Zusammenfassung
Luhmann besteht darauf, daß eine adäquate Theorie zur Beschreibung der modernen Gesellschaft, die den Titel Gesellschaftstheorie verdient, noch fehlt. Auf diese Lücke hin stellt er die neueren Entwicklungen in der allgemeinen Systemtheorie als die vielversprechendsten Mittel und seine Universaltheorie als daraus resultierende und adäquate soziologische Synthese dar. So kann man sagen, daß diese in der »modernen Gesellschaft« ihren eigentlichen Fluchtpunkt besitzt; und umgekehrt, daß die »moderne Gesellschaft« aus der soziologischen Universaltheorie strukturierende Prinzipien der Beschreibung ihrer Eigenheiten und Entwicklungsperspektiven bezieht, gleichsam als ihre Verkörperung auftritt.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Zu Kontext und Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungs- und Evolutionstheorien vgl. Wehling 1992.
Für den weiteren Kontext einer historisch vergleichenden Analyse des Zusammenhangs kognitiver, konzeptioneller und intellektueller, sozialer, institutioneller und politischer Aspekte in der Entwicklung des Verhältnisses von Sozialwissenschaften und Staat vgl. Wagner 1990.
Denn solche »immanente Schranken selbstreferentieller Operationen« sind »Tautologien und Paradoxien« (ebd., 170).
Von allen gesellschaftlichen Semantiken wird auch behauptet, ihre Funktion bestehe darin, »den Durchblick auf die Einheit der Differenz und damit auf Tautologie/Paradoxie-Probleme zu versperren« — »und trotzdem«, d. h. eigentlich gerade dadurch -»Informationsverarbeitung zu ermöglichen.« (Ebd., 166)
»Man kann durchaus anschließen. Man muß aber Probleme reformulieren und heterogene Ausgangspunkte auf neuartige Weise zusammenfassen. Mit kleinen, aber zentral gewählten Operationen kommt man dann sehr rasch zu neuartigen, in sich schwer übersehbaren Theoriekonstellationen.« (Ebd.)
Zur Bestimmung des Verhältnisses von Staat und politischem System in diesem Kontext vgl. 1984b.
Es fällt auf, daß Weber in der Liste prominenter Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft fehlt. Ein Grund dafür könnte darin liegen, daß Weber offensichtlich quer zu den Voraussetzungen des Ausgangsproblems steht.
Vgl. im weiteren, vor allem hinsichtlich der Bestimmung der systeminternen Operationsweisen und der Systemgrenzen, Knorr-Cetina 1992 sowie als teilweise Erwiderung 1993c.
Zu Religion vgl. 1977a, 1991c; zu Wirtschaft 4.2.
Vgl. für das Wissenschartssystem, bzw. die Anwendung von Wissenschaft, 1981e.
Daran läßt sich auch die Frage knüpfen, inwiefern nach Luhmann die moderne Gesellschaft als Ganze überhaupt eine über die Logik der einzelnen Funktionssysteme hinausgehende, d. h. den übergreifenden Zusammenhang repräsentierende oder integrierende Realität hat.
Habermas bemerkt völlig zu Recht, daß Luhmann — anders als Versuche in der »Organisationssoziologie« oder der »Makroökonomie« — »die Systemtheorie der Gesellschaft nicht als Sozialkybernetik« (Habermas 1971) anlegt. Dieser Hinweis ist wichtig, um die praktische Funktion der Organismusanalogie nicht von vornherein überzubewerten.
Dafür, wie sich nun in dieser doppelten Frontstellung Luhmanns Reflexion grundlegender Selbstbeschreibungen gestaltet, siehe exemplarisch seine Kritik der »Sprache der Preise«, 4.2.3.
