die Gegebenheit neuer Gegenstände knüpfen, ihre Richtung und Vorzeichnung.“ (Husserl, Erfahrung, S. 140)

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  65. Bourdieu betont den Unterschied solcher Schemata zu theoretischen Modellen: „{...J die nachträgliche Illusion, die in der Verwechslung von Schema und Modell gründet, läßt keine andere Wahl zu, als so zu tun, als ob die Repräsentation der Praxis mit der objektiven Wahrheit dieser Praxis übereingestimmt hätte, wobei das theoretische Modell dem expliziten Plan der sich gerade vollziehenden Handlung gleichgestellt wird, oder als ob die Praxis sich auf vollkommen unbewußte Weise auf der Grundlage des theoretischen Modells der sich gerade realisierenden Handlung reguliert hätte. Tatsächlich gibt das Schema,,das in die Handlung Ordnung trägt’, weder einen vorher bewußt entworfenen Plan, den es auszuführen genügte (...J, noch ein Unbewußtes wieder, das mechanisch die Handlung lenkt.“ (Bourdieu, Entwurf, S. 276) Sondern: „Die praktische Erkenntnis stellt ein praktisches Konstruktionsverfahen dar, das, durch den Bezug auf praktische Funktionen, Klassifikationssysteme (Taxonomien) ins Werk setzt, die die Wahrnehmung und das Denken organisieren, und der Praxis eine Struktur aufprägen. Durch die Praxis aufeinanderfolgender Generationen innerhalb eines bestimmten Typs von Existenzbedingungen geschaffen, funktionieren diese Wahrnehmungs-, Denk-und Handlungsschemata, die durch die Praxis erworben und in praktischem Zustand ins Werk gesetzt werden, gewissermaßen wie praktische Operatoren, vermittels derer die objektiven Strukturen, deren Produkt sie sind, sich zu reproduzieren trachte. Die praktischen Taxonomien: Werkzeuge der Erkenntnis und der Kommunikation, die die Hervorbringung des Sinns und die Herstellung des Konsensus über ihn bedingen, können nur strukturbildend werden, insofern sie strukturiert sind.” (A. a. O., S. 229) Bloße Beherrschung solcher Schemata ist dabei strikt zu unterscheiden von der nicht notwendigen Fähigkeit, sie symbolisch adäquat repräsentieren zu können. In jenem nichtobjektivierten Modus fallen sie, wie Bourdieu am Beispiel ritueller Praxis beschreibt, mit dieser selbst zusammen: „Ohne die symbolische Beherrschung der Schemata, die sie sind und ihrer Produkte, die sie machen können die Individuen den Produktionsapparat, der ihnen die konkret gebildeteten rituellen Praktiken hervorzubringen gestattet, adäquat nur beherrschen, indem sie ihn in Gang setzen.“ (A. a. O., S. 269/Hervorhebung im Original)

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  66. Die Reproduktion des Habitus ist als ganze nicht Resultat eines Kalküls, denn: „Der Habitus liegt [...) einer Aneinanderkettung von,coups’ zugrunde, die objektiv wie Strategien organisiert sind, ohne in irgend einer Weise das Resultat einer wirkliche strategischen Absicht zu sein“ (a. a. O., S.165). Zum spezifischen Zeitbegriff habitueller Praxis vgl. a. a. O., S. 217ff. u. 378ff.

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  67. Bourdieu spricht von einer „partiellen Koinzidenz der Bedeutungen“ (a. a. O., S. 298): „Gehen wir davon aus, daß in der Praxis jeweils nur ein bestimmter Sektor des Systems der Schemata mobilisiert wird (ohne daß damit jemals alle Verbindungen zu den anderen Gegensätzen vollkommen unterbrochen wären), und daß die in den verschiedenen Situationen eingesetzten unterschiedlichen Schemata partiell autonom und ebenso partiell mit allen anderen verbunden sind, so ist es nur normal, daß alle Produkte der zum Einsatz gebrachten Schemata [...) eine partielle Übereinstimmung aufweisen, und daß sie sich für jeden, der das System der Schemata praktisch beherrscht, als in groben Zügen, was nichts anderes heißt denn: praktisch äquivalent erweisen.” (ebd.) Diese praktische Äquivalenz erscheint der theoretischen Analyse als „Homologie“ (a. a. 0., S. 299), die implizit durch ein Quasi-Theorem „globaler Ähnlichkeit” (a. a. O., S. 250; vgl. 259), eine, wie Bourdieu im Rekurs auf einen stoischen Begriff formuliert, „sympathein ton holon“ — eine „Affinität aller Objekte des Universums” (a. a. O., S. 253) — gesichert ist. Diese Ähnlichkeit stiftet die Möglichkeit der Übertragung von Schemata, welche weder als Behauptung struktureller Identität, noch als,uneigentliche’ Metaphorisierung, sondern als ungefähres Raster praktischer Handhabbarkeit zu begreifen ist: „Statt sich immer nur auf einen Aspekt der Termini zu beschränken, die er verbindet, nimmt dieser Auffassungsmodus vielmehr einen jeden wie einen einzelnen Block und zieht damit soweit wie möglich aus der Tatsache Nutzen, daß zwei,Gegebenheiten’ sich niemals in allen Aspekten, wohl aber, wenigstens indirekt (d. h. über einen gemeinsamen Terminus) in einigen Aspekten ähneln.“ (A. a. O., S. 250/Hervorhebung im Original) Diese Ausführung erinnert nicht von ungefähr an die Definition der Metapher als verkürztem Vergleich mit implizitem tertium comparationis; Bourdieu versteht die rhetorische Figur als Reflex des Grundmechanismus habituellen Verfahrens (und des magischen als seiner quasi experimentellen Form) in systematisierter Semantik: „Was gemeinhin Metapher genannt wird, stellt nur ein Resultat unter anderen jener Obertragung von Schemata dar, die durch Anwendung praktischer Wahrnehmungs-und Handlungsschemata auf neuartige Be-. reiche neue Bedeutungen hervorbringen. [...) Auf diese Weise findet sich ein vollkommen strukturierter Geist in einen Kreislauf von Metaphern eingebunden, die sich wechselseitig unendlich reflektieren — und die Illusion der Objektivität, die der vollständigen Übereinstimmung der durch die Applikation der Kategorien erstellten Konstruktionen entspringt, wird, ebenso wie der entsprechende Glaube, durch die Tatsache verstärkt, daß das solchermaßen gebildete objektive Universum Objekte (Instrumente, Gebäude, Monumente etc.) enthält, die sich realen Orientierungsverfahren verdanken, welche sich in ihrem Vollzug von den gleichen Kategorien leiten lassen, mit dem auch jene Objekte erfaßt werden. Die Einverleibung der Objektivität ist demzufolge zugleich Verinnerlichung der Schemata wie Integration in die Gruppe, da das, was verinnerlicht wird, das Produkt der Entäußerung einer ähnlich strukturierten Subjektivität darstellt.” (A. a. O., S. 169f./Hervorhebung im Original) Die anthropologische Grundlage und das regulative Moment dieser Praxis sieht Bourdieu in der „Vergesellschaftung der Physiologie“, die „physiologische Ereignisse in symbolische verwandelt” (a. a.O., S. 199) und mittels einer Art „ursprünglicher Metonymie“ die Wirklichkeit strukturiert: „Pars totalir ist jede Körpertechnik dazu prädisponiert, entsprechend dem Paralogismus des pars pro toto zu fungieren, also das gesamte System, dessen Teil sie bildet, zu evozieren.” (A. a. O., S. 200/Hervorhebung im Original)

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  68. A. a. O., S. 269. Die „praktische Logik“ kann „praktisch eben nur funktionieren [...J, soweit sie sich gegenüber den elementaren Grundsätzen der logischen Logik so umfassende Freiheiten wie möglich herausnimmt: So geschieht es, daß ein und dasselbe Symbol sich auf gerade von der Axiomatik des Systems her gegensätzliche Realitäten beziehen kann, anders gesagt, daß innerhalb dieser Axiomatik das Faktum gelten gelassen werden muß, daß dieses System den Widerspruch nicht ausschließt.” (A. a. O., S. 296) Die praktische Logik repräsentiert nicht eineindeutig identische Sachverhalte, sondern appliziert Sachverhalten Erkärungsmuster, die je nach Situation, d. h. nach Ort und Zeit des Auftretens eines Sachverhaltes differieren können. Dies ist — in den Termini eines unausgetragenen Streites moderner Semantik formuliert — möglich, weil verschiedene Schemata gleichzeitig indexikalisch als Eigennamen fungieren (deren Deixis jedoch nicht gegenstands-sondern zeit-und ortspezifisch ist) und als definite descriptions, die ihren Gegenstand als Funktion seiner (hier ebenfalls nicht nur objekts-, sondern zeit-und ortspezifischen) Bestimmungen zeigen: „Die Sinnbereiche, die den verschiedenen Praxisbereichen korrespondieren, sind in sich geschlossen — folglich vor der Kontrolle durch die logische Systematisierung geschützt — und zugleich, als mäßig systematische Produkte eines Systems von mehr oder minder umfassend integrierten generativen Prinzipien, die innerhalb der unterschiedlichsten Praxisfelder strukturell invariant funktionieren, auch objektiv in Einklang mit allen anderen.“ (A. a. O., S. 269/Hervorhebung im Original) (Die Semantik des Schemas entspricht ungefähr der des exemplums.) Aus der Perspektive der Repräsentanz bedeutet dies „Polysemie”, eine „fiberdeterminierung durch Unbestimmtheit“ (a. a. O., S. 249; vgl. 295) da dem Gegenstand mehrere,Namen’ zugeordnet werden können. Um die — theoretisch — dadurch entstehende Gefahr einer Multiplikation der semantischen Entitäten abzuwehren, bedarf es einer „Ökonomie der Logik“ (besser wohl: der Logistik), die paradoxerweise „abverlangt, nicht mehr Logik einzusetzen, als für die Bedürfnisse der Praxis nötig ist”. Sie „bewirkt, daß das Universum des Diskurses, in bezug auf welches diese oder jene logische Klasse (also sein Komplementär) gebildet wird, implizit bleiben kann, weil es in jedem einzelnen Fall in (sic!) und durch das praktische Verhältnis zur Situation implizit definiert wird.“ (Ebd.) Die „Polythetie” der Handlungen und Semantisierungen (a. a. O., S. 248) wird durch die Homogenität einer Praxis reguliert. Im beschwörenden Ostinato des Begriffs versucht Bourdieu die Differenz dieser Logistik von systematischer Logik zu unterstreichen: „Die symbolischen Syteme verdanken ihre praktische Kohärenz, d. h. ihre Regel-wie Unregelmäßigkeit, ja selbst ihre Inkohärenzen, die ebenso notwendig weil in der Logik ihrer Genese und ihrer Funktionsweise eingeschrieben sind, dem Faktum, daß sie das Produkt von Praxisformen sind, die ihre praktische Funktion nur erfüllen können, insofern sie innerhalb der Praxis Prinzipien praktisch zur Wirkung bringen, die nicht nur kohärent sind, d. h. fähig, innerlich kohärente und zugleich mit den objektiven Bedingungen kompatible Praktiken zu erzeugen, sondern die auch praktisch sind — im Sinne von bequem, d. h. die unmittelbar beherrscht werden können und, weil einer ökonomischen (= sparsamen) Logik folgend, handlich sind.“ (A. a. O., S. 247f./Hervorhebungen im Original; vgl. auch: a. a. O., S. 252.)

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  69. Doch ist dieser letzte Punkt kein Spezifikum,primitiver’ habitueller Verfassung der Praxis: „Jedes Individuum“, resümiert Bourdieu kurz und bündig, „mag es das wissen oder nicht, wollen oder nicht, ist Produzent und Reproduzent objektiven Sinns: Da seine Handlungen und Werke Produkte eines modur operandi sind, dessen Produzent es nicht ist und die es bewußt nicht beherrscht, schließen sie, einem Begriff der Scholastik folgend, eine,objektive Intention’ ein, die dessen bewußte Absicht stets übersteigt.” (A. a. O., S.178f./Hervorhebung im Original)

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  70. A. a. O., S. 207.

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  71. Ebd.

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  72. Ebd.

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  73. A. a. O., S. 208. Konsequenz dieser Abhängigkeit reflexiven Denkens von der objektiven Struktur des Habitus ist für Bourdieu die Depotenzierung des reflexiven Bewußtseins als philosophischer Erkenntniskategorie und in eins damit des Solipsismusproblems: „Wenn die Individuen eher vom Habitus besessen sind, als daß sie ihn besitzen, so deshalb, weil sie ihn nur insoweit besitzen, wie er in ihnen als Organisationsprinzip ihrer Handlungen wirkt, d. h. auf eine Art und Weise, derer sie symbolisch schon nicht mehr habhaft sind. Das heißt freilich auch, daß das traditionell dem reflexiven Bewußtsein und der reflexiven Erkenntnis zugebilligte Privileg jeder Grundlage entbehrt und daß nichts dazu ermächtigt, zwischen Selbsterkenntnis und Erkenntnis des Anderen eine Wesensdifferenz aufzurichten.“ (A. a. O., S. 209)

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  74. Vgl. a. a. O., S. 189ff. u. 269 (siehe Anm. 60).

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  75. Umgekehrt ist es durch die Einbindung in den zugrundeliegenden Habitus möglich und gerade ein Gebot denkerischer Ökonomie, diese „halb-gelehrte Grammatik der Handlungen“, die sich in — so Bourdieu — Sprichwörtern, Rätseln, Spruchgeheimnissen und Spruchgedichten äußert, auf wenige und ungenaue ‚Theoreme’ zu beschränken: „Die,spontanen Theorien’ verdanken ihre offene Struktur, ihre Unbestimmtheit und Ungenauigkeit, ja selbst ihre Inkohärenz dem Umstand, daß sie praktischen Funktionen unterworfen bleiben.” (A.a.O., S. 211)

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  76. A. a. O., S. 210.

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  77. Vgl. a. a. O., S. 162ff.: Die Diskussion der Differenz zwschen „role fitting“ und „role guiding” im Anschluß an Quine. Bourdieu faßt zusammen: „Aus der Regelmäßigkeit d. h. aus dem, was sich mit einer gewissen, statistisch meßbaren Häufigkeit einstellt, das Ergebnis entweder eines bewußt erlassenen und bewußt respektierten Reglements {...) oder einer unbewußten Regulierung seitens einer mysteriösen zerebralen und/oder sozialen Mechanik zu machen, hieße vom Modell der Realität zur Realität des Modells überzugehen.“ (A. a. O., S. 162/Hervorhebung im Original)

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  78. Wie Bourdieu resümiert, „besitzt jedes richtig vergesellschaftete Individuum, einverleibt, die Instrumente, die es die Welt zu ordnen befähigen, also ein System von Klassifikationsschemata, die alle Praxisformen organisieren und wovon die linguistischen Schemata [...3 nur ein Moment darstellen. Über den Mythos als konstituierte Realität den mythopoetischen Akt als konstituierendes Moment zu fassen, bedeutet nicht, wie der Idealismus wähnt, im Bewußtsein nach den universellen Strukturen einer,mytho-poetischen Subjektivität’ und nach der Einheit des geistigen Prinzips zu forschen, das unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen alle empirisch realisierten Konfigurationen bedingen soll. Vielmehr bedeutet es, das vereinigende generative Prinzip aller Praxisformen, das System ebenso der kognitiven wie evaluativen Strukturen zu rekonstruieren, das gemäß den objektiven Strukturen eines spezifischen Standes der gesellschaftlichen Welt die Weltsicht organisiert: Dieses Prinzip ist nichts anderes als der gesellschaftlich geformte Körper, mit all seinen Neigungen und Abneigungen, seinen Verpflichtungen und Repulsionen, mit einem Wort: mit all seinen Sinnen [...3“ (A. a. O., S. 269f./Hervorhebung im Original)

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  79. Erkenntnis hängt nicht nur, wie der elementare Relativismus lehrt, von dem besonderen Standpunkt ab, den der Beobachter gegenüber dem Gegenstand einnimmt, sondern auch davon, daß er als Betrachter, der gegenüber dem Handeln einen Standpunkt einnimmt, der sich zurückzieht, um es zu beobachten, um es aus der Entfernung und von oben in Augenschein zu nehmen, die praktische Tätigkeit zum Gegenstand der Beobachtung und der Analyse macht.“ (A. a. O., S. 142/Hervorhebung im Original)

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  80. Ebd.

