Zusammenfassung
Wir neigen dazu, uns entweder mit den feststellbaren „Tätern“ oder mit deren unschuldigen „Opfern“ auseinanderzusetzen oder zu identifizieren. Das betrifft keineswegs nur die Zeit des Nationalsozialismus, des Stalinismus oder anderer Diktaturen; es ist allgemein, auch in unserem heutigen Alltag, üblich, jene Sachverhalte zu diskutieren, die einfach — nämlich als „gut“ oder „böse“, „richtig“ oder „falsch“ — zu bewerten und einzuordnen sind. Eine wesentliche Rolle spielen heute dabei die Massenmedien.
„Seit die Kleinkinderfragen vorbei sind, konnte ich nicht mehr fragen. Ich wurde auch immer unwillig, wenn ich selber gefragt wurde. Alle Fragen, die mir gestellt wurden, erschienen mir falsch, gestellt von den Falschen, im falschen Ton, im falschen Moment, am falschen Ort. Ihr habt mir mit euren falschen Fragen den Staub von den Flügeln gestupst. Wurde ich nach etwas Geschehenem falsch gefragt, verlor ich allein durch die falsche Frage des Geschehenen Bild. Dabei wartete ich ständig darauf, endlich gefragt zu werden. Je mehr Welt und Möglichkeit die Fragerei um mich herum vernichtete, desto größer wurde mein Bedürfnis, es möge doch einer kommen mit einer Frage nicht an oder gegen, sondern für mich. Ja, eine richtige Frage stellte ich mir vor als Geschenk! ... Übrigens erwartete ich die richtige Frage immer nur von den Unbekannten oder Auswärtigen und nahm die der Angehörigen und Ortsansässigen, so unausgesetzt wie sie fragten, nie ernst. Und doch: Ach Eltern, hättet ihr mich, sooft ich heimkam, statt mit eurem Selbstgemachten von Keller und Herd, bewirtet mit einer richtigen Frage!... Und wenn ich meinerseits nicht fragte, so hieß das nicht, daß ich keine Fragen hatte. Das Fragen ist beständig in mir, aber ich konnte es nie äußern, auch nicht in Haltung oder Blick.... Weil ich nie fragte, galt ich als roh und verwildert. Aber in Wahrheit erschien mir das Fragen insgesamt als etwas mir Verwehrtes — ich weiß nicht, durch wen. ... Dabei habe ich andere in ihrer Verlassenheit eigens Wildfremde um eine Auskunft fragen hören, auch wenn sie Weg oder Zeit selber wußten: Das bloße Fragen hat ihnen schon gutgetan. Sogar bei der Antwort „Ich habe keine Uhr“: wie überschwenglich ihr Dank! ... Höchste Zeit, daßich es schaffe, zu fragen. Nur wen? Denn frage ich mich allein, bleibt es unernst und folgenlos. Vater und Mutter, jetzt da ihr tot seid, hätte ich Fragen urn Fragen an euch! ...“ (Parzival)
(Peter Handke: Das Spiel vom Fragen, 1990)
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© 1994 Leske + Budrich, Opladen
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Hauer, N. (1994). Das „Mitläufersyndrom“ — Die Unfähigkeit zu fragen Einige Überlegungen als Nachwort. In: Die Mitläufer Oder Die Unfähigkeit zu fragen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96042-9_10
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