In der Auseinandersetzung mit Luhmanns »soziologischer Aufklärung« ist folgendes zu beachten: Die Grundprograrnmatik wurde 1970 formuliert. Seitdem sind unter dem Titel soziologische Aufklärung sechs Bände gesammelter Aufsätze erschienen, mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten je nach Entwicklungsstadium und Interessensfokus von Luhmanns Theoriearbeit (in Band 6 (1995) sind von den hier zitierten Texten 1985a, 1988b, 1989b und 1991b eingegangen). Im Verlauf von nunmehr 25 Jahren erhielt die Bedeutung von soziologischer Aufklärung spezifische Akzentsetzungen, abhängig vom Wandel des historisch-gesellschaftlichen oder intellektuell-wissenschaftlichen Kontextes. Dieser Wandel in der jeweils vorherrschenden Konstellation umreißt nun ein beachtliches Spektrum: Findet man zu Beginn die hoffnungsvolle Verbindung von Wissenschaft und Politik, die Orientierung an Vernunftaufklärung und Politiken der Planung und des Konsenses, so zum Schluß die Auflösung jener Verbindung und eine Ernüchterung über ihre Potentiale angesichts vielfältiger Unübersichtlichkeiten und Überforderungen. In bezug darauf kann man nun beobachten, wie sich Luhmanns Position soziologischer Aufklärung — und die daran anschließenden politischen Perspektiven — zu den jeweils intellektuell vorherrschenden oder auch nur »modischen« Positionen soziologischer Aufklärung bzw. politischer Intervention verhält.
In früheren Texten artikuliert Luhmann explizit »Weltkomplexität« als Problem der »Überlastung« für »weltoffene« Systeme, woraus die Notwendigkeit von »Entlastung« folgt, wofür er die »philosophische Anthropologie« Arnold Gehlens in Anspruch nimmt: Systeme »entwerfen sich eine Welt von Möglichkeiten, die ihre Kapazität für aktuelle Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung weit übersteigt, und steuern sich gerade durch diese Überforderung, durch Prozesse der Reduktion übermäßiger Komplexität.« (1970c, 115) Und in der anschließenden Fußnote heißt es: »Mit Arnold Gehlen [...] könnte man auch sagen: durch Prozesse der ›Entlastung‹; man müßte dann allerdings hinzufügen: der Entlastung von der Komplexität des eigenen Entwurfs. Überhaupt trifft die hier skizzierte Theorie sozialer Systeme sich in wesentlichen Punkten mit einer anthropologischen Soziologie, welche die ›Weltoffenheit‹ und die entsprechende Verunsicherung des Menschen zum Bezugspunkt von (letztlich funktionalen) Analysen macht.« (Ebd., 131, Fn. 9) Gehlen selbst versuchte, die Notwendigkeit menschlicher Institutionen aus der unterschiedlichen Konstitution von Tier und Mensch abzuleiten. Die folgende Zusammenfassung ist an seine Artikulationsmuster angelehnt (vgl. 1958, 1975): Der Mensch ist im Vergleich zu den Tieren ein Mängelwesen einerseits, andererseits aber mit besonderen evolutionären Möglichkeiten ausgestattet. Im Vergleich mit instinktgeleiteten Wesen unterscheidet sich der Mensch in der Wahrnehmung von Auslösereizen, im Antriebssystem und in den Bewegungsreaktionen. Reizüberflutete Wahrnehmung, plastisches Antriebssystem und konturlose Motorik stellen für den Menschen Überlebensrisiken dar; die organisch-psychische Bedürftigkeit verlangt nach innengestützter und außenstabilisierter, geordneter Führung. Dies geschieht ganz allgemein in Handlungen, die Bedürfnisse ausformen, die Wahrnehmung strukturieren und die Motorik anleiten, sozial gesehen Institutionen ausbilden. Die Pointe der Geh-lenschen Konzeption der Institutionen ist, daß ihre Gefährdung die Menschen in die rohesten Naturzustände zurückzuwerfen droht (vgl. Hinkelammert 1976, 15ff.). Der ausdrückliche Bezug zu Gehlen ist in neueren Texten getilgt; allerdings sind verwandte Konzepte zumindest als archäologische Schicht erhalten geblieben. Anzumerken ist noch, daß mit der Akzentuierung des Selbstreferenztheorems die These der Überforderung von Systemen durch Umweltreize durch die These ihrer beschränkten Resonanzfähigkeit auf Umweltinformationen abgelöst wird (vgl. 1986, 44).
Dagegen sprechen nicht nur die Fakten, wieviel in der modernen Gesellschaft immer schon, wenn auch natürlich in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen, reguliert wurde, sondern auch die Erfahrungen in die Praxis umgesetzter neoliberaler Programme, daß entgegen dem Credo des Antiinterventionismus Interventionen nicht verschwunden sind, sondern lediglich ihre Richtung und Struktur geändert haben.