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  81. A. a. O., S. 141.

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  82. A. a. 0., S. 260.

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  83. A. a. O., S. 264.

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  84. Vgl. a. a. O., S. 179f. Dem entspricht ein Verständnis des Sprechens als Aktualisierung einer Möglichkeit des sprachlichen Systems (vgl. a. a. O., S. 151ff., bes. 155) und dieser — strukturalen im weiteren Sinne — Linguistik korrelativ eine „objektivistische Hermeneutik“, welcher das Wort für die vollendete Tatsache steht (vgl. a. a. O., S. 264).

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  85. Tatsächlich gestattet das Schema, wenn es alle temporalen Gegensätze, die zusammengetragen und vereinigt werden können, entsprechend den Gesetzen der Sukzession verteilt {...3 simultan und mit einem Blick — uno intuitu et tota simul, wie Descartes, monothetisch, wie Husserl formulierte — Bedeutungen zu erfassen, die polythetisch, d. h. nicht nur nacheinander, sondern einzeln, eine nach der andern geschaffen und angewendet werden.“ (A. a. O., S. 244)

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  86. A. a. O., S. 248.

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  87. Das Aufstellen einer Serie erzeugt demnach eine Fülle von Relationen — der Simultaneität, Sukzession oder Symmetrie z. B. — zwischen Termini und Bezugspunkten unterschiedlichen Niveaus, die, da in unterschiedlichen Situationen erzeugt und verwendet, in der Praxis nicht gegeneinandergestellt werden und folglich, selbst wenn logisch widersprüchlich, praktisch kompatibel sind.“ (A. a. O., S. 243f.)

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  88. A. a. O., S. 337.

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  89. Ohne eine Interdependenz näher auszuweisen, vergleicht Bourdieu den ökonomischen Prozeß mit dem — historisch folgenden — mathematisch-philosophischen: „Kurz gesagt, die Verwendung des Geldes macht eine Umstellung erforderlich analog jener, die, in einem anderen Rahmen, die analytische Geometrie vollzieht: An die Stelle deutlicher, durch Anschauung vermittelter Evidenz tritt die aus der Handhabung von Synonymen hervorgehende,blinde Evidenz’. Von da an wird nicht mehr über Objekte geurteilt, die auf gleichsam fühl-und greifbare Weise ihren Gebrauch und die Befriedigung, die sie versprechen, geltend machen, sondern über Zeichen, die an sich keine Quelle von Genuß sind. Zwischen das ökonomische Subjekt und die Waren oder Dienste, die es erwartet, schiebt sich der Schleier des Geldes. In dessen Folge müssen die ökonomisch handelnden Subjekte, die noch einer anderen Logik gemäß sozialisiert wurden, auf ihre Kosten die rationale Verwendung des Geldes als eines universellen Mittlers ökonomischer Beziehungen erlernen {...3“ (A. a. O., S. 382f.) — Daß sie auch ein anderes Verhalten und mit ihm eine andere Episteme der Selbstinterpretation — ein neues Selbst-Verständnis — erlernen müssen, wird dezidiert Thema des 4. Kapitels werden.

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  90. In Umkehrung der Begriffsgeschichte ökonomischer Theorie — und inhaltlich gerechtfertigt, wenn unter,Arbeit’ nicht der Reflexionsbegriff, sondern das Primat tätiger Praxis verstanden wird, faßt Bourdieu Geld als Manifestation eines Wertbegriffs, der sich nach dem Maß investierter Arbeit bemißt: „Die Aufdeckung der Arbeit setzt die Herausbildung einer gemeinsamen Grundlage der Produktion voraus, d. h. die Entzauberung einer natürlichen Welt und ihre Reduktion auf die allein geltende ökonomische Dimension. Damit kann die Tätigkeit, die aufhört ein zuleistender Tribut an eine notwendige Ordnung zu sein, sich auf ein ausschließlich ökonomisches Ziel hin ausrichten, das seinen eindrucksvollen Niederschlag im Geld, nunmehr Maß aller Dinge, findet. [...3 Nunmehr gemessen am unzweideutigen Maß des monetären Profits, finden sich die sakralsten Aktivitäten qua Negation als symbolische wieder, d. h. einem Sinn gemäß, der dem Begriff zuweilen auch eignet, als Tätigkeiten ohne konkrete und materielle Wirksamkeit, die zweckfrei also ohne Interesse, aber auch nutzlos ist.“ (A. a. 0., S. 343/ Hervorhebung im Original)

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  91. Vgl. a. a. O., S. 335ff. u. 373ff.

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  92. A. a. O., S. 327; vgl. S. 156: „Das Modell reiner und vollständiger Konkurrenz ist hier wie anderswo gleichermaßen irreal: Auch der Markt für symbolische Güter weist seine Monopole und Herrschaftsstrukturen auf.“

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  93. Auf diese Weise findet die Verneinung von Ökonomie und von ökonomischem Interesse, die sich im Rahmen vorkapitalistischer Gesellschaften zunächst in dem Bereich vollzog, aus dem jedes Interesse verbannt werden mußte, um die Ökonomie als solche allererst zu konstituieren, eine Stätte der Zuflucht im Raum der Kunst und der,Bildung, Orten reiner Konsumption, selbstverständlich von in Geld, aber auch von in Geld nicht umtauschbarer Zeit. Eiland des Sakralen, aus sich auf systematische und ostentative Weise von der profanen und alltäglichen Welt der Produktion absetzt; Asyl der Zweckfreiheit und Abwesenheit von Interesse in einem dem Geld und dem Interesse ausgelieferten Universum, könnte die Welt der Kunst, wie in früheren Zeiten die Theologie, ihre raison d’être darin finden, eine imaginäre Anthropologie vorzugeben, die aus der Verneinung (im Freudschen Sinne) all der Negationen gewonnen ist, die die Ökonomie real vollzieht.“ (A. a. O., S. 377)

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  94. Bildet die vorkapitalistische Ökonomie den Ort symbolischer Gewalt schlechthin, so deshalb, weil in diesem System die Herrschaftsbeziehungen allein um den Preis von Strategien errichtet, aufrechterhalten und wiederhergestellt werden können, die, explizit an der Errichtung persönlicher Abhängigkeiten orientiert, sich bei Strafe, ihre Wahrheit offen entdecken zu müssen, verstellen, ihre Form ändern, Kurz, sich euphemisieren müssen, um damit einer Zensur genüge zu tun, der die offene Manifestation von Gewalt, vor allem in derer brutaler ökonomischer Form, durch eine Logik unterliegt, die jener Ökonomie eignet, worin Interessen zu ihrer Befriedigung nur gelangen, wenn sie sich in und durch Strukturen verschleiern lassen, die auf ihre Befriedigung abzielen.“ (A. a. O., S. 369/Hervorhebung im Original; vgl. S. 358, 367 u. 373)

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  95. Nichts wäre in der Tat irriger als die Annahme, die symbolischen Handlungen (bzw. deren symbolischer Aspekt) bedeuteten nichts außer sich selbst: Sie verleihen stets der sozialen Stellung Ausdruck, und zwar gemäß einer Logik, die eben die der Sozialstruktur selbst ist, d. h. die der Unterscheidung. Da Zeichen schon als solche,sich nicht positiv aufgrund ihres Inhalts sondern negativ in Beziehung zu den anderen Punkten des Systems definieren’ und, da sie nun einmal das sind, was die anderen nicht sind, ihren strukturellen Wert dem symbolischen System entnehmen, sind sie beinahe nach der Art einer prästabilierten Harmonie dazu ausersehen, ständischen,Rang’ auszudrücken, der, wie schon das Wort sagt, seinen,Wert’ wesentlich seiner Stellung innerhalb einer als System von Positionen verstandenen Sozialstruktur verdankt.“ (Aus: Pierre Bourdieu. Klassenstellung und Klassenlage. In: Bourdieu, Soziologie, S. 62 /Das Binnenzitat stammt aus: Hjelmslev. Essais linguistiques. Travaux du cerde linguistique de Copenhague. Vol. 12 (1959) p. 106)

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  96. Das in strengem Sinne ‚kulturelle’ oder,ästhetische’ Interesse als gleichsam interesseloses bildet das paradoxe Produkt einer ideologischen Arbeit, zu der die Schriftsteller und Künstler, die primären Interessenten, einen nicht unbeträchtlichen Teil beigetragen haben und an deren Ende die symbolischen Interessen ihre Autonomie dadurch erringen, daft sie sich den materiellen Interessen entgegensetzten, mit anderen Worten: sich symbolisch aufheben. Weil der Ökonomismus kein anderes Interesse kennt als dasjenige, welches der Kapitalismus, gewissermaßen in Form einer Realabstraktion erzeugt hat (...), kann er das eigentlich symbolische Interesse, das zuweilen [an]erkannt werden muß [...) in seine Analyse und mehr noch in seine Berechnungen nur eingehen lassen, um es sogleich zu einer Irrationalität des Gefühls oder der Leidenschaft zu degradieren.“ (Bourdieu, Entwurf, S. 344)

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  97. Vgl. a. a. O., S. 217ff.

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  98. Es ist von Bedeutung, daß jeder Versuch — ob in der Kunst, der Moral, der Politik, der Medizin oder selbst in der Wissenschaft (man denke an die Regeln der Methode) —, eine Praxis/Praktik auf der gehorsamen Erfüllung einer explizit formulierten Regel zu begründen, sich an der Frage nach den Regeln stößt, die die angemessenste Art und Weise sowie den günstigsten Zeitpunkt — kairos wie es die Sophisten hielten — der Anwendung der Regel oder, wie man so schön sagt, der praktischen Umsetzung eines Repertoires an Vorschriften oder Techniken bestimmten, mit anderen Worten an der Frage nach der Kunst der Ausführung/Ausübung, worein sich, unausweichlich, der Habitus wieder einschleicht.“ (A. a. O., S. 203f./Hervorhebung im Original)

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  99. Vgl. a. a. O., S. 364.

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  100. Ein Stil muß sich (...) mit Notwendigkeit wandeln, sobald er vollständig verbreitet ist, weil er ein Unterscheidungszeichen ist, das nicht allgemein werden dürfte, ohne seine Bedeutung oder genauer (im Saussureschen Sinne) seinen,Wert zu verlieren, den es seiner Stellung innerhalb eines Systems und seinem Gegensatz zu anderen Elementen dieses Systems verdankt. Dasselbe Prinzip schreibt zweifellos auch der Suche nach Distinktion eine unaufhörliche Erneuerung ihrer Ausdrucksmittel in allen Bereichen vor, [...)“ (Bourdieu, Soziologie, S. 65; vgl. S. 60 u. 180).

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  101. Da die subjektive Notwendigkeit und Evidenz der Welt des Alltagsbewußtseins Geltung und Gewicht durch den objektiven Konsensus über den Sinn der Welt gewinnt, läuft das Wesentliche fraglos weil selbstverständlich ab: Die Tradition ist schweigsam [...]“ (Bourdieu, Entwurf, S. 330/Hervorhebung im Original; vgl. S. 200ff. u. 327ff.).

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  102. Schlagwortartig formuliert Bourdieu in einer mittlerweile berühmt gewordenen Sentenz: „Die Gebildeten sind die Eingeborenen der oberen Bildungssphäre und neigen daher zu einer Art von Ethnozentrismus, den man Klassenethnozentrismus nennen könnte.“ (Bourdieu, Soziologie, S. 163)

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  103. Vgl. Bourdieu, Entwurf, S. 362.

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  104. Vgl. a. a. O., S. 363.

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  105. Bourdieu, Soziologie, S. 201.

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  106. Für den Bereich der Kultur konstatiert Bourdieu lakonisch: „Kulturelle Äußerungen verweisen [...] immer implizit auf die Orthodoxie.“ (A. a. O., S. 110; vgl. S. 159ff)

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  107. Bourdieu, Entwurf, S. 189.

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  108. Z.B. Michel de Certeau. Kunst des Handelns. Berlin 1988 S. 105ff.

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  109. Die Konjunktur besteht in der „notwendigen Verbindung von Dispositionen mit einem objektiven Ereignis“ (Bourdieu, Entwurf, S. 182/Hervorhebung im Original). Da habituelle Formen letztlich Wirkungen eines objektiven Prozesses darstellen und reflexive wie semantische Entitäten ihrerseits dessen abkünftige Modi, resultiert eine zeitliche Verzögerung zwischen der Situation und ihrer Vergegenständlichung in Bewußtsein und Diskussion; durch die Trägheit habitueller und semantischer Schemata, die in erster Linie nicht ihre objektive Basis, sondern sich selbst reproduzieren, kann zwischen der Wahrnehmung und dem bezeichneten, von Bourdieu nicht als natürlich, sondern geschichtlich verstandenen Sachverhalt sich ein Spalt bilden, der schließlich zur Krise und zum Kollaps des Erkenntnismechanismus führt. Diese Verzögerung, das Zurückbleiben einer Wirkung hinter der sie bedingenden Kraft, bezeichnet der physikalische Begriff der Hysteresis; in ihr, die „zweifellos in der Konstitutionslogik eines jeden Habitus angelegt ist” (a. a. O., S.168), liegt der Grund für die Krisenhaftigkeit gesellschaftlicher Prozesse: „In der dialektischen Beziehung zwischen Disposition und Ereignis bildet sich jene Konjunktur heraus, die fähig ist, die objektiv koordinierten, weil an partiell oder total gleichen objektiven Notwendigkeiten ausgerichteten Handlungen in kollektive Aktion zu transformieren. Ohne je vollkommen koordiniert zu sein, da sie das Ereignis von,Kausalreihen’ mit unterschiedlicher Dauer bilden, sind die Dispositionen und die Situation, die sich synchron vereinigen, um derart eine bestimmte Konjunktur zu stiften, doch niemals gänzlich unabhängig, da sie je durch die objektiven Strukturen hervorgebracht werden, in letzter Instanz also durch die ökonomischen Grundlagen der jeweiligen Gesellschaftsform: Zweifellos bildet die Hysteresis der Habitusformen, die den gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen der Strukturen in den Habitus-formen inhärent ist, eine Grundlage der strukturellen Verschiebung zwischen den Gelegenheiten und den auf ihr Eingreifen zugeschnittenen Dispositionen, und es ist diese Verschiebung, die die verpaßten Gelegenheiten erzeugt und im besonderen die oft beobachtete Unfähigkeit, historische Krisen nach anderen Wahrnehmungs-und Denkkategorien als solchen der Vergangenheit — und sei es auch der revolutionären-wahrzunehmen und zu denken.“ (A. a. O., S. 183 /Hervorhebung im Original) Eine Krise destabilisiert die habituellen, erkenntistheoretischen und semantischen Schemata (Paradigmata) und initiiert einen kritischen Prozeß, der allerdings, da auf die Bedingungen seiner Formulierung angewiesen, sich nur in dialektischer Abhängigkeit vom Hergebrachten artikulieren (vgl. a. a. O., S. 331f.) und darum seinerseits nicht selbst zum Agens des Prozesses kann. Die Reflexion bleibt ohnmächtig.

