Zusammenfassung
Wie so viele politische Begriffe steht auch der Begriff der öffentlichen Meinung unter dem Zauber einer langen Tradition. Die bis heute nachwirkende Prägung hat er im 18. Jahrhundert erhalten. Schon lange vorher war es zwar akzeptierte politische Theorie gewesen, daß der Fürst seine Festung im Herzen des Volkes habe1 und auf die Meinungen seiner Untertanen achten müsse,2 und schon immer war die Liste der Tugenden des Fürsten ein Spiegelbild von Erwartungen des Volkes gewesen. Bis zum 18. Jahrhundert war die Begriffsbildung jedoch durch zwei verschiedene Unterscheidungen bestimmt und behindert worden, nämlich durch die alte (nicht zuletzt rechtliche) Unterscheidung von öffentlich und privat und durch die Unterscheidung öffentlich/geheim.3 Damit war der Gegenbegriffsstatus des Öffentlichen unklar. Der Private wurde als civis der res publica in Anspruch genommen. Zugleich wurde aber auch das Wesen wichtiger Dinge in der Natur und in der Zivilrepublik als „geheim“ angesehen, und es brauchte mehr als zweihundert Jahre Buchdruck, um diese Semantik des Geheimen zum Einsturz zu bringen.
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Literatur
So Niccolè Machiavelli z.B. Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio II, cap. 24, und Principe cap. 20, zit. nach Opere, 7. Aufl. Milano 1976, S. 288 bzw. 110; später geradezu ein geflügeltes Wort.
Siehe z.B. Giovanni Botero, Della Ragion di Stato, 1589, zit. nach der Ausgabe Bologna 1930. S. 78 ff. (hier S. 138 auch eine Art two step flow Theorie: Der Fürst müsse zunächst die Religiosi, letterati, virtuosi gewinnen und mit deren Hilfe dann den Rest der Bevölkerung); Giovanni Antonio Palazzo, Discorso del Governo e della Ragion vera di Stato, Venetia 1606, S. 85 ff. mit der Forderung: concedere la libertà della lingua nella Republica (S. 86 ).
Zeittypische Formulierungen dieser Art z.B. bei Jacques Necker, De l’administration des finances de la France, 1784, zit. nach Oïuvres complètes, Bd. 4 und 5, Paris 1821, Neudruck Aalen 1970, hier Bd. 4, S. 49 ff.
Vgl. z.B. Ernst Brandes, Über einige bisherige Folgen der französischen Revolution in Rücksicht auf Deutschland, Hannover 1792, S. 58 f.: „Die Begierde etwas neues zu sagen, reizt sehr. Es ist weit leichter in Angriffen auf Verfassungen, Maßregeln und Menschen zu glänzen, als in Vertheidigung derselben, wo, wenn man ehrlich zu Werke gehen will, man fast immer Blößen und Unvollkommenheiten eingestehen muß…“, S. 59.
Starke Worte unter dem Motto „redet Wahrheit unter einander!“ z.B. bei Carl Theodor Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit nach ihrer sittlichen, rechtlichen und politischen Nothwendigkeit, nach ihrer Uebereinstimmung mit deutschem Fürstenwort und nach ihrer völligen Zeitgemäßheit dargestellt in ehrerbietigster Petition an die hohe deutsche Bundesversammlung, Freiburg 1830. Für die gleiche Emphase in anderem Zusammenhang vgl. Johann Paul Anselm von Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, Gießen 1821.
So Harlan Wilson, Complexity as a Theoretical Problem: Wider Perspectives in Political Theory, in: Todd R. La Porte (Hrsg.), Organized Social Complexity: Challenge to Politics and Policy, Princeton, N.J. S. 281–331.
Auch die Erkenntnistheorie gesteht neuerdings Probleme mit „Konsens“ zu, die auf genau dieser Linie liegen. Vgl. Steve Fuller, Social Epistemology, Bloomington Ind. 1988, S. 207 ff.
Das Gegenteil setzt man normalerweise wie selbstverständlich voraus, auch wenn man die alten Idealisierungen abgelegt hat. „’Public opinion’ in this discussion may simply be taken to mean those opinions held by private persons, which governments find it prudent to heed“, heißt es z.B. in dem seinerzeit einflußreichen Text von V.O. Key, Public Opinion and American Democracy, New York 1961, S. 14.