Wenn Luhmann die »Möglichkeit des Zusammenbruchs eines monetär aufgeblähten Wirtschaftssystems [...] für ein außerordentlich drängendes Problem« hält, demgegenüber er »das Plärren gegen den Kapitalismus als unangemessen« erklärt — und die Frage, »wer Eigentümer der Produktionsmittel ist« (ebd., 154), für irrelevant -, unterstellt er damit nicht nur, die Prozesse und Wirkungen der globalen Kapitalakkumulation seien unabhängig von den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, sondern läßt als theoretische »Konsequenz« auch nur zu, »nun schärfer auf die Punkte hinzublik-ken, in denen die Strukturen eventuell reaktionsfähiger und sensibler gemacht werden können« (ebd., 106).
Dafür, daß dies mit einem zweiten oder dritten Blick möglich ist, und was dabei gesehen werden kann, vgl. Bourdieu 1982.
Auch wenn an seltener Stelle das Konzept funktionaler Differenzierung — sein Status privilegierter Adäquatheit — nonchalant in Frage gestellt wird, hat dies auf die Verfahren der Theorieverfertigung und -reflexion keinen weiteren Einfluß. »Die Theorie funktionaler Systemdifferenzierung ist ein weitreichendes, elegantes, ökonomisches Erklärungsmoment für positive und negative Aspekte der modernen Gesellschaft. Ob sie auch zutrifft, ist natürlich eine andere Frage.« (1986, 74)
Dasselbe läßt sich ebenso von sozialen Bewegungen sagen, auch wenn sie mitunter ausführlich behandelt werden (vgl. 5.2.1).
»Planung wird vermutlich nur dazu fuhren können, daß in das System eine Beschreibung seiner Komplexität eingeführt wird, daß es neben der bisherigen Unübersehbarkeit der Prozesse dann auch noch Planung gibt und daß überall nicht nur auf Unordnung reagiert werden muß, sondern außerdem auch noch auf Planung. Ein System, das eine Beschreibung seiner selbst enthält, wird dadurch hyperkomplex.« (1983, 195) Vgl. auch 4.3.1.
Zur Dichotomie von Planung und »spontaner Ordnung« vgl. auch Hayek 1983, 1978 Kap. 2; zu ihrer Kritik etwa Zinn 1985.
»Sie tendieren zu unerwartbaren Entwicklungsschüben, zum Stagnieren, zur Destruktion.« (Ebd., 486)
Allerdings ist Luhmanns evolutionärer Universalismus in seiner Zukunftsgewißheit gebrochen, fragt er doch, ob »auf dieser Grundlage aber weitere Evolution hinreichend wahrscheinlich« (ebd.) ist. »Selbst wenn man im Evolutionsbegriff jeden Fortschrittsglauben eliminiert, selbst wenn man Evolution im günstigsten Falle als hinausgeschobene Destruktion begreift, bleibt die Frage: ist Evolution an einem einzigen Fall ohne jeden Spielraum für Zerstörung und Regeneration überhaupt möglich?« (Ebd.)
In Luhmann 1988 gehen modifiziert drei bekannte frühere Aufsätze ein — als Kap. 1 1983a, als Kap. 2 1984a und als Kap. 5 1986b.
Zu Luhmanns Bestimmung von »bürgerlicher Gesellschaft« im Verhältnis zu »funktionaler Differenzierung« vgl. auch Breuer 1992, 76ff.
Als aufschlußreichen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen und insbesondere fachökonomischen Beurteilung von Luhmanns Wirtschaftstheorie vgl. Beckenbach 1989.
Zu Parsons’ Medientheorie vgl. Parsons 1978 und 1980 sowie Künzler 1986 und 1989.
Ein »soziologisch aufklärerischer« Grund, das Medientheorem des Geldes der »am Tausch hängenden Geldtheorie« vorzuziehen, ist, daß seines Erachtens bei letzterer »krasse Asymmetrien und Benachteiligungen in Tauschbeziehungen im Vordergrund« (1988, 261) stehen.
Der Begriff »partizipierendes System« ist neueren Datums. Er scheint auch auf das Problem zu reagieren, daß sich die Wirtschaftsunternehmen selbst dem Wirtschaftssystem und nicht seiner Umwelt zurechnen. Eine Kommunikationstheorie kann nicht völlig davon absehen, wie die Systeme in ihrem Objektbereich über sich selbst kommunizieren. Der Begriff des »partizipierenden Systems« ist nur punktuell in Luhmanns Theorie eingearbeitet; er spricht ja nicht von den Individuen als an sozialen Systemen partizipierenden — was den Eindruck verstärkt, daß wir es mit einem Verlegenheitskonzept zu tun haben, das aus der bisweilen überspitzten Trennung von System und Umwelt resultiert.