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  110. Der Habitus fungiert als „Quasi-Natur“, als Sediment „zu Natur gewordene(r) Geschichte [...], die als solche negiert, weil als zweite Natur realisiert wird” (a. a. O., S. 171).

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  111. Vgl. die beiden Aufsätze Klassenstellung und Klassenlage und Künstlerische Konzeption und intellektuellen Kraftfeld in:Bourdieu, Soziologie, S. 4211. u. 75ff.

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  112. Bourdieu, Entwurf, S. 9. In Gegensatz zur Synchronizität systematischer Wissenschaft, die an der Identität des Sinns, am „objektiven Sinn“ festhält (a. a. O., S. 171; vgl. S. 153), bezeichnet der Begriff bei Bourdieu eine differenzielle, situative und subjektive Entität: „der Sinn einer Information, die niemals — es sei denn für den Gelehrten oder den Ästheten — in sich selbst ihre Bestimmung findet, definiert nichts anderes als die Gesamtheit der Handlungen, die sie auslöst” (vgl. a. a. O., S. 146 ).

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  113. Vgl. a. a. O., S. 178f.

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  114. Vgl. den Aufsatz Strukturalismus und soziologische Wissenschaftstheorie in:Bourdieu, Soziologie, S. 7ff.; bes. S. 39:„Wenn man dem Studium der Relationen zwischen objektiven Beziehungen das Studium der Relationen zwischen den Individuen und jenen Beziehungen opfert oder die Frage nach der Beziehung zwischen diesen beiden Beziehungstypen ignoriert, verfällt man in einen Strukturrealismus. Da ein solcher Realismus der Struktur an die Stelle eines Realismus des Elements tritt, hypostasiert er die objektiven Beziehungssysteme, als bildeten diese bereits außerhalb der Geschichte des Individuums sowie der Geschichte der Gruppe bestehende Totalitäten.”

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  115. Die Husserlsche Spätphilosophie steht in dieser Analyse in Abhängigkeit von Heideggers Daseinsanalytik in Sein und Zeit der auch Bourdieu verpflichtet ist. Aber nicht nur in der kontinentalen Philosophie ist diese Verschiebung im Selbstverständnis der Philosophie zu bemerken; der Übergang Wittgensteins von der logischen Apodiktik des Tractatus zur Sprachspielkonzeption der Philosopischen Untersuchungen zeigt eine gleiche Tendenz im Bereich analytischer Philosophie, die auch bei Willard van Orman Quine, Donald Davidson und Nelson Goodman spürbar ist, wenn auf metaphysische Skepsis und die strikte Immanenz logischer Theorien verwiesen wird, — ganz abgesehen vom erkenntnistheoretischen Anarchismus Paul Feyerabends. Doch die Trennung zwischen Realgrund und Erkenntnisgrund ist schließlich kein neues Theorem.

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  116. Aktuell ist die Abwertung des Subjektsbegriffs auf die Sartresche, sich ebenfalls auf Heidegger berufende Philosophie gemünzt (vgl. Bourdieu, Entwurf, S. 173ff.), doch trifft sie diese im Grunde nicht, da der radikale Freiheitsbegriff Sartres gerade von der ir-regulären Situation, der Krise, ausgeht. Darüber hinaus stellt sie eine Abwehr jeglicher Form des Idealismus dar, der aus der Reflexion des Selbstbewußtseins seine Begriffe extrapolieren will und damit die eigene, geschichtliche Subjektivität in einem „erkenntnistheoretischen Ethnozentrismus“ naturalisiert (a. a. O., S. 184ff.). Bourdieu stellt sich mit dem Theorem der Dislozierung des Subjekts in die Tradition jener französischen Heidegger Rezeption, die auch in Lacan und Foucault exponierte Vertreter findet.

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  117. Vgl. Bourdieu, Unterschiede. Der polemische Gebrauch positivistischer Statistiken kehrt deren bloße Abbildung der Faktizität gegen das Postulat ihrer Wertfreiheit und verwendet sie als Argument gegen die eigene Episteme.

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  118. Die Totalisierung des rationalen Kalküls und seiner logischen Grammatik stellt eine Verarmung der Sprache dar, da sie nur noch einen Status haben soll: den logischen, der mit dem status naturalis identifiziert wird. Diese reduzierte Sprachauffassung, die den Hermetismus einer logischen Grammatik zur Folge hat die über alles schweigen muß außer sich selbst, wird von Bourdieu anscheinend trotz ihrer längst konstatierten Problematik anerkannt — scheinbar anerkannt.

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  119. Es ist klar, daß die Opposition rationale Semantik — Rhetorik gleichfalls eine Reduktion der Fülle sprachlichen Handelns bedeutet. Sie erhebt weder den Anspruch, dieses zu erschöpfen, noch den, Sprache in ihren,wesentlichen’ Aspekten zu (re-)präsentieren, sondern stellt nur einen funktionalen Antagonismus her, dessen Implikationen im weiteren ausgeführt werden sollen.,Rhetorik’ fungiert insofern als polemisches Korrektiv zur repräsentativen Semantik.

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  120. Das Zitat fährt fort: „— einer Praxis, die vermittels der Demokratie auf der Ideologie der größten Zahl, der Mehrheitsnorm, der gängigen Meinung aufbaut: Alles weist darauf hin, daß eine Art aristotelische Vulgata immer noch einen transhistorischen Abendlandtypus definiert, eine Zivilisation (die unsrige) der endoxa: liegt es nicht unübersehbar auf der Hand, daß Aristoteles (poetisch, logisch, rhetorisch) der gesamten narrativen, diskursiven und argumentativen Sprache, die von den,Massenkommunikationen’ befördert wird, einen vollständigen analytischen Raster (ausgehend vom Begriff des,Wahrscheinlichen’) liefert und daß er eine optimale Homogenität zwischen einer Metasprache und einer Objektsprache repräsentiert, die eine angewandte Wissenschaft definieren kann?“ (Roland Barthes. Die alte Rhetorik. In: Ders. Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 15–101; Zitat: S. 94f.; vgl. S. 77)

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  121. 121) So der Titel der Sammelrezension neuerer amerikanischer Rhetorik Hermann H. Holocher. Diskussion in den USA: „Rhetoric is Epistemic“. In: Rhetorik 8 (1989), S. 65–72. Zur neueren französischsprachigen Rhetorik vgl. Volker Kapp. Rhetorik in Frankreich — neue französische Rhetorikforschung. In: Rhetorik 7 (1988), S. 93–108; Gerhard Damblemont. Rhetorik und Textanalyse im französischen Sprachraum. A. a. 0., S. 109–132; vgl. auch die Darstellung in: Gert Ueding/ Bernd Steinbrink. Grundriß der Rhetorik. Stuttgart 1986. Zur aktuellen Rhetorik vgl. bes. Ernesto Grassi. Prolegomena zum Problem der Rhetorik. (Ton — psophos — und Laut — phonè —) In: Rhetorik 8 (1989), S. 1–11; Lothar Bornscheuer. Rhetorische Paradoxien im anthropologie-geschichtlichen Paradigmenwechsel. In: Rhetorik 8 (1989), S. 13–42.

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  122. Vgl. die programmatische Darstellung in:Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 186ff.

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  123. In diesem Zusammenhang erscheint — allerdings erst in der Stoa und der römischen Rhetorik (vgl. Manfred Fuhrmann. Die antike Rhetorik. München/Zürich 1987, S. 13; vgl. auch Richard Volkmann. Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht. Hildesheim 1963) — der vir bonus als Repräsentant der allgemeinen, öffentlichen Person, dessen ethos ihn als dem allgemeinen Wohl verpflichtet ausweist und dessen Sprache als Muster einer idealen Sprache für öffentliche Belange in kommunikativer Hinsicht dienen kann.

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  124. Vgl. Barthes, Rhetorik, S. 96; vgl. auch: Samuel Ijssering. Rhetorik und Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstadt 1988. Ijssering begreift Rhetorik wesentlich als Textwissenschaft; damit wird jedoch der chrono-logische Aspekt negiert und die Rhetorik somit wiederum einer,begrifflichen’ Episteme untergeordnet. Auch IJsserings Bezug auf einen Kristevaschen Begriff von,Intertextualität’ (S. 190) hilft letztlich nicht weiter, da er die kairologische Struktur der Rhetorik und deren Bezug auf einen — objektivistischen! — Logos der Situation einer diffusen,negativen Kairologie des (objektiven) Subjekts der Sprache’ opfert, die sich — anstatt zur Welt zu kommen — in der autarken Immanenz ihrer Wörter verschwendet.

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  125. Dieser Auffassung ist auch der „mittlere“ Roland Barthes verpflichtet (vgl. Barthes, Rhetorik, S. 90ff.).

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  126. Barthes, Rhetorik, S. 77.

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  127. Ebd.

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  128. Das aptum regelt also zum einen das Verhältnis der Konstituenten der sprachlichen Äußerung untereinander (Konstituent an dieser Stelle als Sammelbezeichnung für die Redeteile, die Figuren, die Einzelwörter und ihren Klang und ihre Bedeutung, für die Gedanken Worte usw. gebraucht) und stellt andererseits die zulässige Verbindung zwischen den Konstituenten der Rede und dem sozialen, politischen und historischen Kontext her. Da sich aber jede Rede, jede sprachliche Äußerung an einen oder mehrere Adressaten richtet, folgt aus der Verletzung des inneren immer auch eine des äußeren aptum das die eigentlich regulative Kategorie im rhetorischen Sinn darstellt und Grundlage sämtlicher Wertungen, Fehler, Lizenzen, jeder rhetorischen Aktivität in Theorie und Praxis darstellt.“ (Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 202) Das aptum könnte so noch als bloße Konventionalisierung verstanden werden, stellt aber das qualitative Resultat einer Vermittlung zwischen iudicium, dem sachbezogenen Urteil des Redners, und consilium, seiner intentionalen Objektivierung in der Planung der Redewirkung, dar (vgl. ebd.), wobei das iudicium selbst wiederum abhängig ist von der inventio, welche Einsicht in den Redegegenstand produziert. Lausberg definiert: „Das aptum ist die cirrus dispositionis und deshalb auch eine cirrus elocutionis. Es wird von der utilitas causae gelenkt und zielt auf den in der Überredung bestehenden Rede-Erfolg, der seinerseits von der opinio des Publikums abhängt. Das aptum besteht in der Bemühung, die utilitas causae mit der opinie des Publikums in Einklang zu bringen.” (Heinrich Lausberg. Elemente der literarischen Rhetorik. München 1963, § 464) Ciceronianisch stellt die inventio eine parteiische Handlung dar, ihr geht die intellectio als Erkenntnis des Gegenstandes voran; die inventio als bereits wirkungsbezogenes Verfahren selektiert und ordnet dort gefundene Aspekte nach qualitativen Kriterien (vgl. a. a. O., S. 195). Wenngleich Cicero selbst die tatsächliche Rede als Resultat einer imaginierten Redesituation — und damit quasi objektiviert — beschreibt (Marcus Tullius Cicero. De oratore/Gber den Redner. Übers. u. hrsg. v. Harald Merkin. Stuttgart 1976 {im Folgenden zitiert als: De or), 2, S. 102–104; vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 217), so stellt doch ihre Intentionalität eine polemische — und von der Gegenpartei zu konterkarierende — Invektive gegen vermeintliche konventionelle Selbstverständlichkeiten dar; aber dies nicht in Form,kritischer Kritik’, die von einem höheren Standpunkt aus zu sprechen begehrt, sondern mittels polemischer Affirmation, die aus perspektivischer Selektion der möglichen Beweisgründe vorgibt, den sensus communis gerade zu repräsentieren. Dabei stehen die Loci als konventionalisierte „Argumentationsgesichtspunkte“ (Lothar Bornscheuer. Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976 S. 100; vgl. Batches, Rhetorik, S. 70.) zur Verfügung. Doch ist im Auge zu behalten, daß sich Cicero selbst weniger zu genuin rhetorischer als zu akademischer Schulung bekennt: Er gebraucht die Rhetorik erkenntnistheoretisch subsidär. (Nicht zuletzt darum wird in der Renaissance Lorenzo Valla Cicero hinter Quintilian zurückstufen (s. u.). Dagegen ist rhetorisch Einsicht in den Gegenstand prinzipiell von seiner argumentativen Aufbereitung nicht zu trennen, sondern stellt selbst das Resultat der Anwendung topischer Parameter dar: „Die eigentliche rhetorische Lehre besteht also in der Einheit von Denken und Sprechen, so daß Reden oder Schreiben dann nicht mehr bloß eine Bekleidung von Sachen mit Worten bedeutet, sondern Erkenntnis produziert und dadurch selber eine ars inveniendi eine Erfinde-und Findekunst darstellt.” (Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 200)

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  129. Wo ein Modell von Sprache ihren Gebrauch normativ zu regulieren trachtet, wie z. B. die latinitas in Antike und Renaissance oder die logische Grammatik in der Neuzeit, wird konventionelle Oberflächlichkeit, wie immer sie sich auch selbst für tiefgründig erachten mag, gefordert.

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  130. Bourdieu, Gott, S. 249. Aus dieser Perspektive ergibt sich ein interessanter Blick auf den klassischen und romantischen Symbolbegriff mit seiner konstitutiven inhaltlichen Überfülle, welche die Möglichkeit begrifflicher Repräsentation als solche negiert und aufhebt (vgl. Götz Pochat. Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft. Köln 1983 S. 26ff.). Eine innere Verbindung beider stiftet das Theorem der Metaphorizität von Sprache, da der referentielle Bezug metaphorischer Sprache nicht die Eineindeutigkeit des Begriffs, sondern die Transzendenz des Gegenständlichen meint. Jedoch ist zu beachten, daß in der christlichen Tradition dieses Gegenständliche ungeschieden die Situation wie das — unverstandene — göttliche Wort bedeutet, da Schöpfung und Schrift als (Ent-)Äußerungen Gottes in eins fallen. Der Logos der Situation des christlichen Interpreten — und hierin liegt eine verborgene Tradition sophistisch-rhetorischer Semantik — ist das pneumatische Wort: Transszendierung der Doxa — des Meinens — in der wirkmächtigen Evidenz,lebendigen Verstehens’.

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  131. ),Begründung’ bedeutet hier nicht sichere Deduktion aus ersten Evidenzen, sondern diskursive Plausibilität, die auf praktischer Erfahrung — auf sapientia statt auf scientia — aufruht. Sie ist nicht an die Autorität einer Methode, sondern an die Bewährung ihrer Aussagen im kontroversen oder zumindest dialogischen Diskurs gebunden. Somit gibt es keine Instanz und kein Verfahren, das von vornherein Wahrheit fúr sich reklamieren könnte. Besonders deutlich wird dies im Falle des genus iudiciale: Der Richter beurteilt nicht den Sachverhalt — er ist eben nicht die Inkarnation des Rechts, denn vor Gericht gibt es auch in den Parteien Fachmänner — und schon gar nicht den Gegenstand, sondern die Plausibilität der parteiischen Darstellungen. D. h. er bestimmt, welcher Wirklichkeitsgrad einer Darstellung zukommt: „Darüber aber zu entscheiden, ob etwas geschehen ist oder nicht, ob es sein werde oder nicht, ob es ist oder nicht, muß man notwendig den Richtern überlassen [...}“ (Aristoteles. Rhetorik. Übers. v. Franz G. Sieveke. München 1980, 1354b, S. 8 ).