Siehe nur Elisabeth Noelle-Neumann/Heinz Maier-Leibnitz, Zweifel am Verstand: Das Irrationale als die neue Moral, Zürich 1987.
Zu solchen Aufmerksamkeitsregeln Niklas Luhmann, Öffentliche Meinung, in ders., Politische Planung, Opladen 1971, S. 9–34 (16 f.).
Vgl. Niklas Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt 1988, S. 884–905.
Siehe die Kritik dieser noch immer vorherrschenden Auffassung bei Benny Shanon, Metaphors for Language and Communication, Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 43–59.
Vgl. Klaus Kornwachs/ Walter von Lucadou, Komplexe Systeme, in: Klaus Kornwachs (Hrsg.), Offenheit — Zeitlichkeit — Komplexität: Zur Theorie der Offenen Systeme, Frankfurt 1984, S. 110–165 (116 ff.).
Das betonen z.B. im Anschluß an die Theorie der speech acts (Searle) Terry Winograd/Fernando Flores, Understanding Computers and Cognition: A New Foundation for Design, Reading Mass. 1987, S. 58 ff., 76 f.
Zur Anwendung auf die Forschungen über Massenmedien vgl. Enric Saperas, Los efectos cognitivos de la communicaciôn de masa: Las recientes investigaciones en torno de la communicaciôn de masas: 1970–1986, Barcelona 1987, S. 142 ff.
Ein typischer Vertreter dieser Position ist Achille Ardigè, Crisi di Governabilità e mondi vitali, Bologna 1980.
Siehe Fritz Heider, Ding und Medium, Symposion 1 (1926), S. 109–157. Vgl. auch Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisierens, dt. Übers., Frankfurt 1985, passim, insb. S. 271 ff.
Public opinion has become so mighty a regulator of conduct, not because it has grown wiser, but because of the greater ease of ascertaining, focusing and directing it“, meint Edward A. Ross, Sin and Society: An Analysis of Latter-Day Iniquity, Boston 1907, S. 25 in einem bei aller negativen Einschätzung intensiven Versuch, diese öffentliche Meinung selbst zu dirigieren.
Einem Lernprozeß, der im übrigen schon in den ersten Jahrzehnten nach der Erfindung des Buchdrucks, also schon im 15. Jahrhundert, also lange vor der Erfindung des Begriffs der öffentlichen Meinung einsetzt. Hierzu im Detail Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit: Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations-und Kommunikationstechnologien, Habilitationsschrift Bielefeld 1988.
Dazu Paula B. Johnson/David O. Sears, Black Invisibility, the Press and the Los Angeles Riot, American Journal of Sociology 76 (1971), S. 698–721.
Alte Einsichten der Massenmedienforschung. Siehe zu einem daraus resultierenden Bedarf für abschließende Entscheidungen (demand for closure) z.B. Gordon W. Allport/Janet M. Faden, The Psychology of Newspapers: Five Tentative Laws, Public Opinion Quarterly 4 (1940), S. 687–703 (702 f.).
Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana, Bd. 3, Den Haag 1954.
Siehe Terezinha Nunes Carraher/David William Carraher/Analûcia Dias Schliemann, Mathematics in the streets and in schools, British Journal of Developmental Psychology 3 (1985), S. 21–29; Jean Lave, The Values of Quantification, in: John Law (Hrsg.), Power, Action and Belief: A New Sociology of Knowledge, London 1986, S. 88–111; Terezinha N. Carraher/Analûcia D. Schliemann/David W. Carraher, Mathematical Concepts in Everyday Life, in: G.B. Saxe/M. Gearhart (Hrsg.), Children’s Mathematics, San Francisco 1988, S. 71–87.
Siehe hierzu das Kapitel „Geheimnis, Zeit und Ewigkeit“ in: Niklas Luhmann/Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt 1989, S. 101–137.
Die gleiche Metapher, angewandt auf den für den Beobachter undurchsichtigen Markt, bei Harrison C. White, Where Do Markets Come From, American Journal of Sociology 87 (1981), S. 517–547.
Siehe hierzu Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt 1988.
Heute als eine der vielen vergeblichen Hoffnungen umfangreich diskutiert. Vgl. nur John G.A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Political Tradition, Princeton 1975; Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, London 1981.
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Luhmann, N. (1990). Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Meinung. In: Soziologische Aufklärung 5. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97005-3_7
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