»Evolutionäre Selektion von sich bewährenden Unternehmen ist nur aufgrund jener wirtschaftsintern produzierten Instabilität und nur durch die Unmöglichkeit rational gesicherter Voraussicht möglich.« (Ebd.)
Vgl. zu Hayek 1979, Kap. 10; 1981, Kap. 15.
Luhmanns perspektivische Einschränkung auf die Zirkulation von Zahlungen läßt sich theoretisch leicht aufbrechen. Denn in der Zirkulation wird verteilt, Verteilung setzt Produktion voraus, und diese die Verteilung auf différentielle Positionen, die gesellschaftliche Produktion ins Werk zu setzen — und an der Verteilung in der Zirkulation teilzuhaben. »Die Distribution in der flachsten Auffassung erscheint als Distribution der Produkte, und so weiter entfernt von und quasi selbständig gegen die Produktion. Aber ehe die Distribution Distribution der Produkte ist, ist sie: 1. Distribution der Produktionsinstrumente, und 2., was eine weitere Bestimmung desselben Verhältnisses ist, Distribution der Mitglieder der Gesellschaft unter die ver-schiednen Arten der Produktion. (Subsumtion der Individuen unter bestimmte Produktionsverhältnisse.) Die Distribution der Produkte ist offenbar nur Resultat dieser Distribution, die innerhalb des Produktionsprozesses selbst einbegriffen ist und die Gliederung der Produktion bestimmt. Die Produktion abgesehn von dieser in ihr eingeschloßnen Distribution betrachten, ist offenbar leere Abstraktion, während umgekehrt die Distribution der Produkte von selbst gegeben ist mit dieser ursprünglich ein Moment der Produktion bildenden Distribution.« (Marx, MEW 13, 628)
Für eine im Marxschen Sinne am Formbegriff ansetzende Interpretations- und Kritikperspektive vgl. Haug 1985.
Wenn man Luhmanns Artikulationsmuster des »Kontrollwechsels vom Eigentum zum Tausch« mit Joan Robinsons Artikulationsmuster der »Kräfteverschiebung vom Eigentum zum Unternehmertum« kontrastiert, fällt symptomatisch der zirkulationi-stische Akzent auf: »Im Vergleich zu einem reinen Feudalsystem war der Kapitalismus eine großartige Erfindung, um die Akkumulation zu fördern. Er verschob das Gleichgewicht der Kräfte vom Eigentum zum Unternehmertum und setzte den Pro-zeß der Akkumulation in Bewegung.« (Robinson 1969, 278)
Oder, kapitalistische Produktionsverhältnisse unterstellt, die immer auch vorhandenen Möglichkeiten illegaler oder krimineller Aneignung.
Die Dominanz des Eigentumcodes — »Arbeit reproduziert die Codierung und hebt sie nicht auf« (ebd.) — bedeutet auch, daß es für das System zunächst vollkommen irrelevant ist, was genau produziert wird und ob dies für die Arbeitenden selbst oder die Gesellschaft insgesamt sinnvoll ist. Der dominante Code unterlegt eine Gleichgültigkeit gegenüber dem konkreten Inhalt von Arbeit wie auch ihren Folgen.
Für die frühe Phase der Luhmannschen Theoriearbeit vgl. 1971a, da allerdings mit deutlich anderen Akzentensetzungen im Hinblick auf Möglichkeiten und Perspektiven politischer, insbesondere verwaltungsmäßiger Planung.
Vgl. im Anschluß auch Offes Krisentheorie, die, zeitweilig sehr einflußreich, vom Autor inzwischen aufgegeben worden ist (Offe 1972, 96ff.).
Das ermöglicht auch, das Autopoiesiskonzept auf dem Feld von Diskussionen um »relative Autonomie« auszuarbeiten. Dadurch soll dem Vorwurf, lediglich mit einem Verlegenheitsbegriff eine Problemstelle zu bezeichnen, konstruktiv in der Weise begegnet werden, daß abgestufte Bestimmungsverhältnisse genauer zu beschreiben versucht werden (vgl. Teubner ebd. und insbesondere Jessop 1987, des weiteren Kleger 1987).