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  132. Die neuzeitliche Denunziation der Rhetorik beruht auf der These, daß sie nackte Wahrheit verstelle und statt ihrer Allgemeinheit ein subjektives Interesse protegiere. Da Rhetorik die Prämisse dieser Argumentation — daß es eine nackte, uninteressierte Wahrheit gibt — nicht teilt, trifft sie der Vorwurf der Manipulation nicht nur nicht, sondern sie immunisiert gegen Manipulation.

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  133. Walter Jens. Rhetorik und Propaganda. In: Derr. Von deutscher Rede. München/Zürich 1983 (Erw. Neuausgabe), S. 14.

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  134. Vgl. bes. Aristoteles, Rhetorik, 1356b-1358a, S. 14–20.

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  135. Ebenso gibt es in der Rhetorik scheinbare Enthymeme durch die Unterstellung, etwas sei nicht ein absolut Wahrscheinliches, sondern ein speziell Wahrscheinliches. Dieses aber kann nicht den Anspruch des Allgemeingültigen {...3 erheben, (...) Es ereignet sich nämlich (auch) etwas, was dem Wahrscheinlichen zuwiderläuft, [...}. Verhält es sich aber so, dann ist auch das Nicht-Wahrscheinliche wahrscheinlich, jedoch nicht absolut, sondern wie in den sophistischen Reden das Weglassen des Worin des Wozu und des Wo die falsche Aussage bewirkt, so auch hier, daß etwas nicht absolut dem Wahrscheinlichen zuwiderläuft, sondern einem speziellen Fall von Wahrscheinlichkeit.“ (Aristoteles, Rhetorik, 1402a, S. 161) Die allgemeine Gültigkeit des Enthymems wird dadurch zwar nicht negiert, sie ist jedoch je situativ problematisch und muß ihrerseits im rhetorischen Diskurs gerechtfertigt werden. „Denn das, was wahrscheinlich ist ist (das), was sich meistens ereignet, jedoch nicht schlechthin, wie einige es definieren, sondern das, was sich bei Dingen, die auch anders sein können, in Relation zu dem Gegenstand, bezüglich dessen es wahrscheinlich ist, so verhält wie das Allgemeine zum Besonderen.” (Aristoteles, Rhetorik,1357af., S. 17) Die Situation bleibt prävalent und ist nicht a priori methodisch reduzierbar; der Geltungsanspruch des dialektischen Verfahrens als Paradigma wahrer Methodik muß sich stets aufs neue ausweisen, „denn für den praktischen Gebrauch sind die einzelnen und besonderen Dinge von größerer Bedeutung als die Kenntnis des Allgemeinen.“ (Aristoteles, Rhetorik, 1393a, S. 133)

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  136. Gemäß dem Catonischen, seinem Impetus nach gegen eine vom Sachgehalt der Aussage gelöste Rhetorik gerichteten Diktum: „Orator igitur est vir bonus dicendi peritus.“ (Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 58)

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  137. Vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 41ff. u. 86ff.

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  138. Die Bedeutung der lectio nimmt besonders im frühen Mittelalter zu (um von der disputatio abgelöst zu werden; vgl. Ijssering, Rhetorik, S. 75) und bestimmt — säkular gewendet — auch die Renaissance. Ihr substantiell verbunden ist die imitatio inhaltlicher und stilistischer Vorbilder. Beider Bedeutung — und damit die inhaltliche Petrifizierung der Rhetorik — wächst mit dem Einfluß der Schriftsprachlichkeit. Diese ist bereits in der aristotelischen Rhetorik spürbar (vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1413b-1414a, S. 199–202 — das Verhältnis zwischen gesprochenem Wort und Schrift ist implizit auch in der Reflexion über Gesetz und Urteil Gegenstand); damit bricht, wie Michael Cahn zeigt, das Problem der Beziehung von Theorie und Praxis als Problem von rhetorischer Wissenschaft und rednerischer Praxis in die Rhetorik ein (Michael Cahn. Kunst der Überlistung. München 1976 S. 621f.). Perspicutas, die Klarheit der Begriffe und des Ganges der Argumentation tritt nun in den Vordergrund (vgl. Cahn, Kunst, S. 73). Die rhetorische Situation und die sophistische Peithio werden dabei durch die Abstraktheit des Textes und die Möglichkeit kritischer Lektüre desavouiert: Überreden und Überzeugen fallen auseinander. Calm betont, diese Entwicklung sei der Rhetorik selbst immanent, da sie als,formalisierte Technik’ bereits den Keim des Begrifflichen in sich trage: „Als Kommunikationsform nimmt der mündlich abgehaltene rhetorische Vortrag [...3 zwischen face-to-face und Lektüre seinen Platz ein; er ist unter keinen Umständen ganz auf die Seite der face-to-face Kommunikation zu schlagen. Mithin ist die Dominanz textueller Kategorien bei Aristoteles kein Zufall sondern ein Bewahren rhetorischer Qualität und durchaus der,Sache’ angemessen, auch wenn durch sie der Redner prinzipiell nicht zu einem,master of occasions, but one of accurate diction’ wird.“ (A. a. O., S. 75) Damit ist jedoch Essentialismus — daß nämlich der Begriff der Rhetorik das Wesen der Rhetorik sei — hypostasiert. Die Chrono-logie dagegen erkennt gerade im Verfall der Begriffe — auch jener der Rhetorik, insoweit sie sich als begriffliche formulieren kann — ihr semantisches Apriori. Auch Rhetorik ist eine Praxis, die sich temporär exponiert und habituell sedimentiert, um wieder im Strom der situativen Praxis einzutauchen. Die, wie Cahn formuliert, „paradoxe Utopie einer kunstlosen Kunst” (a. a. O., S. 84) — die Tatsache, daß sich Rhetorik dann am vollkommensten wähnt, wenn sie sich identisch mit Natur glaubt — ist eben nur paradox, wenn Natur als Begriff und Kunst als Begriff jeweils überzeitliche Substanzialität für sich reklamieren. Auch die Ciceronianische Rhetorik ist konzeptionell auf Schrift als Reflexionsmedium und Medium der Selbstobjektivation angewiesen, um neben dem pragmatischen das neue Ideal des Stils (stilus: lat. Griffel; vgl. Hans Ulrich Gumbrecht. Schwindende Stabilität des Wirklichen. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hrsg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1986, S. 726–788 hier: S. 730) zu etablieren.

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  139. Bomscheuer, Topik, S. 101.

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  140. Ebd.

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  141. Aristoteles versteht unter,alle’ „die Vielen“ (Aristoteles, Rhetorik, 1363a, S. 35): d. h. „die Einsichtsvollen — entweder alle oder die meisten oder die Mehrzahl oder die Bedeutendsten” (a. a. O., 1364b, S. 41), „alles, was Einsicht und Verstand hat“ (a. a. O., 1362a, S. 33). Die Öffentlichkeit der Wahrheit, der Aristoteles doch mit eher ambivalentem Gefühl zu begegnen scheint, ist der sophistischen essentiell (vgl. Thomas Buchheim. Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg 1986, S. 47; vgl. auch: Ders. Einleitung in: Gorgias von Leon-tini. Reden, Fragmente und Testimonien. Hrsg. mit Übers. u. Kom. v. Thomas Buchheim. Hamburg 1989, S. VII—XL1).

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  142. D. h. das Gebiet der Rhetorik umfaßt ungeschieden Wörter und Begriffe.

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  143. Der Entscheidungsbedarf kann dabei tatsächlich oder vermeintlich sein, d.h. er kann aus tatsächlicher Offenheit der Situation oder aus der Unkenntnis der Subjekte resultieren. Im ersteren Fall ist die Rhetorik methodisch irreduzibel, im letzteren lediglich argumentatives Supplement der Wahrheit. Zwar erkennt Aristoteles pragmatisch die Indeterminiertheit menschlichen Handelns an (vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1357a, S. 17), methodisch jedoch ist seine Rhetorik auf die Exposition des Begriffs fixiert: „Aber wir beraten nur über solche Dinge, welche sich allem Anschein nach auf zweierlei Weise verhalten können: Denn über das, was nicht anders sein, werden oder sich verhalten kann, beratschlagt niemand, sofern er annimmt, daß es sich so verhält; das bringt ja nichts mehr ein.“ ( Aristoteles, Rhetorik, 1357a, S. 16 )

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  144. Die Unruhe ist eine Funktion anthropologischer Zeitlichkeit, die in systematischer Hinsicht nur als Irritation der Stetigkeit gefaßt werden kann. Als anthropologisches Faktum legitimiert sie sich durch teleologische Bezogenheit und Aufhebung im Resultat: „Da aber das Siegen angenehm ist, so müssen auch alle Spiele angenehm sein: sowohl die Kampfspiele wie die Disputationen [...] denn wo Wettstreit ist, da ist auch Sieg. Aus diesem Grund ist sowohl das Prozessieren als das Disputieren angenehm für die, die es gewohnt sind und darin Könnerschaft besitzen.“ (Aristoteles, Rhetorik, 1371a, S.61f.)

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  145. Vgl. Manfred Frank. Zeitbewufitsein. Tübingen 1990.

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  146. 146) Vgl. Edmund Husserl. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewufitseins. (1893–1917) Hrsg. v. R. Boehm. (Husserliana Bd. 10) Den Haag 1966; Emmanuel Levinas. Die Spur des Anderen. Freiburg/München 1983.

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  147. Dies betrifft auch die Möglichkeit von Geschichtstheorie (vgl. — aus analytischer Perspektive — Arthur Coleman Danto. Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M. 1974; vgl. Georg Simmel. Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Zweite, völlig veränderte Auflage. Leipzig 1905 S. V; Marquard, Schwierigkeiten, S. 13–28).

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  148. Daß Affekte zukunftsblind sind, konstatiert Aristoteles selbst: „[...)— denn die Affekte sind nicht in der Lage, zu bedenken, was kommen kann — [...)“ (Aristoteles, Rhetorik, 1385b, S. 110). Dies kann strenggenommen zweierlei bedeuten: Sie sind naturhaft, oder sie sind konventionell, und ihre Zukunftsblindheit ist dadurch bedingt, daß konventionelle Reaktionsschemata unreflektiert appliziert werden. Die Definition der Rhetorik lautet: „Affekte aber sind alle solche Regungen des Gemüts, durch die Menschen sich entsprechend ihrem Wechsel hinsichtlich der Urteile unterscheiden und denen Schmerz bzw. Lust folgen” (Aristoteles, Rhetorik, 1378a, S. 84). Sie fallen ins Gebiet der Ethik und nicht in jenes der Anthropologie (vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1355bf., S. 13f.).

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  149. Von den anderen theoretischen Disziplinen ermöglicht keine, über Entgegengesetztes Schlüsse zu bilden; nur die Dialektik und die Theorie der Beredsamkeit vermögen dies als einzige; denn beide sind in gleicher Weise mit im Gegensatz Stehendem beschäftigt.“ (Aristoteles, Rhetorik, 1355a, S. 11) Die Parallelisierung von Rhetorik und Dialektik sowie die exponierten Funktionen von Enthymem und Syllogismus zwingen — da sie die mögliche Polyperspektivität von Wahrnehmung und Sprache auf systematische Alternativen reduzieren — die Rhetorik in das Prokrustesbett der Theorie.

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  150. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1355b-1358b, S. 17–20.

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  151. — übet jede Art von Schlußverfahren aber hat ohne Unterschied die Dialektik Untersuchungen anzustellen: entweder die ganze Wissenschaft oder ein Teil von ihr — [...)“ (Aristoteles, Rhetorik, 1355a, S. 10).

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  152. Die Rhetorik stellt das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glauben-erweckende zu erkennen.“ ( Aristoteles, Rhetorik, 1355b, S. 12 )

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  153. Notwendiger Ort des ethos in der Rede ist die narratio, sein Impetus Offenlegung der Absicht des Rhetors — mit dem Telos des sittlich Guten (vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1417a, S. 214), seine stilistische Implikation weitgehender Verzicht auf pathetische Mittel und Formeln, d. h. Präferenz des verbum proprium. Diese Bevorzugung einer scheinbar kunstlosen Sprache ist jedoch selbst rhetorisches Kalkül: Angemessenheit beruht auf drei Faktoren: Affekt, Ethos und „rechte[} Relation[} zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt“ (Aristoteles, Rhetorik, 1408a, S. 181). Dabei erhöht der Gebrauch des verbum proprium die Glaubwürdigkeit, denn: „Die Seele macht nämlich den Trugschluß, als spräche man die Wahrheit, weil Menschen in solcher Lage sich so verhalten.” (Aristoteles, Rhetorik, 1408a, S. 182),So verhalten’ heißt: quasi natürlich, ohne Hintergedanken, uninteressiert, „[...) nicht aus Überlegung heraus zu sprechen, wie die Redner dies heutzutage tun, sondern aus der ethischen Absicht heraus:,Ich aber wollte dies; dies war nämlich meine Absicht; aber wenn es mir auch nicht zum Nutzen geriet, war es doch das Bessere’; denn das eine ist Ausdrucksweise des Verständigen, das andere aber des Rechtschaffenen. Die Intention des Verständigen ist es nämlich, darin das Nützliche zu verfolgen, Intention des Rechtschaffenen aber, das Schöne.“ (Aristoteles, Rhetorik, 1417a, S. 214) Doch dürfen diese Formulierungen nicht so verstanden werden, als würde damit quasi einer emotionslosen, rationalen Sachlichkeit das Wort geredet, denn: „[...3 wenn man seiner Rede einen ethischen Anstrich gibt, darf man nicht gleichzeitig nach einem Enthymem suchen; denn die Beweisfiihrung besitzt weder ethische Gesinnung, noch sittlichen Vorsatz.” (Aristoteles, Rhetorik, 1418a, S. 217) Und sie sind auch nicht so zu lesen, als wäre der Bezug auf das Schöne ein interesseloses Wohlgefallen oder Produkt unengagierter Apathie (vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1389a, S. 121f.); zwar leistet der ethische Rhetor auf persönlichen Vorteil Verzicht, er muß aber über die Tendenz seiner Rede — über das allgemeine Interesse — Rechenschaft geben können: „Durch die Darlegung der Beschaffenheit der Absicht ist die Beschaffenheit des Charakters erkennbar. Die Beschaffenheit der Absicht aber wird bestimmt durch den Endzweck (telos). Aus diesem Grund besitzen auch die mathematischen Vorträge kein Ethos, weil sie keine Absicht haben — denn sie besitzen kein Warum — wohl aber die sokratischen Dialoge; [...3“ (Aristoteles, Rhetorik, 1417b, S. 214) Die Ausrichtung des Ethos auf das Schöne als sittlich Gutes qualifiziert die Gnome als Form und Indiz ethischer Aussage: „Sie macht nämlich die Rede zu einer ethischen Rede.” (Aristoteles, Rhetorik, 13956, S. 140) Berücksichtigt man die ethische Präferenz des verbum proprium, so zeigt sich schon in der aristotelischen Rhetorik eine Tendenz zur Prosa als quasi-natürlicher Redeform in Angelegenheiten,normalen’ Lebens mit ihren restriktiven (und,modernen’) stilistischen Normen: In Prosareden „[...3 ist es erforderlich, die Kunstfertigkeit anzuwenden, ohne daß man es merkt, und die Rede nicht als verfertigt, sondern als natürlich erscheinen zu lassen — dies nämlich macht sie glaubwürdig, jenes aber bewirkt das Gegenteil; denn die Zuhörer nehmen wie gegen jemanden, der etwas im Schilde fiihrt, Anstoß daran wie gegen gemischte Weine [...3. Dieses Vertuschen wird aber gut bewirkt, wenn jemand aus der üblichen Umgangssprache seine Auswahl für die Komposition seiner Rede trifft, wie Euripides dies tut und als erster gezeigt hat. [...3 Das allgemein gebräuchliche und eigentliche Wort (verbum proprium) aber und die Metapher dürfen als einzige für die Ausdrucksweise der Prosarede gebraucht werden. Ein Indiz hierfür ist, daß alle Menschen nur diese allein gebrauchen; denn alle gebrauchen in der Unterredung Metaphern, eigentümliche und allgemein gebräuchliche Ausdrücke.“ (Aristoteles, Rhetorik, 1404b, S. 170, — Zur Opposition ethos/pathos und ihrer Geschichte vgl. Klaus Dockhorn. Macht und Wirkung der Rhetorik. Bad Homburg/ Berlin Zürich 1968; zum,EntkunstungsTheorem vgl. Cahn, Kunst, S. 84ff.)

