Zusammenfassung
Die Art, wie in einem Gemeinwesen Herrschaft und Genossenschaft zu einem Ausgleich kommen, macht seine Verfassung aus. Diese reale Verfassung, in der ein Staat lebt, ist als soziale Tatsache festzustellen; insofern gibt es überhaupt keinen Staat ohne Verfassung. Die juristische Verfassung, nach der ein Staat leben soll oder zu leben vorgibt, kann davon stark abweichen. Lassalle hat diesen Unterschied während des preußischen Verfassungskonfliktes von 1862 untersucht und kam zu dem Ergebnis: Die reale Verfassung entspricht den sozialen Machtverhältnissen, aber eins dieser Machtverhältnisse ist auch das Rechts- und Selbstbewußtsein der Massen. Es ist also keineswegs bedeutungslos, wenn die Verfassung verlangt, daß die Machthaber sich nach Rechtsgrundsätzen richten. So gewiß es eine »normative Kraft des Faktischen« (Jellinek)16 gibt, wonach Tatsachen schließlich Recht schaffen, so gewiß existiert auch eine »normalisierende Kraft des Normativen« (Heller)17, daß nämlich die Setzung einer Norm auf dem Weg über die öffentliche Meinung auch ihre Durchführung erzwingen kann. In dieser Spannung zwischen Wirklichkeit und Norm erweist sich die Verfassung als »wirksam geregelte Schranke, die dem staatlichen und politischen Handeln gesetzt ist18«, als ein Stück Genossenschaft, das die Herrschaft bändigt.
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von der Gablentz, O.H. (1965). Die Verfassung. In: Einführung in die Politische Wissenschaft. Die Wissenschaft von der Politik, vol 13. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96226-3_11
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