Auch Bendel kritisiert Luhmanns paradigmatische Akzentuierungen. Sein Vorschlag setzt bei anderen Akzentsetzungen an, so daß er zunächst ohne begriffliche Modifikationen auskommt. Möglichkeiten der Intervention in Systeme und auch der Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen ergeben sich nun dadurch, daß er die systemische Fähigkeit zur Berücksichtigung von Fremdreferenz und damit die Bedeutung der Ebene der Programme für größer veranschlagt (vgl. Bendel 1993, 267ff.) Überzeugen die diesbezüglichen Überlegungen zur Möglichkeit intersystemischer Koordination, so überzieht er meines Erachtens in der Begründung der dafür notwendigen intersystemischen Kommunikation den Stellenwert der »universalistischen Struktur sprachlicher Verständigung« (vgl. ebd., 273ff.).
Begrifflich ist Sozialintegration definiert als »auf die Kopräsenz derjenigen angewiesen, deren Verhalten integriert wird. Sie läuft über Wahrnehmung und über Wahrnehmung des Wahrnehmens anderer« (1990e, 122). Die Unterscheidung von Sozial-und Systemintegration koppelt Luhmann mit der These einer grundlegenden Differenz zwischen komplexen modernen und weniger komplexen vormodernen Gesellschaften, die das Bild der eigenen Gesellschaft wie auch fremder Gesellschaften reproduziert: »In komplexen Gesellschaften verliert aber Sozialintegration die Fähigkeit, auch Systemintegration zu leisten, weil fernliegendes Verhalten in der Interaktion nicht mehr ausreichend über bekannte andere Rollen und Verpflichtungen der Beteiligten erfaßt werden kann. Dann und nur dann kommt es zu einer Differenzierung von Sozialintegration und Systemintegration. An die Stelle eines Mechanismus treten zwei; und das bedeutet, daß auch die Sozialintegration, die jetzt von Aufgaben der Fernsteuerung entlastet ist, ein eigenes Kolorit annehmen kann. Sie gewinnt mit den modernen Erwartungen an Freundschaft, Liebe, Intimität und Sympathie eine andere, intensivere Färbung; aber gerade deshalb wäre es unsinnig, von hier aus Erwartungen an die Gesamtgesellschaft zu adressieren [...], so als ob durch Sozialintegration Systemintegration nach wie vor mitgeleistet werden könnte.« (Ebd., 122f.)
Allerdings sind Bewertungen von Freiheitsarten und -graden, die die modernistische Soziologie im mehr oder weniger expliziten Vergleich mit nichtmodernen Gesellschaften trifft, mit Skepsis aufzunehmen, zumal wenn sie unabhängig von historischsystematischer Forschung erfolgen.
Zum Zusammenhang der Bestimmung des Gehalts von Freiheit und dem Charakter von Gesellschaftstheorie vgl. Halfmann/Knostmann 1990.
Wenn moderne Gesellschaft für Luhmann heißt, daß die Inklusion der Menschen nur nach Maßgabe der Codes ihrer Funktionssysteme erfolgt, bedeutet das für politische Macht, daß sie in Form des Rechtsstaats zu entfalten ist — »teils zur Selbstkontrolle der politischen Souveränität durch Gewaltenteilung, teils als Instrument der immensen, durch die Rechtsform vermittelten Ausweitung des Zugriffs der politischen Gewalt auf das tägliche Leben. Deshalb erhält der Bürger subjektive Rechte, damit er die Maschinerie der politischen Gewalt gleichsam von unten benutzen, sie für eigene Ziele in Anspruch nehmen kann.« (1987g, 134)
Treffend wurde er so einmal als »Avantgarde-Konservativer« bezeichnet (vgl. 19871, 58).
Vgl. zum Streit um die Position politischer Aufklärung Kleger 1989.
Eine wirkungsmächtige politische Theorie, die Luhmann befördert und von der er selbst beeinflußt ist, ist der »fortschrittliche Neokonservatismus« Lübbes. Dabei kann man das Verhältnis der Wirkungsweise beider Ansätze in der Weise begreifen, daß Lübbe gleichsam die Exoterik von Luhmanns Esoterik darstellt, indem er das, was bei Luhmann zumeist auf der Ebene generalisierter Konzepte und Orientierungen formuliert wird, auf die Ebene operationalisierender Begriffe und Politikvorschläge bringt; vgl. dazu Kleger 1990.