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  154. Aristoteles, Rhetorik, 1357a, S 16.

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  155. Nützlich aber ist die Theorie der Beredsamkeit, weil von Natur aus das Wahre und das Gerechte stärker sind als ihr Gegenteil, so daß sie notwendig durch sich selbst unterliegen, wenn die Urteile nicht so ausfallen, wie es sich gehört; das aber ist ein Grund zum Vorwurf.“ ( Aristoteles, Rhetorik, 1355a, S. 10 )

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  156. Aristoteles, Rhetorik, 1354a+b, S. B.

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  157. Aristoteles, Rhetorik, 1354b, S. 9. Zum Theoriebegriff bei Aristoteles und seinem Verhältnis zur Praxis vgl. Joachim Ritter. Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles. In: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Frankfurt a. M. 1977, S. 9–33.

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  158. Aristoteles, Rhetorik, 1354b, S. B. D. h. der Gesetzgeber definiert die systematischen Örter; der Richter befindet über ihre Faktizität; er verankert sie — mit je nach rhetorischem Genus spezifischem chronologischen Vektor — im Fluß der Erscheinungen.

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  159. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1354a, S. 7.

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  160. So wie die moderne Rhetorik als,Wissenschaft der Kontextualität’ Rhetorik eben wissenschaftlich, d. h. im Bezug auf verallgemeinerbare und konstante Konstituenten der Lebenswelt, untersucht und sie damit nicht nur zum quasi-rationalen Methodensurrogat stempelt, sondern zur Festigung des Anspruchs der Wissenschaft, Praxis zu dominieren, funktionalisiert, ist es auch — aus rhetorischer Perspektive lediglich defensives — Anliegen der aristotelischen methodisch zu erfassen, was über den Sachgehalt einer Argumentation hinaus performativ von Bedeutung ist: „Da aber das Objekt der Rede das Urteil ist — denn Urteile bestimmen ebenso die Beratung, wie der Richterspruch ein Urteil ist —, muß man notwendigerweise nicht nur auf die Argumentation sein Augenmerk richten, {...], sondern auch sich selbst und den Urteilenden in eine bestimmte Verfassung versetzen. Denn im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit macht es viel aus — besonders bei den Beratungen und schließlich vor Gericht —, daß der Redner in einer bestimmten Verfassung erscheinen und daß die Zuhörer annehmen, er sei in einer bestimmten Weise gegen sie disponiert, und schließlich, ob auch diese sich in einer bestimmten Disposition befinden.“ (Aristoteles, Rhetorik, 13776, S. 83 )

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  161. Vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß, S.13–18.

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  162. Buchheim, Sophistik (vgl. Anm. 141).

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  163. A.a.O., S. 132.

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  164. Aristoteles hingegen trennt die rhetorische techné vom Sachgehalt ihrer Aussagen (der episterne) und formalisiert sie damit ebenso wie die Dialektik zur Wissenschaft von den Begriffen sprachlichen Handelns: „Je mehr jemand nun aber die Dialektik oder die Rhetorik nicht als Fähigkeit sondern als Wissenschaft auszubilden versucht, desto mehr wird man unvermerkt ihre eigentliche Natur gerade dadurch vernichten, daß man durch Überschreiten ihres eigenen Gebietes sie zu Wissenschaften von irgendwelchen bestimmten Inhalten ausbildet, statt von den Worten allein.“ ( Aristoteles, Rhetorik, 1359b, S. 24 )

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  165. Buchheim, Sophistik, S. 55.

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  166. Ebd. Ausgehend von der platonischen Erörterung des protagoräischen homo-mensura-Satzes in Theätet 152a-160c faßt Buchheim die radikale Phänomenologie der Sophistik in vier Punkten: „1. Es gibt kein nicht-phänomenales Substrat von Erscheinungen. 2. Inhalt und Aktualität der Erscheinung sind damit untrennbar (Wahrnehmung und Wahrgenommenes fallen in eins). 3. Jedes Phänomen ist radikal anders als jedes andere Phänomen. 4. Erscheinungen sind keiner Souveränität unterworfen, auch keiner internen, da Platon zeigt, daß das Phänomen mit seinen gedachten Konstituenten inkompatibel ist.“ (A. a. O., S. 77)

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  167. Vgl. a. a. 0., S. 43–79. Buchheim konstatiert lakonisch, „an diesem Satz muß man Farbe bekennen, weil der Satz des Protagoras eben ein Grundsatz der Sophistik ist.“ (A. a. O., S. 43) Er übersetzt ihn — das Orginal lautet:,IIO:vT(OV xp1 purrow ItETpOV EOTLV avep(wrtOÇ, TG)V 1,1EV OWTG)V CO; E6T1V, TOW F)£ Ovx OVTO)V (s)Ç Ovx E6TLV.” — zunächst in möglichst breitem Bedeutungsspektrum mit: „Aller Dinge Maß ist (der) Mensch, der seienden, daB sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind.“ (ebd.) und erläutert:,,,Der ist in Klammern gesetzt, damit es in seiner blassesten Bedeutung genommen werde, der griechische Text bietet es nicht.” (A. a. O., S. 44) Seine Interpretation kommt zu dem Schluß: „Protagoras behauptet {...3 plakativ und unausgewiesen, daß in alles der Mensch gehört, wodurch einerseits ihm alles erschlossen und zugänglich ist, er aber andererseits durch alles betroffen und belangt wird. Der logische Leim dieser wechselseitigen Bindung ist die zirkuläre Struktur des Metron. Was in anderen Zusammenhängen Maß und Gemessenes stets unausgesprochen auseinanderhielt, das tertium comparationis, nämlich der Mensch, der ein jeweiliges Maßverhältnis konstatierte, ist im Satze des Protagoras zugleich ein secundum, wodurch das gesamte Verhältnis — ohne externen Halt — zu einem unkontrollierten einheitlichen Prozeß kollabiert.“ (A. a. O., S. 77) Die Elimination des Erkenntnisdreiecks Subjekt-Objekt-Begriff (und/oder Zeichen — je nach Spezifikation der Erkenntnistheorie und Semantik) bewirkt Unmittelbarkeit von Erfahrung; aus der Sicht eines Erkenntnissubjekts heißt dies entweder absolute Affirmation — Evidenz — oder absolute Negation — Unerkennbarkeit — des Gegebenen. Sophistische Theorie aber geht eben nicht von Wahrnehmungen, sondern von Situationen aus: d. h. von zu erkennenden Konstellationen mit zeitlicher Extension, die, als dynamische, sich entwickelnde begriffen, von den Subjekten fordern bzw. ihnen die Chance lassen, einzugreifen und sich je zu verhalten. So „(...3 gerät der Mensch nicht mehr nur in ihm zustoßende, über ihn verhängte Situationen, sondern er definiert diese Situationen mit. Dadurch jedoch sind seine Handlungen in diesen Situationen zugleich situationsverändernd, d. h. der Mensch ist nicht gänzlich mittellos. Damit aber beseitigt er [...3 auch den letzten situationsexternen Halt, auf den der lyrische Mensch sich stets berufen konnte: ihn selbst als den, der in fast ruhig zu nennender Betrachung seine Betroffenheit empfinden und auskosten konnte, weil was ihn betraf nicht er selbst war. Die Unfähigkeit zu solch ruhig bleibender Empfindsamkeit zwingt den Menschen nun zum sophistischen Aktivismus.” (A. a. O., S. 78) Das Subjekt ist den Gegebenheiten nicht ausgeliefert; es ist ihnen aber auch nicht transzendent, d. h. nicht in der Lage, sie zu objektivieren und dann, nachdem sie erkannt wurden, handelnd zu reagieren. Der Prozeß des Handelns fiele mit jenem der Erkenntnis zusammen, gäbe es nicht die Möglichkeit, Praxis zu verschieben: sie sprachlich zu antizipieren und jenen Moment der Entscheidung, der tatsächliches Eingreifen bedeutet, diskursiv in eine Serie sprachlicher Operationen zu zerlegen. Nur durch Chrono-logie sprachlicher Erfahrungen im rhetorischen Diskurs, d. h. Erfahrungen der Simulationen von Handlung, die je identisch sind mit Definition der Situation, kann sophistisches Denken der unheilvollen Alternative von Determinismus und Nihilsimus — den Schreckgespenstern neuzeitlicher repräsentativer Semantik — entgehen und dennoch eine Einheit der Erfahrung postulieren, welche den unmittelbaren,Qualitätsraum’ der Befindlichkeit benennt. Die grundlegende Differenz der sophistischen (situativen) von begrifflicher Semantik bestimmt Buchheim in abschließender Interpretation: „Der HMS (homo-mensura-Satz) charakterisiert alle chremata als Situationen. In Ermangelung eines solchen Strukturbegriffes und auch weil eine Fähigkeit zur scharfen Unterscheidung von Qualitäten, Dingen, Sachverhalten und Relationen fehlt, nimmt Protagoras Zuflucht zum undifferenzierten Begriff des phainomenon und behandelt auch Situationen wie einstellige Prädikate nach dem Muster: es ist (diese Situation), oder es ist (jene Situation). Tatsächlich ist das einzige Beispiel, von dem wir mit einiger Sicherheit annehmen, daß es authentisch sei, eigentlich eine Situationsbeschreibung: Wind-dem-Frierenden-kalt und Wind-dem-Nichtfrierenden-nichtkalt (Tht. 152b). Dies ist um so erstaunlicher, als hier warm und kalt, die traditionell als einsichtige Qualitäten par excellence angeführt wurden, zu Situationen ausgedehnt werden.“ (A. a. O., S. 78 )

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  168. A. a. O., S. 77. Dies impliziert, daß es kein Erkenntnissubjekt oder gar ein Gattungssubjekt gibt, sondern nur Subjekte. Manfred Fuhrmann versteht die Sophistik als,Krisenmanagement` und ihre Technik als „Rezept für ein möglichst vergnügliches Überleben“ (Fuhrmann, Rhetorik, S. 30).

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  169. Notwendigkeit bezeichnet die anthropologische, Zufälligkeit die erkenntnistheoretische Dimension.

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  170. Insofern ist auch Otto A. Baumhauers Pointe: „Des Gorgias Theorie der sprachlichen Kornmunikation ist eine Zeichenlehre, eine Semiotik“ (Otto A. Baumhauer. Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation. Stuttgart 1986 S. 194) simplifizierend, da sie die Differenz von,role fitting’ und,role guiding’ verkennt (vgl. Anm. 77).

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  171. Im platonischen Protagoras wird die Opposition Sokrates — Protagoras durch die Opposition ihrer Paradigmen charakterisiert: Sokrates ist die Mathematik, Protagoras der Spracherwerb Modell der Pädagogik (Prot. 326b 2; vgl. Buchheim, Sophistik, S. 125).

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  172. Doxa ist (...) zunächst der Ruf, den einer genießt, und in welchem Ruf man steht, hängt davon ab, wie Mitmenschen über den Betroffenen reden; [...) Ruf und Gerücht, die sich in einem allgemeinen Raum von Reden sowohl konstituieren als auch ändern, tragen bereits in sich den Charakter der Unsicherheit und Haltlosigkeit, des Schwankens zwischen Verzerrung und Tatsächlichkeit, Eigenschaften, die offenbar gerade dem Reden zu verdanken sind. Auch die auf einen Einzelnen hin zusammengezogene Bedeutung von doxa das Dünken mit seinen beiden Richtungen des Anscheines und der Vermutung,, behält ganz diese schwankende Gestalt.“ (A. a. O., S. 19)

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  173. A. a. O., S. 40. Noch der platonische Sokrates lehnt Schrift als philosophisches Instrument und Paradigma ab (Phaidros 257c4ft; vgl. Baumhauer, Sophistik, S.80ff.).

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  174. Buchheim, Sophistik, S. 40.

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  175. A. a. O., S. 20.

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  176. Ebd.

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  177. A. a. O., S. 88.

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  178. A. a. 0., S. 83. Die Verbindung zu den,Coups’ der habituellen Semantik (vgl. Anm. 66) wird hier offensichtlich: Diese erscheinen als jeweilige Benennung des Kairos durch die Applikation von Erklärungsmustern aus dem Reservoir der Sprache. Der semantische Coups ist ein,framing’ der Situation mittels sprachlicher,patterns’; dabei gilt das Goodmansche Diktum: „Comprehension and creation go an together.“ (Nelson Goodman. Ways of Worldmaking. Indianapolis 1978 p. 22) Während aber in der habituellen Semantik sich dieser Prozeß meist hinter dem Rücken der Subjekte vollzieht und allenfalls von einigen,Benennungsspezialisten’ — Magiern, Priestern und,chiefs’ — bewußt ausgeübt werden kann, ist die Benennung des Kairos das öffentliche Thema der Sophistik. Damit erwächst die Gefahr, daß die Betrachtung des Kosmos, später der göttlichen Ordnung — ein, wie Joachim Ritter aufweist, initiatives Moment aristotelischer theoria (Ritter, Lehre, S. 24ff.) —, im Lärm des Agon untergeht. Die zwangsläufig ambivalente Haltung Aristoteles’ zur Kategorie des Kairos charakterisiert M. Kerkhoff im Artikel,Kairos’ des Hist. Wb.’s: „Jenseits des sophistischen,Opportunismus’ der totalen Verfügbarkeit der geeigneten Augenblicke kalkuliert die Nikomachische Ethik den Unsicherheitsfaktor der tyche mit ein, der die Sichtung (skopos) und Bestimmung (logos) der richtigen Zeit zu einer Art experimentellen Scochastik werden läßt. Zwar gilt es als Zeichen praktischer Weisheit, wenn vor jeder Aktion das Wann mitbedacht wird — das zu früh oder zu spät Getane entwertet die Praxis —, aber gerade die kluge Ausmittelung situativer Möglichkeiten stößt auf ein Element des Unverfügbaren, das andererseits erst die Bedingung der Möglichkeit von Glück (eutychia, eudaimonia) zu sein scheint, [...1” Vgl. M. Kerkoff. Zum antiken Begriff des Kairos. In: Zschr. f philos. Forsch. 27 (1973) S. 256–274.

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  179. Buchheim, Sophistik, S. 84.

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  180. A. a. O., S.85.

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  181. A. a. O., S. 87.

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  182. Vgl. a. a. O., S. 41.

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  183. A. a. O., S.18 (Anm. 45).

