Zusammenfassung
1. Die Frage: „Wie ist Gesellschaft möglich?“ wurde von Georg Simmel als kritisches Grundproblem der Sozialwissenschaften und der geschichtlichen Erkenntnisse selbst gestellt1. Denn sobald sich das Augenmerk der Soziologie von dem Begriff „Gesellschaft“ als Element außerhalb des Ich auf den Sozialisierungsprozeß richtet, in dem das Ich immer einbezogen ist, stellt sich die Frage, wie Gesellschaft möglich sei. Für Simmel ist Gesellschaft im allgemeinen Sinne nur ein Etikett, das den verschiedenen Inhalten aufgesetzt wird. Sie ist keine „Einheit, die mit nur einer Definition beschrieben werden könnte“, sondern die Gesamtheit „aller Einzelkräfte und Verbindungsglieder zwischen ihren einzelnen Elementen“2. In diesem Sinne löst sich der Begriff „Gesellschaft“ in die einzelnen Sozialisierungsformen und -prozesse auf, die der reale Gegenstand der Soziologie sind. Die Gesellschaft im engeren Sinne, d.h. die gesellschaftliche Verbindung wird durch die „soziologischen Aprioritäten“ ermöglicht. Die Frage, wie Gesellschaft möglich sei, schreibt Simmel, „hat unter diesen Umständen einen völlig anderen methodischen Sinn als die: „Wie ist Natur möglich?“. Denn auf diese Fragen antworten „die in den Elementen selbst a priori gelegenen Bedingungen, durch die sie sich real zu der Synthese ‚Gesellschaft‘ verbinden“3. D.h. die Frage, wie Gesellschaft möglich sei, kann man, wie folgt, umschreiben: „was liegt denn ganz allgemein und a priori zum Grunde, welche Voraussetzungen müssen wirksam sein, damit die einzelnen, konkreten Vorgänge im individuellen Bewußtsein wirklich Sozialversicherungsprozesse seien, welche Elemente sind in ihnen enthalten, die es ermöglichen, daß ihre Leistung abstrakt ausgesprochen, die Herstellung einer gesellschaftlichen Einheit aus Individuen ist?“4.
Dieser Beitrag ist der Text eines Referats zur Elias-Gedenktagung in Essen (1991).
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Anmerkungen
Siehe G. Simmel, Wie ist Gesellschaft möglich? in Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin, Dunker and Humblot, V. Auflage 1968, S. 21 folgende. Ebenso bei P. Rossi, Lo storicismo tedesco contemporaneo, Neue Auflage, Torino, Einaudi, 1971, S. 219.
G. Simmel, Il problema della sociologia in „La Riforma sociale“, 15. Juli 1899. Wiederaufgenommen in „Il conflitto della cultura moderna e altri saggi”, Hrsg. C. Mongardini, Rom, Bulzoni, 1976.
G. Simmel, Wie ist Gesellschaft möglich?, a.a.O., S. 23.
G. Simmel, Wie ist Gesellschaft möglich?, a.a.O., 23.
G. Simmel, Wie ist Gesellschaft möglich?, a.a.O., 29.
G. Simmel, Wie ist Gesellschaft möglich?, a.a.O., 27.
G. Simmel, Wie ist Gesellschaft möglich?, a.a.O., 40.
Vergleiche N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt, Suhrkamp, 1987.
Siehe N. Elias, The Retreat of Sociologists into the Present, in „Theory, Culture and Society“, Sonderaussgabe Norbert Elias and Figurational Sociology, Band 4, Nummer 2 — 3, Juni 1987. Siehe auch Einfiihrung zu Involvement and Detachment, Oxford, Basic Blackwell, 1987. „The abstension from getting involved in contemporary debates”, schreibt Kilminster, „is quite deliberate… As he puts in a recent interview… it is more productive for the future of sociology if I go on working in the laboratory as I have done before, like a physicist who would go to his labour every day and do his stint instead of criticizing other physicists“ (R. Kilminster, Introduction to Elias, in „Theory, Culture and Society”, Band 4, Nummer 2–3, Juni 1987 ).
Nietzsche spricht von einer „socialen Configuration“ in seinem Aufsatz vom Jahre 1872 über den griechischen Staat. Vergl. H. Baier, Die Gesellschaft — ein langer Schatten des toten Gottes. E Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der décadence, in „Nietzsche-Studien”, Band 10–11, 1981–1982.