»Wenn politische Macht in der modernen Gesellschaft rechtlich codierte Macht sein muß und sich mit eben dieser Codierung selbst limitiert, kann eine solche Ordnung nicht punktuell, kann sie vor allem nicht durch Provokation der Zentralmacht aus den Angeln gehoben werden.« (1987i, 167f.)
Für die Rekonstruktion der langanhaltenden Debatte zwischen Habermas und Luh-mann vgl. Kleger 1989.
Folgender an Habermas gerichteter Vorwurf fällt allerdings teilweise auf Luhmann zurück: »Von der Position aus, die Habermas einnimmt, wird es schwer fallen, für klärende Konflikte, Revolutionen oder auch für das Mehrheitsprinzip Verständnis aufzubringen. Die aufkommenden Tendenzen, Mehrheitsentscheidungen nicht mehr zu akzeptieren und statt dessen auf stabilem Dissens, wenn nicht auf Konflikt zu bestehen, lassen sich in der Perspektive dieser Theorie nicht adäquat behandeln« (1982a, 377, Fn. 45).
»Die Welt ist damit in jeder sinnhaften Aktualität mitgegeben; aber dies nur als Horizont, dem man sich nur durch Wahl eines Kontextes für spezifische Operationen nähern kann und der, wenn man dies tut, zurückweicht. Es ist deshalb nicht möglich, kontextierende Prädikate wie Vertrautheit, Gewißheit oder Konsens auf die Welt anzuwenden, und also auch nicht auf die Lebenswelt als Welt.« (Ebd.)
Das vorgeführte Begriffsspiel reicht bereits, um damit die Begriffe Mythos, Symbol, Ritual und Tabu zu formulieren. So präsentieren beispielsweise Symbole »die Einheit der Differenz von Vertrautem und Unvertrautem im Vertrauten«, wobei der »Gegenbegriff zum Symbolischen [...] nicht etwa die (bezeichnete) Realität, sondern das Diabolische [ist]: der Verlust der Einheit der Differenz und das beliebige Durchmischen von Vertrautem mit Unvertrautem.« (Ebd., 184)
Vgl. als Beispiel einer prominenten Thematisierung Lübbe 1992.
Zum spannungsvollen Verhältnis zwischen den beiden einflußreichen Diskursen zum Ende des Subjekts, der Geschichte und der Metaphysik — dem postmodernen und dem feministischen — vgl. Benhabib 1993.
Was sich exemplarisch in seiner Auseinandersetzung mit dem zivilen Ungehorsam zeigt; vgl. 1987i, zur Einordnung in die Diskussion Kleger 1993, zur Kritik auch Frankenberg 1989.
Anzumerken ist, daß Luhmann hier Gesellschaft gleich einem Subjekt behandelt, wo er doch sonst darauf besteht, daß sie nur als Effekt des Operierens ihrer voneinander geschiedenen Subsysteme gedacht werden kann und als gesellschaftliche Einheit weder Identität noch Begriff von sich selber besitzt. So wie die Artikulation der modernen Gesellschaft als funktional differenzierte die des soziologischen Beobachters Luhmann ist, so ist die Bestimmung dieses Strukturprinzips als Form der Einheit der modernen Gesellschaft bzw. als ihr Identitätsmuster eine der Theorie entspringende, für diese wie die Gesellschaft selbst imaginäre Repräsentation. Und wieso soll denn eine Gesellschaft nicht — genau umgekehrt zu der im Zitat unterstellten einzigen Möglichkeit — die Änderung ihres Differenzierungs-, Grenzziehungsund Stabilitätsprinzips statt als Katastrophe vielmehr als Rettungsmöglichkeit verstehen können?
»Luhmanns Gesellschaftskonzept ist inkonsequent, da es die entwicklungsgeschichtlich katastrophale Drift einer Gesellschaft, die ihre Teilprozesse nicht orientiert, deutlich vor Augen führt, aber alle Lösungsansätze, die die Ausgangsbedingungen dieser Gefahr antasten, verwirft.« (Engler 1991, 80)
Rights and permissions
Copyright information
© 1996 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
About this chapter
Cite this chapter
Barben, D. (1996). »Funktionale Differenzierung« als Dispositiv moderner Gesellschaften. In: Theorietechnik und Politik bei Niklas Luhmann. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96386-4_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-96386-4_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-12926-6
Online ISBN: 978-3-322-96386-4
eBook Packages: Springer Book Archive