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  184. Der Entelechiebegriff sichert den Phänomenen der Kraft eine substantielle Grundlage. Deutlich wird dies in Leibniz’ Definition: „Die tätige Kraft — man bezeichnet sie mit einigen nicht übel als Wirksamkeit (virtus) — ist doppelter Art. Sie stellt sich erstens als primitive Kraft dar, die jeder körperlichen Substanz innewohnt — da, meiner Ansicht nach die Natur der Dinge keinen durchaus ruhenden Körper zuläßt — oder aber als derivative Kraft. Diese ist aber gleichsam eine Einschränkung der primitiven Kraft, wie sie sich aus der gegenseitigen Wechselwirkung der Körper in mannigfacher Weise ergibt. Die primitive Kraft — die nichts anderes, als die erste entelechie, entelecheia e proté ist — entspricht der Seele oder substanziellen Form, gehört jedoch eben deshalb auch nur zu den allgemeinen Ursachen, die zur Erklärung der Erscheinung unzureichend sind. Ich stimme daher denen bei, die sich gegen die Anwendung der Formen bei Erforschung der eigentlichen und besonderen Ursachen der Sinnendinge wenden.“ (G. W. Leibniz. Specimen dynamicum. In: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. I (Hamburg 19661, S. 256–272; hier: S. 259) — Und Leibniz skizziert mit der hier ausgesprochenen Ablehnung des substantiellen Kraftbegriffs der Cambridge Platonists, der,plastic nature’ — die ihrerseits über den Begriff des hegemonikons dem logos-Begriff verpflichtet ist (der logos ist das hegemonikon der Praxis; vgl. Ijssering, Rhetorik, S. 33) —, eine Trennung von Philosophie und Praxis, in deren Zwischenraum sich die Wissenschaft — hier: die Dynamik — einschreiben kann. Auch wenn diese ihren Blick auf die Natur und die (aristotelische) Rhetorik den ihren auf das Soziale richtet: Beide stehen auf gleicher,metaphysischer Stufe und können so zu Antagonisten werden im Kampf um die Dominanz der Praxis. Eine vergleichbare Aufspaltung des Kraftbegriffs in eine substantielle und eine phänomenale Komponente — deren erstere sich die Philosophie, deren letztere sich die Dynamik zum Gegenstand nimmt — darf in der Sophistik nicht gesucht werden: Die Kraft ist das, als was sie sich zeigt — und das heißt, sie ist keine Modifikation einer Entität, sondern ist — paradox formuliert — die Substanz des Phänomens selbst: flüchtig und präsent wie dieses.

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  185. Buchheim erkennt im Elenchos — gemeinhin übersetzt als,Widerlegung’— eine „logische Figur in der Sophistik“ (Buchheim, Sophistik, S. 5); nuanciert aber sofort die implizite (erst platonische) Reduktion des Begriffs: „Der Elenchos ist nicht immer das verfolgbare Argument. Sondern wie Hektor durch seinen Sieg Tatsachen schafft, die anderen zur Schande gereicht” —,Elenchos’ bedeutet ursprünglich,Schande (vgl. Buchheim, Sophistik, S. 4f.) — „so schafft auch der sophistische Elenchos eine Tatsache, die den beschämt und entblößt, auf den er zugeschnitten ist. Wohlgemerkt, er schafft die Tatsache. Das soll heißen, daß er sie nicht nur herbeizitiert, eine Tatsache nach der anderen, und sie nicht in ihrem Ablauf und Ineinandergreifen durchschaubar in der Rede darstellt, sondern daß er die Tatsache präsentiert an seinem Schluß, eine Tatsache, die er gleichsam selber erst hervorgebracht hat. Ein Wort gibt im Elenchos das andere, er baut sich auf ohne fortwährende Prüfung der Worte an dem, was der Fall ist (d. h. aber: ohne Durchschauen durch den logos auf die onta) und überrascht die Gegner endlich mit seinem Ergebnis, das diesem in irgendeiner Weise Schande bringt.“ (A. a. O., S. 5) Wichtige Strategeme im Wortgefecht sind die Fähigkeiten, seinen Gegner der Lächerlichkeit preiszugeben und eigene Lächerlichkeit in Ernst aufzuheben. Aristoteles berichtet, daß „Gorgias empfiehlt, man müsse den Ernst der Gegner durch Lachen und ihr Lachen durch Ernst zunichte machen, {...3” (Aristoteles, Rhetorik, 1419b, S. 223) Doch schon Aristoteles dämmt die destruktive Kraft des Lachens ein, indem er sie internalisiert und sozial normiert: „Es steht aber die Ironie dem freien Mann eher zu Kopf als die Possenreißerei; denn (dabei) trägt er das Lächerliche zu seinem eigenen Vergügen vor, der Possenreißer jedoch tut es zum Vergnügen anderer.“ (Ebd. Das Beschämende ist zu vermeiden: A. a. O., 1384b, S. 105f.) Gefährlich ist Lachen, da es die Aufmerksamkeit zersetzt und infolgedessen von der Erkenntnisgewinnung ablenkt (vgl. a. a. O., 1415a, S. 207); der Rhetor aber kann sich dies im Agon zunutze machen, indem er mit seiner Hilfe im Bewußtsein der Zuhörer Raum schafft für die eigene Argumentation (vgl. a. a. O., 1418b, S. 219). Das entscheidende Kriterium für die Lizenz des Lachens liegt in seiner Bezogenheit auf den Begriff und damit implizierter Verschonung der Person (s. o.): Ironie als invertierender Wort-und Gedankentropus wird zum Paradigma sozialen, i. e. ethischen Lachens. Obgleich Aristoteles Gorgias als Gewährsmann fir seinen Ironiebegriff anführt (vgl. a. a. O., 1408b, S. 183) ist die Trennung von Argument und Person nicht sophistisch, sondern erst sokratisch, denn sie setzt eine begriffliche Semantik voraus, wie sie erstmals in der platonischen Wort-EidosLehre formuliert ist. Die Ironie gilt auch Cicero als humanste — urbane — Form des Lächerlichen (Cicero, De or, II, 216–290; bes. 269f.), und sie bewahrt diese herausragende Stellung bis in die Neuzeit: bis zu Shaftesbury’s,fine raillery’, die den,test by ridicule’ erst sanktioniert, und — gemäß rationaler Episteme gewendet — zu den idealistischen Humortheorien. Da die Ironie aber als Spannung zwischen zwei Begriffen wesentlich ein Abstraktum ist, kann sie nur als,Plötzlichkeit’ begreifen, was jeder Komödie erst zur Wirkung verhilft: ihre zeitliche Rhythmik: timing.

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  186. Buchheim, Sophistik, S. 15; vgl. Baumhauer, Rhetorik, S. 37ff. u. Fuhrmann, Rhetorik, S. 12.

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  187. Vgl. Buchheim, Sophistik, S. 123ff. Buchheim resümiert: „Sophistische Erziehung ist nicht Überformung der Natur, so daß die Physis eine feste, bleibende Grundlage aller Erziehung wäre, an der sich der Erziehende ebenso wie der Erzogene orientieren könnte, sondern in der sophistischen Erziehung ist die Physis selbst einer permanenten Veränderung unterzogen. Die Physis ist also Ausgangsstadium für die Erziehung, benötigter Ansatzpunkt, was aber nicht bedeutet, daß die Beeinflussung durch Erziehung nicht ebenso physisch wäre.“ (A. a. O., S. 126) Dies wird unmittelbar plausibel, wenn man sich vor Augen führt, daß die Sophistik keinen Begriff der Physis kennt; Physis ist das jeweilig in die Situation Geratene, das nach Bewältigung ihrer Aufgabe verändert aus ihr hervorgeht. „Lehren ist im sophistischen Verständnis ein Beibringen und Lernen nicht eigentlich verstehendes Lernen, sondern Geprägt-werden. Schon aus der Peithio-Lehre des Gorgias [...J ist das absehbar gewesen, und typisch ist jener Veränderungsprozeß der Erziehung, wie ihn die Sophisten sahen, formuliert im Munde des Protagoras durch Platon: O fUEV ic t’pOÇ (ap/axOlç/erar3a.a.E1, o 6E ao puorrç AO?4is -,Der Arzt verändert durch Drogen, der Sophist durch Reden’ (Tht. 167a 5–6).” (A. a. O., S. 124) Die Prägung durch Situationen — Buchheim beschreibt sie auch als „Assimilationsprozeß“ (a. a. O., S. 125) —,identifiziert’ das Subjekt mit seiner Praxis, ohne daß es über ein Bewußtsein dieses Prozesses verfügen müßte. Gegen die Überbewertung von Reflexion insistiert die Sophistik auf der Bedeutung der Lebenswelt und unterstreicht die Wirkung ihrer Spuren. Sophistik als Pädagogik kann paradoxerweise deshalb nur den bewußten Umgang mit Lebenswelt bedeuten — diese ist gerade nicht vernachlässig-bar, da es ihr keine Möglichkeit gibt, lebensweltliche Defizite reflektorisch zu kompensieren — und was ist letztlich die,platonische Erziehung’ anderes als Habitualisierung begrifflichen Denkens und Restriktion des Situativen, d. h. des Weltlichen, wie es begegnet? Da die Habitus sowohl positiv als auch negativ sein können, fordert die sophistische Erziehung sorgfältigen Umgang mit Situationen, d. h. gleichermaßen mit sich wie mit der Welt: „Ihr Fortschritt hat etwas Allmähliches. In langen Zeiträumen sammeln sich unmerkliche Steigerungen zum bestimmten, erworbenen Habitus; mit allem muß man deshalb von klein auf beginnen. Die Allmählichkeit und Unmerklichkeit des Fortschritts führt zu einem charakteristischen Dilemma. Denn das Erziehungsergebnis ist für einen Zögling nicht klar antizipierbar, solange er es noch nicht erreicht hat; ist er aber angelangt, so kann die vollzogene Prägung nicht wieder rückgängig gemacht werden. Ein Habitus oder eine erworbene Fähigkeit hat sich unversehens eingestellt.” (A. a. O., S. 123f. Hervorhebung im Orginal)

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  188. A. a. O., S. 88.

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  189. A. a. 0., S. 98.

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  190. A. a. 0., S. 108. D.h. aber: „Sophistik und Rhetorik, die uns hier zusammen angehen, sind demnach in platonischen Augen keine Technai, sondern Erfahrungstätigkeiten“ (a. a. O., S. 121), da sie keinen spezifischen Gegenstand haben und ihnen damit ein Ideal, auf das sie bezogen sein müßten, fehlt: „Sophistische Techne versteht sich als der Inbegriff menschlichen Könnens. Aufgrund dieser Umfassendheit erbringt sie kein bestimmtes ergon, in Orientierung auf welches auch ihr innere Struktur einer kontrollierten Organisation unterworfen wäre. Ihr ergon formiert sich stets erst in und mit ihrer Ausübung. Sie ist somit nicht theoretisch, sondern nur praktisch zu rechtfertigen. Zur Durchführung ihrer Aufgabe, welche nicht weniger ist als die Bewältigung des Lebens überhaupt, bedient sie sich vor allem dessen, was in der Sophistik als universelles Organon menschlicher Einflußmöglichkeit gilt: des Logos. /Der universale Anspruch sophistischer Techne löst sich ein in der Form von vielseitg ver-und anwendbaren Kunstgriffen und Richtlinien, deren Vermittlung mit dem konkreten Fall undurchschaubar bleibt bzw. wiederum nur durch die Praxis selbst nachvollziehbar ist: (...) Alles in allem gilt: sophistische Kunst gleicht der Artistik mehr als der Technik.” (A. a. O., S. 121 )

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  191. Schlagwortartig: Sie ist keine Präsenzmetaphysik. Und dies ist entscheidend für die Rhetorik bzw. ihr post-aristotelisches Mißverständnis: Rhetorik gelangt nicht zur (begrifflichen) Präsenz eines Urteils. Die Gegenwart der Entscheidung übersteigt die Sprache indem sie zur Handlung treibt. — Und die Handlung schafft eine neue Situation. Paradigmatisch für das genus iudiciale formuliert: Das Urteil sagt nicht die Wahrheit über den Angeklagten — es negiert ihn als Angeklagten, denn es überführt ihn in den Status des Verurteilten oder des Freigesprochenen.

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  192. Vgl. a. a. O., S. 51.

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  193. A. a. O., S. 49.

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  194. A. a. O., S. 49f. Das Zitat fährt fort: „Weil metron die im Vollmaß erschlossene Sache ist, fungiert es schon früh als besonderes Ziel geistigen Verstehens“, um mit dem Beleg, einer Hesiod-Stelle (Erg. 648) zu enden (a. a. O., S. 50). Die Differenz zur platonischen und der ihr folgenden Philosophie findet ihren Ausdruck in der signifikanten Opposition von metron und kriterion als Gegensatz sachimmanenter und sachtranszendenter Bemessungsgrundlage. Denn das kriterion ist ein Maß, das „von jemandem an etwas erst herangetragen wird. kriteria hat man (d. h. verfügt über sie, hat eine Distanz zu ihnen), auch ohne daß das zu Beurteilende aktuell vorhanden ist. Beurteilendes und Beurteiltes sowohl wie Beurteilendes und Beurteilender sind nie identisch, sondern bleiben einander äußerlich. Nur unter diesen Bedingungen ist logisch ein Meßvorgang denkbar, ist eine Norm tatsächlich eine Norm. Die ältere Vorstellung von metron aber erfüllt beide logischen Bedingungen gerade nicht: Weder ist das Maß distinkt vom Menschen — der ganze und nicht nur ein Teil, etwa sein Erkenntnis-und Wahrnehmungsvermögen, ist nach dem HMS das Maß ohne Distanz zu ihm — noch ist es dem Gemessenen enthoben, sondern gehört zur gemessenen Qualität selbst. Dieser logische Status des Wortes metron (bedeutet), daß es nicht angewendet wird auf Sachen, sondern sachverbunden gedacht wurde und in seiner Eingebundenheit die Qualität selbst erst erschließt und ausdrücklich macht, {...)” (A. a. O., S. 48f.) Und Buchheim faßt aus abstrakter Perspektive noch einmal zusammen: „Auch das,Mal aller Dinge’ ist — so verstanden — nicht souverän über sie, sondern in sie gebunden, wie jene schon immer in ihrem Maß sind, um diese Dinge zu sein. Beide zusammen sind aus gegenseitiger Angemessenheit eine wohlbemessene Einheit. Und auch die Erkenntnisfunktion des MetronBegriffs, {...), muß im metron des HMS eingerechnet werden: Im metron ist alles zugänglich und erschlossen; im metron sind alle Dinge als sie selbst aufgenommen und vergegenwärtigt.“ (A. a. O., S. 52) Widerschein dieses Begriffs in der systematisierten Rhetorik ist das Gebot des prepon oder aptum oder decorum — freilich ungeschieden in die später differenzierten Bereiche und noch keine Forderung, die in abstrakter Entsprechung Adäquation stilistischer mit sozialen und,wahren’ Befunden will, sondern als immanentes Telos und regulative Idee des rhetorischen Prozesses selbst. Erst wenn,Ordnung’ hypostasiert wird — z. B. die feudale —, sind Aspekte dieses diffusen Widerspiegelungsgebots, das keine Abbildtheorie zuläßt, zu definieren — so in der rota Vergilii.

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  195. A. a. O., S. 28f.

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  196. D. h. der,rhetorische Satz’ — die Einheit der Aussage — ist weder analytisch noch synthetisch zu verstehen: Er ist keine Prädikation, sondern eine Art Versuchsanordnung, die in ihrer Einheit als Modell der Situation — als ihr Name — fungiert. Doch ist dieses,Modell’ vom,Paradigma’ zu unterscheiden, da es keine metaphorische Transposition einer Erklärungsmechanik darstellt (vgl. Hans Blumenberg. Paradigmen zu einer Metaphorologie. Bonn 1960). Rhetorische Benennung fokusiert tendenziell die semantische Praxis und die Gesamtheit ihrer Verstehensmodelle — die hermeneutischen loci communes — auf die Situation, setzt sie in Beziehung und läßt sie gegeneinander arbeiten. Wie letztlich das Modell der Situation aussehen wird, ist nicht konsensuell und habituell präjudiziert; pointiert formuliert: Rhetorik ist Technik permanenten Paradigmenwechsels (vgl. Tb. S. Kuhn. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1967) semantische,bricolage’ (vgl. Claude Levi-Strauss. Das wilde Denken. Frankfurt a. M. 1977). Mit dieser Darstellung muB natürlich der Verdacht aufkommen, als solle die Rhetorik zu einer prämodemen Posthistoire und zu einem antiken erkenntnistheoretischen Anarchismus —Marke: Nie dieu — nie mètre (Hans Peter Duerr. Nie Dieu — ne mètre. Anarchistische Bemerkungen zur Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M. 1985) — stilisiert werden. Aber das sophistische/rhetorische Subjekt verfügt nicht über das Selbstbewußtsein des sich in seiner Theorie, d. h. in seinen Begriffen omnipotent wähnenden autonomen Erkenntnissubjekts; es ist als praktisches durch die Sedimente seiner bisherigen Praxis weitgehend,konditioniert’ (vgl. Anm. 66), aktuell in die soziale Situation eingebunden (— auf diese, als semantische begriffen, reduziert der Kontext-Begriff die Rhetorik zumeist) und überdies den spezifischen Anforderungen des Kairos ausgesetzt.

