Skip to main content

Glück und Unglück der Kommunikation in Familien: Zur Genese von Pathologien

  • Chapter
Soziologische Aufklärung 5

Zusammenfassung

Die folgenden Überlegungen gehen von mehreren theoretischen Prämissen aus, die an dieser Stelle nicht eigens begründet, sondern nur knapp skizziert werden können,1 nämlich:

  1. (1)

    Bewußtseinssysteme und soziale Systeme (Kommunikationssysteme) sind getrennt existierende, jeweils operativ geschlossene autopoietische Systeme. Es gibt folglich zwischen ihnen keine operative Überschneidung, obwohl ein Beobachter gewisse Koinzidenzen als Einheiten sehen und beschreiben kann (zum Beispiel den Zusammenhang von aktuellem Bewußtseins-geschehen und Mitteilungshandeln als Teilnahme an Kommunikation).

  2. (2)

    Da Kommunikation nicht ohne Beteiligung von Bewußtsein zustande-kommen kann (und zwar weder als Mitteilung noch als Verstehen), setzt die Autopoiesis sozialer Systeme einen Mechanismus regulärer Verknüpfung voraus. Wir nennen ihn im Anschluß an Maturana strukturelle Kopplung.

  3. (3)

    Über strukturelle Kopplung werden Bewußtseinssysteme und Sozialsysteme zu geschichtlichen Systemen. Sie bleiben jeweils autonom, jeweils operativ geschlossen; aber die Fortsetzung von Operationen ist bestimmt durch ihren jeweiligen Zustand, der durch die Auswirkungen struktureller Kopplungen mitbestimmt ist.2 Nur in diesem Sinne kann man sie als zustandsbestimmte bzw. strukturdeterminierte Systeme bezeichnen.

  4. (4)

    Die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation wird im wesentlichen durch Sprache geleistet. Sprache hat (akustische, im Falle von Schrift auch optische) Formen entwickelt, die zugleich Bewußtsein faszinieren und Kommunikation transportieren. Es ist vermutlich nur eine geringe Übertreibung, wenn man sagt, daß im Laufe der Evolution Bewußtseinssysteme und Sozialsysteme, die sinnhaft operieren, erst durch Sprache entstehen, das heißt durch einen Mechanismus der Entkopplung und der strukturellen Wiederkopplung zweier Arten von Autopoiesis.

  5. (5)

    Strukturelle Kopplungen funktionieren im Normalfalle für beide beteiligten Systeme nahezu geräuschlos — also für das Bewußtsein unbemerkt und für soziale Systeme, ohne daß Kommunikation darauf gerichtet werden müßte. Der evolutionäre Gewinn, der durch Entkopplung und strukturelle Wiederkopplung erzielt wird, beruht auf dieser Geräuschlosigkeit. Nur dadurch können die beteiligten Systeme strukturdeterminierte Systeme sein und sich mit all ihren Operationen ihrer Eigendynamik widmen. Und nur dadurch ist es möglich, daß gleichwohl eintretende Störungen (und sie treten natürlich dauernd ein) in den Beteiligten die „nanu“-Form der Irritation auslösen können, die dann die Fortsetzung der jeweils eigenen Autopoiesis beeinflußt.

  6. (6)

    Familien (und heute: Intimbeziehungen im allgemeinen) profitieren parasitär von dieser Geräuschlosigkeit struktureller Kopplungen. Sie gehen davon aus, daß die Sprache ihre Funktion der „Doppelhelix“ erfüllt, also Bewußtsein und Kommunikation simultan zu prozessieren erlaubt, ohne daß dadurch ein Supersystem entstünde.3 Die Besonderheit intim gebundener Familie besteht darin, sich davon nicht tragen zu lassen, sondern gleichsam dissipative Strukturen (Prigogine) zu entwickeln. Gerade wenn und weil die strukturelle Kopplung funktioniert, kann man mehr Geräusche zulassen, das heißt: sich Gedanken darüber zu machen und sogar darüber zu kommunizieren, wie der andere denkt; ob er verstehen kann, was man sagt; ja, ob er überhaupt zuhört oder schon abgeschaltet hat und mit der Vorbereitung seiner Erwiderung beschäftigt ist.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 54.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Literatur

  1. Zur Einführung und mit weiteren Angaben zur Theoriegenealogie siehe Niklas Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.) Materialität der Kommunikation, Frankfurt 1988, S. 884–905, und ders., Sozialsystem Familie, in diesem Band.

    Google Scholar 

  2. In der Sprache Heinz von Foersters: es handelt sich nicht um triviale, sondern um nichttriviale Maschinen. Vgl. Heinz von Foerster, Principles of Self-Organization — In a Socio-Managerial Context, in: Hans Ulrich/Gilbert J.B. Probst (Hrsg.), Self-Organization and Management of Social Systems: Insights, Promises, Doubts, and Questions, Berlin 1984, S. 2–24 (8 ff.), ders., Abbau und Aufbau, in: Fritz B. Simon (Hrsg.), Lebende Systeme: Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, Berlin 1988, S. 19–33. Vgl. auch Fritz B. Simon, Unterschiede, die Unterschiede machen: Klinische Epistemologie:

    Google Scholar 

  3. In other words, the fundamental principle that governs conversation is not a principle of cooperation a la Grice but rather a gentlemanly trust to ignore“, konstatiert Benny Shanon, Metaphors for Language and Communication, Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 43–59 (47), und begründet damit die These, daß Kommunikation nicht als Informationsübertragung zwischen Individuen aufgefaßt werden sollte.