N. Elias, Was ist Soziologie?, Italienische Übersetzung, Che cos`è sociologia?, Turin, Rosenberg and Sellier, 1990, S. 60 (im Text kursiv). Der Autor bezieht sich im folgenden immer auf diese italienische Ausgabe.
N. Elias, Was ist Soziologie?, Italienische Übersetzung, Che cos`è sociologia?, Turin, Rosenberg and Sellier, 1990, S. 27–28.
N. Elias, Was ist Soziologie?, Italienische Übersetzung, Che cos`è sociologia?, Turin, Rosenberg and Sellier, 1990, 28
Siehe N. Elias, Zur Grundlegung einer Theorie sozialer Prozesse, in „Zeitschrift für Soziologie“, Jahrg. 6, Heft 2, 1977.
Das Apriori des empirischen sozialen Lebens ist“, hatte Simmel geschrieben, „daß das Leben nicht ganz sozial ist” und daß die Gesellschaften „Gebilde aus Wesen sind, die zugleich innerhalb und außerhalb ihrer stehen“. (G. Simmel, Wie ist Gesellschaft möglich? a.a.O., S. 27).
Siehe N. Elias, Che cos è la sociologia?, a.a.O., S. 152; siehe auch C. Mongardini, Saggio sul gioco, Mailand, E Angeli, 1990.
Diese beiden Richtungen werden von Elias 1986 mit den Begriffen „Sozialisierung“ und Individualisierung” beschrieben. (Vergl. R. Gleichmann, Zur Historisch-Soziologischen Psychologie von Norbert Elias, in G. Juettermann (Hrsg.), Wegbereiter der Historischen Psychologie, München-Weinheim, Beltz Verlag, 1988, S. 456). Nur die Objektivierung der Strukturen, sagt Elias, kann den Zwang erklären, den sie auf die Personen ausüben. (siehe N. Elias, Che cos’è la sociologia?, a.a.O., S. 14 ).
N. Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Einleitung zur italienischen Ausgabe, La solitudine del morente, Bologna, Il Mulino, 1985, S. 10.
H. Baier, Die Gesellschaft, a.a.O.
Idem.
N. Elias, Che cos`è la sociologia?, a.a.O., S. 57–58. Auch Max Weber hielt eine kritische Überprüfung der Begriffe der Soziologie für notwendig. In einem Brief an Robert Lief-mann vom März 1920 schrieb er:,Wenn ich jetzt nun einmal Soziologe geworden bin (laut meiner Anstellungsurkunde), dann wesentlich deshalb, um dem immer noch spukenden Betrieb, der mit Kollektivbegriffen arbeitet, ein Ende zu machen. Mit anderen Worten: auch Soziologie kann nur durch Ausgehen vom Handeln des oder der, weniger oder vieler Einzelnen, strikt,individualistisch` in der Methode also betrieben werden“ (siehe bei R. Boudon-F. Bourricaud, Dictionnaire critique de la sociologie, Paris PUE 1982, S. 1.).
C. Garve, Über Gesellschaft und Einsamkeit, Breslau, Korn, 1798, 2 Bände.
N. Elias, Über die Zeit, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1984.
Siehe dazu N. Elias, Was ich unter Zivilisation verstehe, „Die Zeit“, 17. Juni 1988.
Vergl. N. Elias, Über die Zeit, a.a.O., S. 3 folgende.
Vergl. C. Mongardini, Sociologia e storia dellaa sociologia, in, Profili storici per la sociologia contemporanea, Roma, Bulzoni, 1990.
Dazu ebenfalls C. Mongardini, Saggio sul gioco, a.a.O.
N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, a.a.O., S. 254.
Das letzte Werk Garves ist ein unvollständiger Entwurf zu dem Thema „Die Einsamkeit des Kranken“, das uns an den Aufsatz von Elias über die „Einsamkeit des Sterbenden” erinnert.
N. Genov (Hrsg.), Internationalization of Sociology, in „Current Sociology“, Band 39, Nr. 1, Spring 1991.
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© 1994 Leske + Budrich, Opladen
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Mongardini, C. (1994). Wie ist Gesellschaft möglich in der Soziologie von Norbert Elias. In: Klingemann, C., Neumann, M., Rehberg, KS., Srubar, I., Stölting, E. (eds) Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1992. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96047-4_5
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