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  197. In gewisser, auf die Bedingungen der rationalen Episteme zugeschnittener Weise, entspricht dieser Semantik die Differenzierung in index und cluster. Dennoch ist Wahrheit — der logos der Situation — kein Kohärenzphänomen und kein Relativum der begrifflichen Benennung, sondern referiert de re auf die Situation (vgl. Hillary Putnam. Die Bedeutung der Bedeutung. Frankfurt a. M. 1979; Saul Kripke. Name und Notwendigkeit. Frankfurt a. M. 1981). Diese ist zugleich absolut transzendent, kann nicht begrifflich aufgehoben werden und absolut immanent, ist nichts anderes als Kraft ihrer Benennung.

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  198. Für den juristischen Bereich gehört die Status-Lehre zu den früh ausgearbeiteten Teilen der Rhetorik (vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 28f; vgl. Heinrich Lausberg. Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München ‘1973, § 79–138). Im Zeitalter der rationalen Episteme ist sie anscheinend bedeutungslos, doch zieht sich die Frage nach dem Status der Rationalität selbst als toter Faden durch die Geschichte von Philosophie und Wissenschaft in der Neuzeit: als Frage nach dem Status der Logik, nach dem Status der rationalistischen Philosophie (z. B. in der Auseinandersetzung zwischen Wolff-scher und pietistischer Philosophie), als Frage nach der Beziehung von Möglichkeit und Wirklichkeit (Leibniz — Kant), invertiert als Frage nach dem Wunderbaren und der Phantasie, als Frage nach dem Status der Mathematik und der nach der Möglichkeit und Bedeutung logischer Grammatik. Dabei ist freilich die traditionell primäre Differenzierung in Fragen, die das genus rationale — die Argumentation selbst — und solche, die das genus legale — den Bereich der Gesetzesauslegung, d. h. Fragen nach der Geltung der Applikation allgemeiner Sätze auf einen Sachverhalt — betreffen, gemeinhin außerhalb der Diskussion und treten nur dann in Erscheinung, wenn,weiche Disizplinen’ (mit narrativer Struktur) wie die Geistes-und Sozialwissenschaften oder die Psychoanalyse für sich,wissenschaftliche’ Geltung beanspruchen.

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  199. Vgl. Lausberg, Elemente, S. 29.

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  200. Dabei ist z. B. an die innovative und visualisierende Kraft der Metapher zu denken, die Aristoteles als Vor-Augen-Führen bezeichnet (Aristoteles, Rhetorik, 1411bff., S. 193ff.). Achill verhält sich in der Schlacht nicht analog einem Löwen, sondern er ist situativ (in der Schlacht) Löwe (löwenartig), eine Vorstellung, die animistischen Weltbildern geläufig ist und erst nach der Sistierung konsistenter Substanzen als ‚übertragen’ verstanden werden muß. Erst wenn Löwe-Sein (situatives Verhalten) nur Löwen (der Spezies) zukommt (und sie auf diese Eigenschaft als auf ihre Substanz reduziert sind), kann Achill (der Achill-artig sein muß) ihnen allenfalls ähneln (vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 274).

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  201. A. a. O., S. 253. Dem scheint zu widersprechen, daß, so Lausberg im Handbuch, die res nicht nur ein dubium, sondern auch ein certum sein kann (Lausberg, Handbuch, S. 59,2 u. S. 239). Doch bewirkt die res certa eine Verlagerung des Interesses: Der Hörer achtet nun nicht mehr auf die Sache, sondern beurteilt die Qualität der Rede (vgl. ebd.). Die Rede selbst ist zur res dubia geworden; anscheinend verhandelte Sachverhalte sind in diesem Sinne nicht Gegenstand, sondern lediglich Beispiel. Gegenstand ist die Rede selbst.

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  202. Vgl. Anm. 128.

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  203. Lausberg, Elemente, S. 2: „Die Rhetorik ist ein mehr oder minder ausgebautes System gedanklicher und sprachlicher Formen, die dem Zweck der vom Redenden in der Situation beabsichtigten Wirkung dienen können.“

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  204. Vgl. a. a. O., § 29.

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  205. Die Handlung ist diejenige Einheit, auf welche das,lebendige’, das,wirkende’, pneumatische Wort Bezug nimmt.

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  206. Der,auditive Text’ der Rhetorik wäre demnach zu bestimmen als teleologische und zugleich kairologische Extension des Moments der Benennung. Dabei kommt dem Kairos besondere Bedeutung zu, da das Telos sonst wiederum abstrakt und u-topisch, d. h. als Begriff gefaßt werden könnte. (Der Kairos ist keine Plötzlichkeit: keine 0-Extension, sondern eher ein diskretes zeitliches Gebilde, die zirkulär geschlossene Eigenzeit der Situation.) In diesem Zusammenhang bedeutet,Sprachhandlung’ nicht geregelte Transformation des sprachlichen Systems, die auf ihr gestisches Arsenal hin zu untersuchen wäre — womit einer solchen Methode weder Dignität noch Relevanz abgesprochen werden soll (dazu vgl. Karlheinz Stierle. Text als Handlung. München 1975) — sondern eben die konkreten, spezifischen — und darum nicht systematisch exponierbaren — Handlungsintentionen des rezipierenden Subjekts.

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  207. Das hysteron-proteron begrifflicher Rhetorik wird deutlich, wenn Lausberg bei Behandlung der Amplifikation formuliert: „Der objektive Sachverhalt wird also sozusagen von den Parteien verschieden gefärbt.“ (Lausberg, Elemente, § 73,1)

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  208. Daß das „lineare Kontinuum der Geschichte“ sich als „Sukzession von Situationen” zeigt, setzt bereits einen Essentialismus voraus, der hinter einer Oberfläche diskreter Phänomene die Konstanz eines begrifflichen Systems annimmt und die Phänomene nur noch als Positionen in diesem System fassen kann.

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  209. In der Behandlung des status finitionis, der die Frage: Quid fecerit? (Was hat er getan?) thematisiert, wird das Dilemma Lausbergscher Sprachkonzeption deutlich: Jeder Bezeichnung entspricht ein,Synonymfeld’ (a. a. O., § 106), jedem Wort ein,Sachfeld’ oder,Bedeutungsfeld’ (a. a. O., § 108). Bedingung der Möglichkeit von Rhetorik jedoch ist, daß die Synonyme nicht synonym (äquivalent) und die möglichen Bedeutungen eines Wortes nicht äquipollent sind.

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  210. Infinitisierung’ durch Applikation von loci communes bedeutet nicht einfach Verbegrifflichung der Situation im Sinne ihrer Subsumption unter allgemeine Kategorien (vertikale Benennung), sondern buchstäbliche Expansion ihrer Bedeutung durch Kontextualisierung, durch Bezugnahme auf weitere Bereiche der Praxis (horizontale Benennung, Erweiterung des Geltungsbereiches). Dadurch wird die praktische Bedeutsamkeit des Urteils erhöht, nicht jedoch sein Wahrheitswert. Eine nicht-methodische Infinitisierung für das ungebildete Publikum ist durch das Einstreuen von Sentenzen möglich. Während Lausberg (a. a. O., S. 398) die Sentenzen den loci communes — und damit der Topik — subsummiert, gelten sie Aristoteles nicht als Elemente eines Enthymems, sondern als verkürztes Enthymem (Aristoteles, Rhetorik, 1394a, S. 136), haben also, ähnlich wie bei Quintilian (vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 250ff.), Urteilsstruktur. Doch was strukturell als Widerspruch erscheint, ist es pragmatisch nicht, denn die Sentenzen funktionieren quasi-topisch (im Ciceronianischen Sinn); ihr Korpus ist gewissermaßen eine Topik gesellschaftlich verbindlicher Urteile für Vernunftschwache: „Für die Rede stellen die Sentenzen eine große Hilfe dar wegen der äußerst ungebildeten Art der Zuhörer. Sie freuen sich nämlich, wenn jemand durch den Ausspruch eines allgemeinen Satzes zufällig die Ansichten trifft, die jene im speziellen Fall haben. Was ich meine, wird auf folgende Weise klar, zugleich aber auch, wie man sie gewinnen muß; denn die Sentenz ist — (...j — ein Ausspruch, der auf das Allgemeine zielt, und die Zuhörer freuen sich, wenn das als allgemeingültig ausgesprochen wird, was zufällig in einem speziellen Fall schon vorher ihre Meinung war, wenn z. B. jemand zufällig böse Nachbarn oder mißratenen Kinder hat, so wird er es gut heißen, wenn der Redner sagt:,Nichts ist beschwerlicher als Nachbarschaft’ oder,Nichts ist törichter, als Kinder zu zeugen’.“ (Aristoteles, Rhetorik, 13956, S. 140) In ihrer Eigenschaft als plausible Formulierung des allgemein Gültigen kommt ihnen bei Aristoteles wichtige Funktion zu, denn sie weisen jenen, der in Sentenzen redet, als Verkörperung der öffentlichen Person aus: „Sie [die Sentenz) macht nämlich die Rede zu einer ethischen Rede. Charakter (ethos) besitzen nämlich die Reden, in denen die Gesinnung des Redners offenkundig wird. Dies aber bewirken alle Sentenzen, weil derjenige, der sie ausspricht, in allgemeingültiger Weise dartut, wonach zu streben sei.” (Ebd.)

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  211. Was natürlich an Nietzsche gemahnen soll in dem Sinne, daß die,Wiederkehr des Gleichen’ als situative und kairologische Reproduktion des Sinns der,Begriffe’ und dadurch als Vermeidung des (Begriffs-),Nihilismus’ verstanden wird. (— Und gleichzeitig den,Willen zur Macht’ entmystifizieren könnte. Vgl. Steffen Stelzer. Der Zug der Zeit. Nietzsches Versuch der Philosophie. Meisenheim a. Glan. 1979.)

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  212. Vgl. Luhmann, Systeme, S. 91–147.

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  213. Nur wenn das Verfahren als solches plausibel ist, kann seine Applikation als sinnvoll erscheinen. Die Applikation des Verfahrens aber stellt an sich schon eine Form der Benennung einer Situation dar, sie wird in der Statuslehre thematisiert. Schlagwortartig formuliert: Die Sophisten, die von sich behaupten, über alles reden zu können, schweigen sich über eines beharrlich aus: über Begriffe.

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  214. Nur als,öffentlichen’ ist ihren Entitäten per se Wirksamkeit sicher. Dies bedeutet auch, daß die Rhetorik ex definitione Hermeneutik unmöglich macht: Indem sie sich mit der Performanz ihrer Inhalte identifiziert, gibt es für sie keine Authentizität des Textes; wenn ein Verstehen zweifelhaft erscheint, wird es nicht hermeneutisch gesichert, sondern rhetorischagonal gedoppelt, wobei sich die,wirksamste Auslegung’ als gültige (= wahre) behauptet. (Ein,Relikt’ solcher Auslegungspraxis stellen das,Diskussionsverfahren’ der katholischen Kirche dar: Seine in den kanonischen Urteilen institutionalisierten Wahrheiten sind allenfalls subsidär hermeneutische Befunde, primär aber Institutionalisierungen der dominanten interpretatorischen Gewalt in dieser Organisation.)

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  215. Vgl. Bomscheuer, Topik, S. 26.

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  216. A. a. O., S. 70.

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  217. A. a. O., S. 30.

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  218. Ebd.

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  219. A. a. O., S. 591f.

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  220. Doch präsentiert diese Oberfläche genau das, was, folgt man Bourdieu (s. o.), in den (Un-)Tiefen systematischer Beschreibung verborgen bleibt: Herrschaftsstrukturen.

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  221. A. a. O., S. 54. Roland Barthes sieht in der Topik zugleich eine „Geburtshelferin des Latenten: eine Form, die Inhalte artikuliert und dadurch Sinnfragmente, intelligible Einheiten hervorbringt“ (Barthes, Rhetorik, S. 69), und einen „großen Umschlagplatz für Distributionen (das dispatching)” (a. a. O., S. 70), an dem die Topoi als „Bestandteile einer syntagmatischen Kombinatorik“ fungieren (ebd.).

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  222. Aristoteles, Rhetorik, 1396b, S. 143.

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  223. Ebd. u. 1403a, S. 165.

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  224. A. a. O., 1397aff., S. 144ff.

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  225. Vgl. a. a. O., 1401aff, S. 157ff. Beispiel sind die Topoi des fehlerhaften Gebrauchs eines sprachlichen Ausdruck, der Homonymie, der falschen Ursache und — von Aristoteles als Kennzeichen sophistischer Rede akzentuiert — die Verwechslung allgemeiner Bedeutung mit spezifischer (a. a. O., 1402a, S. 160). Diese Trennung von sprachlicher Oberfläche und wahrheitsfeststellendem Diskurs setzt begriffliche Semantik voraus und ist somit erst Produkt nachplatonischer Philosophie. Mit ihr beginnt die Separierung der Wirkungskomponente, auf welche die Rhetorik schließlich reduziert werden wird.

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  226. Über die aristotelische Lust am Allgemeinen vgl. Anm. 210: zur Sentenz. Cicero formuliert: „Ornatissimae sunt igitur orationes ea, quae latissimae vagantur et a privata et a singulari controversia se ad universi generis vim explicandam conferunt et convertunt, ut ei, qui audiant, natura et genere et universa re cognita de singulis reis et criminibus et litibus statue-re possint.“ — „Am wirkungsvollsten sind die Reden, die besonders weit ausgreifen und von der individuellen, einzelnen Streitfrage zu einer wesentlichen und grundsätzlichen Erklärung führen; so können die Zuhörer sich nach der Erkenntnis der wesentlichen und grundsätzlichen Gesichtspunkte ein Urteil über die einzelnen Angeklagten, Vorwürfe oder Streitfragen bilden.” (Cicero, De or 3, 120, S. 520 )

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  227. Bomscheuer, Topik, S. 67

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  228. Ebd. (Das Binnenzitat ist aus: M. T. Cicero. Brutus. Lot.-dt. Ausg. v. B. Kytzler. München 1970 S. 46.)

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  229. Borscheuer, Topik, S. 80.

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  230. A. a. O., S. 87. Bild des inventiven Subjekts bei Cicero ist der stöbernde Jagdhund (De or 2, 147ff. S. 298; vgl. Marcus Fabius Quitilianus. Institutions Oratoriae Libri XII. Hrsg. u. übers v. Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1972 u. 1975, V, 10, 21).

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  231. Bornscheuer, Topik, S. 88. Bornscheuer fährt fort: „Die Erzeugung einer unbegrenzten Aussagenfülle mit Hilfe eines quantitativ relativ beschränkten Hauptinstrumentariums ist nicht nur ein Grundgedanke Ciceros, sondern der topischen inventio-Lehre schlechthin.“ (A. a. O., S. 88f.)