    Google Scholar 

  4. Zu ihrer Evolution vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 1982.

    Google Scholar 

  5. Vgl. für Beispiele: Jean de Marconville, De l’Heur et Malheur de Mariage, Paris 1564, insb. fol. 43 v. ff.; Levinus Lemnius (ein Arzt), De Miraculis occultis naturae libri III, Antwerpen 1574, lib. IV, cap. XIII; Melchior Iunius Wittenbergensis, Politicarum quaestionum centum ac tredecim, Frankfurt 1606, pars II; und noch Jacques Chaussé, Sieur de La Ferrière, Traité de l’excellence du marriage: de sa necessité, et de moyens d’y vivre heureux, où l’on fait l’apologie des femmes contre les calomnies des hommes, Paris 1685. In der thematisch mit amour passion befaßten Literatur findet man einstimmig das entgegengesetzte Urteil über die Ehe.

    Google Scholar 

  6. Paradise Lost X, zit. nach: Poems of John Milton (Hrsg. Sir Henry Newbolt), London, o.J. (1924), S. 246. Zu den aristotelischen Wurzeln dieses Urteils vgl. G.E.R. Lloyd, The Female Sex: Medical Treatment and Biological Theories in the Fifth and Fourth Centuries B.C., in ders., Science, Folklore and Ideology: Studies in the Life Sciences in Ancient Greece, Cambridge Engl., 1983, S. 58111.

    Google Scholar 

  7. Vgl. George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979.

    Google Scholar 

  8. Vgl. hierzu auch Simon, a.a.O. (1988), S. 47 ff. mit einer Anwendung des Kalküls von Spencer Brown auf den Fall System/Umwelt.

    Google Scholar 

  9. Siehe Heinz von Foerster, Objects: Token for (Eigen-)behaviors, in ders., Observing Systems, Seaside, Cal. 1981, S. 273–285; dt. Übers., in ders., Sicht und und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985.

    Google Scholar 

  10. Das gilt vermutlich für alle ausdifferenzierten Funktionssysteme, aber für jedes in anderer Weise. Für einen Begriff des Marktes im Wirtschaftssystem, der darauf abhebt, siehe Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt 1988.

    Google Scholar 

  11. Zum Versagen solcher gag rules im Falle der Sklaverei in den Vereinigten Staaten siehe Stephen Holmes, Gag Rules or the Politics of Omission, in: Jon Elster/Rune Slagstadt (Hrsg.), Constitutionalism and Democracy, Cambridge, England 1988, S. 19–58.

    Google Scholar 

  12. Siehe im Kontext des sich ausdifferenzierenden Wirtschaftssystems Albert O. Hirschman, The Passions and the Interests: Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton 1977; dt. Übers., Frankfurt 1980. Auch in anderen Bereichen spielt der Interessenbegriff eine Rolle in der Auflösung jener alten Unterscheidungen. Vgl. etwa Felix Raab, The English Face of Machiavelli, London 1964, S. 157 ff., 246 ff. oder J.A.W. Gunn, Politics and the Public Interest in the Seventeenth Century, London 1969, für die politische Theorie des 17. Jahrhunderts.

    Google Scholar 

  13. Eine etwas raffiniertere (heute wohl durchgängige übliche) Version dieser Ebenen-Distinktion formuliert Anthony Wilden, System and Structure: Essays in Communication and Exchange, 2. Aufl., 1980, S. 210, wie folgt: „It is a necessary function of pathological communication to deny its own pathology at some level while admitting and using it at other levels“. Damit ist zugestanden, daß das Phänomen bedingt ist durch die Emergenz von Beobachtungen zweiter Ordnung in dem System, das auch die Beobachtung erster Ordnung, das unmittelbare kommunikative Verhalten durchführt.

    Google Scholar 

  14. Auch dieser Begriff entstammt linguistischen Analysen, oder genauer: logischen Analysen des linguistischen Redens über Sprache. Vgl. Lars Löfgren, Life as an Autolinguistic Phenomenon, in: Milan Zeleny (Hrsg.), Autopoiesis: A Theory of Living Organization, New York 1981, S. 236–249; ders., Towards System: From Computation to the Phenomenon of Language, in: Marc E. Carvallo (Hrsg.), Nature, Cognition and System I: Current Systems-Scientific Research on Natural and Cognitive Systems, Dordrecht 1988, S. 129–155.

    Google Scholar 

  15. Vgl. für den Bereich der Management-Beratung auch Heinz von Foerster, a.a.O. (1985).

    Google Scholar 

  16. Vgl. Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, München 1981, und zum operativen Gebrauch von Sprache in diesem Zusammenhang: Paul Watzlawick: Verschreiben statt Verstehen als Technik von Problemlösungen, in: Gumbrecht/Pfeiffer, a.a.O. (1988), S. 878–883.

    Google Scholar 

  17. Übrigens mit bemerkenswerter Indifferenz gegen ständische Herkunft und gegen moralische Überzeugungen. Siehe Bernardino Pino da Cagli, Del Galant’huomo overo dell’huomo prudente, et discreto, Venetia 1604. Und während man in Adelstheorien jener Zeit häufig die Bemerkung findet, daß huomo, homme etc. im Zusammenhang des Textes sowohl Männer als auch Frauen bezeichnen solle (denn beide sind ja unbestreitbar adelsfähig), habe ich im Diskurs über Galanterie/Diskretion bisher keine solche Reservation entdeckt. Offenbar traut man den Frauen Diskretion nicht zu, weil sie ohnehin zu viel reden und besser schweigen sollten. Das Problem bedürfte aber näherer Untersuchung.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 1990 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen

About this chapter

Cite this chapter

Luhmann, N. (1990). Glück und Unglück der Kommunikation in Familien: Zur Genese von Pathologien. In: Soziologische Aufklärung 5. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97005-3_10

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-97005-3_10

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-12094-2

  • Online ISBN: 978-3-322-97005-3

  • eBook Packages: Springer Book Archive

Publish with us

Policies and ethics