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  232. Sumpta re simili verba illius rei propria deinceps in rem aliam, ut dixi, transferuntur. Est hoc magnam ornamentum orationis, [...}“ (Cicero. De or 3, 167, S. 548f.)

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  233. etenim verecunda debet esse translatio, ut deducta esse in alienum locum, non inrupisse, arque ut precario, non vi, venisse videatur.“ (A. a. 0., 3, 165, S. 548) Zur Rhetorik als erotische — um einen Begriff von Paul de Man aufzunehmen, der in Kapitel 5 aktuell werden wird —,logic of seduction’ vgl. Cicero, De or 3, 96, S. 506: „Ornatur igitur oratio genere primim et quasi colore quodam et suco suo; nam ut gravis, ut suavis, ut erudita sit, ut liberalis, ut admirabilis, ut polita, ut sensus, ut doloris habeat quantum opus sit, non est singulorum articulorum; in toto spectantur haec corpore. ut porro conspersa sit quasi verborum sententiarumque floribus, id non debet esse fusum aequabiliter per omnem orationem, sed ita distinctum, ut sint quasi in ornatu disposita quaedam insignia et lumina” — „Der Schmuck der Rede also liegt grundsätzlich zunächst gewissermaßen in ihrer Farbe und in ihrer Frische. Denn daß sie eindrucksvoll, anziehend und gebildet wirkt, edel, bewundernswert und elegant, daß sie so viel Empfindung und Bewegung wie erforderlich ausdrückt, bewirken nicht einzelne Glieder; das tritt an ihrem ganzen Organismus in Erscheinung. Damit sie ferner gleichsam von Formulierungs-und Gedankenblitzen sprüht, muß ihr Glanz nicht gleichmäßig über der gesamten Rede ausgebreitet, sondern so differenziert sein, daß sich gleichsam gewisse Höhepunkte und Glanzlichter in ihrem Schmuck verteilen.“ Diese gebildete anmutige Frau (vgl. auch a. a. 0., 3, 199, S. 572) — noch keine majestätische Kriegerin wie später bei Marius Capella — wird Augustinus versklaven, vergewaltigen und mit dem nome du perle infizieren (vgl. Ueding/Steinbrink, Grundriß, S. 46).

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  234. Nihil est enim in return natura, cuius nos non in aliis rebus possimus uti vocabulo et nomine.“ (Cicero, De or 3, 161, S. 546)

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  235. vel quod in singulis verbis res ac totum simile conficitur, [...3“ (Cicero, De or 3, 160, S. 546)

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  236. Omnis igitur oratio conficitur ex verbis; quorum primum nobis ratio simpliciter videnda est, deinde coniuncte.“ (Cicero, De or 3, 149, S. 538) — (Merklin übersetzt hier wie an anderen Stellen „verbis” mit „Worte“ statt mit „Wörter”. Dies wird jeweils stillschweigend korrigiert.)

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  237. non est [...3 in verbo modus hic, sed in oratione, id est, in continuazione verborum.“ (Cicero, De or 3, 167, S. 550)

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  238. Vgl. Cicero, De or 3, 155ff., S. 542ff., bes. 160, S. 544: Cicero führt vier Gründe für die Bevorzugung metaphorischer Ausdrucksweise an: „Id accidere credo, vel quod ingeni specimen est quoddam translire ante pedes posita et alia longe repetita sumere; vel quoll is, qui audit, alio ducitur cogitatione neque tarnen aberrat, quae maxima est delectatio; vel quod in singulis verbis res ac totum simile conficitur; vel quoll omnis translatio, quae quidem sumpta ratione est, ad sensus ipsos admovetur, maxime oculorum, qui est sensus acerrimus.“ — „Das mag entweder daher rühren, daß es ein gewisses Zeichen von Genie ist, das zu übergehen, was einem vor den Füßen liegt, und etwas anderes zu nehmen, das so weit hergeholt ist; oder es kommt davon, daß der Zuhörer in Gedanken in eine andere Richtung geführt wird, ohne freilich von dem rechten Wege abzuirren, was besonders reizvoll ist; oder der Grund besteht darin, daß ein Wort jeweils eine Wirklichkeit und ein vollständiges Gleichnis entstehen läßt, oder es liegt daran, daß jede Übertragung, die man mit Verstand vornimmt, unmittelbar die Sinne anspricht, vor allem den Gesichtssinn, der besonders lebhaft reagiert.”

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  239. Bornscheuer, Topik, S. 60.

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  240. Nam cum omnis ex re acque verbis constet oratio, neque verba sedem habere possunt, si rem subtraxeris, neque res lumen, si verba semoveris.“ (Cicero, De or 3, 19, S. 458)

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  241. Der Rekurs auf die,consuetudo’ bleibt für die rhetorisch geprägte Semantik bis ins 17. Jahrhundert maßgebend. Doch bedeutet der Begriff keine wertfreie Akzeptanz aller Sprachpraxis, sondern exponiert stets die Sprachkonventionen der herrschenden Schicht. Bornscheuer spricht besonders der Topik eine „eminent klassenspezifische Integrationsfunktion“ zu (Bornscheuer, Topik, S. 51; vgl. 46ff).

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  242. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1408a, S. 182: „Auch die Glaubwürdigkeit eines Sachverhaltes wird durch den Gebrauch des nomen proprium erhöht. Die Seele macht nämlich den Trugschluß, als spräche man die Wahrheit, weil Menschen in solcher Lage sich so verhalten. Folglich meinen sie, selbst wenn es sich nicht so verhält, wie der Redende es darstellt, daß die Angelegenheit sich so verhalte.“

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  243. Den, wie Bornscheuer formuliert „locus classicus der ciceronianischen Sprachkunstlehre“ (Bornscheuer, Topik, S. 81) aus Cicero, De or 3, 125, S. 524: „rerum enim copia verborum copiam gignit; et, si est honestas in rebus ipsis, de quibus dicitur, existit ex re naturalis quidam splendor in verbis” übersetzt er selbst mit: „Denn die Fülle an Sachen (= Vielseitigkeit und Bedeutsamkeit der Gedanken oder Sujets) erzeugt die Fülle an Worten (= Vielzahl, Mannigfaltigkeit und stilistischer Schmuck), und wenn in den Sachen selbst, von denen man redet, Würde liegt, so entspringt aus der Sache eine gleichsam Naturhafte Anmut in den Worten.“ (ebd.) Merklin übersetzt folgendermaßen: „Fülle des Stoffs bringt nämlich Fülle des Ausdrucks hervor, und wenn im Stoff, von dem die Rede ist, selbst Würde liegt, so tritt im Ausdruck auf Grund seines Inhalts auch ein ganz natürlicher Glanz in Erscheinung.”

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  244. Aus der Not geboren, die eine fehlende Benennung durch Übertragung aus einem anderen Gebiet (durch Kon-Stituierung) zu kompensieren suchte, hat die Metapher für Cicero mittlerweile auch offensiv amplifikatorische Funktion gewonnen: „Quod enim declarari vix ver-bio proprio potest, id translato cum est dictum, inlustrat id, quod intellegi volumus, eius rei, quarr, alieno verbo posuimus, similitudo. Ergo haec translationes quasi mutuationes sunt, cum quod non habeas aliunde sumas, illae paulo audaciores, quae non inopiam vindicant, sed orationi splendoris aliquid accessunt; [...}“ — „Sofern man nämlich etwas, was sich mit dem eigentlichen Ausdruck kaum erklären läßt, auf übertragene Weise bezeichnet, so verdeutlicht die Ähnlichkeit der Sache, die wir mit dem uneigentlichen Wort einführen, das, was man verstehen soll. So sind die Übertragungen gleichsam Anleihen, da man etwas, das man nicht hat, anderswoher nimmt. Ein wenig kühner sind diejenigen, die nicht der Not abhelfen, sondern der Rede etwas Glanz verschaffen.” (Cicero, De or 3, 155f., S. 542) Die Metapher ist — trotz aller Warnung vor abusus — eine zivilisatorische Errungenschaft und ein Produkt kultivierter Erotik: „[modus transferendi verbi) quern necessitas genuit inopia coacta et angustiis, post autem iucunditas delectatioque celebravit. Nam ut vestis frigoris depellendi causa reperta primo, post adhiberi coepta est ad ornatum etiam corporis et dignitatem, sic verbi translatio instituta est inopiae causa, frequentata delectationis.“ — „Sie [die Möglichkeit, ein Wort in übertragener Bedeutung zu gebrauchen) hat der Zwang des Mangels und der Enge hervorgebracht, dann aber das Vergnügen und der Reiz vermehrt. Denn wie man das Gewand zuerst erfand, um sich der Kälte zu erwehren, dann aber anfing, es auch anzuwenden, um dem Körper Schmuck und Würde zu verleihen, so wurde auch die Übertragung eines Wortes aus Mangel eingeführt, doch zum Vergnügen häufig wiederholt.” (Cicero, De or 3, 155, S. 542; vgl. 3, 157ff., S. 542f. [Anm. 115)) Die rationale Sprache der Naturwissenschaft gebraucht die Metapher wieder aus Not.

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  245. Bornscheuer, Topik, S. 158; vgl. S. 95f. u. 193.

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  246. Vgl. a. a. O., S. 171f.; sowie S. 141 u. 154.

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  247. A. a.O., S. 174.

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  248. A. a.O., S. 184.

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  249. Zum utrumque-partem-Prinzip vgl. a. a. O., S. 98 u. 177.

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  250. Bornscheuer weist wiederholt auf konzeptionelle Parallellen zwischen der Rhetorikkonzeption Ciceros und jener der Sophistik hin (a. a. O., S. 62, 66, 72, 84) und bezeichnet sogar die ciceronianische als „Rehabilitierung der von der Sophistik entwickelten Amplifikationsrhetorik“ (a. a. 0., S. 76). Trotz erheblicher erkenntnistheoretischer Differenz — die Sophistik sah,Rhetorik’ als unmittelbare Praxis, für Cicero ist sie eine Art Meta-Praxis, die wissenschaftliche und philosophische Praxen integriert (Cicero, De or 3, 55ff., S. 480ff.) — und trotz dadurch bewirkter Verengung auf das Gesellschaftliche ist die Ausgangserfahrung Ciceros fast identisch mit der dargestellten sophistischen: „Sed quoniam oppressi iam sumus opinionibus non modo vulgi, verum etiam hominum leviter eruditorum, qui, quae cornplecti tota nequeunt, haec facilius divulsa et quasi discerpta contrectant, et qui tamquam ab animo corpus, sic a sententiis verba seiungunt, quorum sine interitu fieri neutrum potent, [...1” „Wir stehen aber schon unter dem Druck von Meinungen, nicht nur der breiten Masse, sondern auch der Menschen, die nur eine oberflächliche Bildung genossen haben; was sie als Ganzes nicht erfassen können, zerreißen und zerpflücken sie gleichsam, um leichter damit zu hantieren, und wie den Körper von der Seele trennen sie den Ausdruck vom Gedanken, was in beiden Fällen nicht ohne dessen Untergang geschehen kann.“ (A. a. O., 3, 24, S. 460 )

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  251. Bornscheuer, Topik, S. 103.

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  252. A. a. O., S. 103f.

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  253. A. a. O., S. 102.

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  254. A. a. 0., S. 99.

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  255. Die Einheiten der rhetorischen Semantik haben virtuellen Charakter, sie können weder auf ontologische, noch auf metaphysische oder erkenntnistheoretische Substanzialität referieren. Bornscheuer trifft diese energetische Struktur, wenn er dem Toposbegriff,Feldcharakter’ zuerkennt (vgl. a. a. 0., S. 151) und resümierend unterstreicht, „daß vor allem jede eingebürgerte Topik in einer Art feed-back-Prozeß langfristig stets auch von ihrer argumentatorischen Aktualisierung im Rahmen der gesellschaftlich relevanten Problemerörterungen abhängig ist. Topikbesitz und Topikgebrauch stellen kein starres System dar, sondern einen Regelkreis von der Art, daß eine herrschende Topik auch von innen heraus, durch kritische Reflexion auf die eigenen Bedingungen und auf deren Legitimität angesichts neuer realer Problemlagen verändert werden kann.“ (A. a.0., S. 108)

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  256. A. a. O., S. 98.

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  257. A. a. O., S. 108.

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  258. Rhetorik ist Praxis der Wörter der Praxis.

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  259. Durch Cicero ist überliefert, Gorgias und Protagoras haben als erste Abhandlungen über,rerum illustrium disputationes’ — in etwa die späteren loci communes — verfaßt (Cicero, Brutus 12, S. 46–47 ).

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  260. Bornscheuer, Topik, S. 101.

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  261. A. a.0., S. 107.

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  262. Da Bornscheuer seinen Habitusbegriff im Anschluß an Bourdieu formuliert, sind hier weitere Ausführungen unnötig.

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  263. Ausdruck dafür ist die Identifizierung des Rhetors mit dem Gründerheros (Cicero, De or 1, 33, S. 60; ders., De inv. 1,2f.; vgl. Bornscheuer, Topik, S. 86). Gegenfigur wäre ein platonischer, aristotelischer oder cartesianischer,Nomothetes’, der sich als Herr absoluter Gesetze zum Gott erheben könnte.

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  264. Diese,applikatorische Virtuosität’ beschränkt sich nämlich — siehe aptum — nicht auf die Rubrizierung des Gegenstands, sondern bezieht sich ebenso auf die soziale und anthropologische Situation.

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  265. Jedes Zeichensystem wird als Sprache verstanden; Cicero bringt dies bildlich zum Ausdruck, wenn er Sokrates als Hyper-Rhetor versteht (Cicero, De or 3, 129, S. 526 ).

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  266. Da dieser,relevante Geltungsbereich’ faktisch durch die Herrschaftverhältnisse definiert wird, steht die sophistische Rhetorik systembedingt ambivalent zwischen konservativer Integrationsbemühung und progressiver (,aufklärerischer) Emanzipation. (Zur Diskussion beider Interpretationsmöglichkeiten vgl. Buchheim, Sophistik, bes. S. 99ff.)

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  267. Vgl. Kapitel 5, Anm. 60.

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  268. Aus dieser Perspektive zu interpretieren wäre das Theorem des semantischen Sündenfalls.

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  269. Einem abstrahierenden und verbegrifflichenden Blick stellt sich natürlich das Problem: Was ist eine Situation? Antwort kann nur sein: eine Situation ist das, was als solche begriffen wurde; — doch kann man darüber reden, was sie bedeutet. Erreicht man hierin keinen praktischen Konsens, so verfällt mit der Situation der rhetorische Diskurs; nun kann allenfalls ein neuer, der die neue, andere Situation thematisiert, anheben. D. h. das Subjekt ist einer unerkennbaren Faktizität ausgeliefert. (Vgl. auch die Kairologie der gesunden, zupackenden Vernunft in der Moderne: Kapitel 4, Anm. 159)

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  270. Schlagwortartig in den Begriffen eines modernen Problems formuliert bedeutet dies: Erzählzeit und erzählte Zeit stehen in keiner Beziehung. Die Erzählzeit hat ihr Metron in sich, d. h. sie ist identisch mit der erzählten Zeit und nicht an einem abstrakten und universellen Kontinuum zu messen. In die Welt der Phänomene gespiegelt reduziert sie sich zum Moment der Rede.

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  271. Eine gewisse natürliche Voraussetzung leugnet auch die Rhetorik nicht, doch tritt sie gegenüber ihrer,Kultivierungsleistung’ in den Hintergrund (vgl.Cicero, De or 1, 113ff., S. 104ff.).

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Schneider, L.L. (1994). Zur Genealogie der theoretischen Klammer. In: Reden zwischen Engel und Vieh. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97042-8_2

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