Zusammenfassung
Das Selbst- und Weltverständnis sowie die Praxis von Individuen können häufig nur in einer historischen und lebensgeschichtlichen Perspektive angemessen beschrieben, verstanden und erklärt weiden. Eine solche Perspektive, in der das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln von Menschen als Bestandteil eines zeitlich strukturierten Sinn- und Wirkungszusammenhanges thematisiert wird, nimmt die Biographieforschung ein.8 In der Sichtweise einer handlungswissenschaftlich orientierten, psychologischen Biographieforschung erscheinen menschliche Lebensäußerungen, Handlungen zumal, generell als temporal komplexe Phänomene. “Temporal komplex” sind Phänomene, wenn ihre prozessuale Genese, beispielsweise ihre lebensgeschichtliche Konstitution und Entwicklung, als ein entscheidendes Bestimmungsmerkmal ihrer aktuellen Präsenz und Charakteristik aufgefaßt werden muß. Temporal komplex sind Phänomene, die durch ihren Bezug zur Zeit konstituiert und geprägt sind. Sie sind Bestandteil einer temporalen Ordnung und müssen selber als Zeit-Phänomene begriffen werden, die nur als Prozesse, und das heißt in der sprachlichen Form einer narrativ präsentierten Geschichte adäquat zu identifizieren, zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären sind (vgl. Straub 1989, 85ff und 112ff).9
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Literatur
Diese grandlegende Perspektive verbindet die heterogenen theoretisch-methodologischen Ansätze und die empirischen Forschungsarbeiten aus der multidisziplinären Biographieforschung. Einblicke und mehr oder weniger umfassende Überblicke, die insbesondere auch neuere Entwicklungen betreffen, bieten beispielsweise Fischer und Kohli (1987) für den Bereich der Soziologie, für die Pädagogik der von Baacke und Schulze (1985) herausgegebene Reader, für die Psychologie schließlich der von Jüttemann und Thomae (1987) herausgegebene Sammelband. Ich verzichte auf weitere Literaturhinweise und nenne nur noch die umfangreichen Bibliographien von Heinritz (1988) und Quekelberghe und Gieseke (1989). Meine folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine an anderer Stelle bereits formulierte Konzeption einer psychologischen Biographieforschung, die sozialanthropologisch, zeit- und erzähltheoretisch begründet wurde und im Begriff der methodisch kontrollierten Interpretation das zentrale Prinzip wissenschaftlicher Erfahrungs-und Erkenntnisbildung besitzt (vgl. Straub 1989).
Am soeben angegebenen Ort wird insbesondere das Verhältnis zwischen Zeit und Erzählung erörtert. Erzähltheoretische Begründungen und Orientierungen werden unumgänglich, sobald die psychologische Forschung Zeit-Phänomene thematisieren will — ohne zeitliche Prozesse als eine bloße Aneinanderreihung diskreter, voneinander isolierter “Zustände” mißzuverstehen. Erzähltheoretische Argumentationen werden in diesem Zusammenhang deshalb notwendig, weil das Erzählen jene Sprachform ist, die — im Unterschied etwa zum “Argumentieren” und anderen Redeformen oder “Textsorten” — geradezu als sprachliche Konstitutionsbedingung von Zeit-Erfahrungen betrachtet werden kann. Erzählen ist gewissermaßen die sprachliche Bedingung der Möglichkeit von Zeit-Erfahrung. Das philosophisch-hermeneutische Theorem von der welterzeugenden oder welterschließenden “Funktion” der Sprache ließe sich dementsprechend folgendermaßen differenzieren: Erst und ausschließlich das Erzählen, erst und ausschließlich die narrative Konstruktion der Wirklichkeit erzeugt und erschließt die Welt in ihrer Zeitlichkeit, kurz: als zeitliche Welt. Demzufolge kann che insbesondere von Schütze (z.B. 1976, 1977a, 1977b, 1987) auf den Begriff gebrachte, regelgeleitete Praxis des “narrativen Interviews” als via regia der Datenerhebungs-Methodik auch der psychologischen Biographieforschung gelten. Dies bedeutet, nebenbei gesagt, allerdings nicht, daß Schützes theoretische Ausführungen, die der Begründung und Klärung des narrativen Interviews dienen sollen, ausnahmslos übernommen werden müssen. Zur einschlägigen Kritik vgl. z.B. Bude (1985), Popp-Baier (1992), Straub (1989, 144 ff).
Zu den formalen geschichtstheoretischen Begriffen “Erfahrungsraum” und “Erwartungshorizont” vgl. Koselleck (1979). “Erfahrung” versteht Koselleck als “gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können. Sowohl rationale Verarbeitung wie unbewußte Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsentiert sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen. Ferner ist in der je eigenen Erfahrung, durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben. (...) Ähnliches läßt sich schließlich von der Erwartung sagen: auch sie ist personengebunden und interpersonal zugleich, auch Erwartung vollzieht sich im Heute, ist vergegenwärtigte Zukunft, sie zielt auf das Noch-Nicht, auf das nicht Erfahrene, auf das nur Erschließbare, Hoffnung und Furcht, Wunsch und Wille, die Sorge, aber auch rationale Analyse, rezeptive Schau oder Neugierde gehen in die Erwartung ein, indem sie diese konstituieren” (a.a.O., 383).
Wenn ich von “intentionalen Akten” spreche» denke ich dabei nicht ausschließlich an zweckgerichtete und absichtsvolle Handlungen. Der dabei ins Spiel gebrachte Begriff der “Intentionalität” gleicht eher jenem Terminus, wie er auch von Graumann (z.B. 1984) in seiner phänomenologischen Psychologie verwendet wird. — Die Unterscheidung zwischen “Mitwelt” und “Umwelt” stammt von Alfred Schütz (1932/1981)), der damit die soziale Welt aus der Sicht des Handelnden in unterschiedlich nahe oder ferne Regionen einteilte.
In Meads intersubjektivitätstheoretischer Perspektive ist jede grundlagentheoretisch-anthropologische Reflexion über den Menschen und dessen Handeln untrennbar an die Reflexion über die “Welt” des Menschen und die welterzeugende Funktion der Sprache gekoppelt. Begrifflich-theoretische Bestimmungen des menschlichen Daseins sind immer auch Bestimmungen der psychosozialen, sprachlich vermitteltenWirklichkeit, die als konstitutiver Bezugsrahmen für die Entwicklung und die möglichen Konkretisierungsformen menschlicher Subjektivität aufgefaßt werden muß. Dabei ist Mead, nebenbei gesagt, in seiner Subjekt- und Handlungstheorie von einem simplen “soziologischen Determinismus” weit entfernt (vgl. Habermas 1981, 11 ff, ders. 1988, Joas 1980, ders. 1989, Straub 1989, 34ff, ders. 1991a, Tugendhat 1979, 245 ff). — Den Ausdruck “Identität” verwende ich im folgenden ohne vorgängige terminologische Klärungen; er tritt bisweilen an die Stelle des Begriffes “Selbst” (vgl. hierzu Straub 1989, 34 ff). Zur ausführlicheren theoretischen Erörterung des “Identitäts”-Begriffs vgl. Straub (1991b).
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© 1993 Leske + Budrich, Opladen
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Straub, J. (1993). Grundlegende theoretische Perspektiven: Das Handeln von Individuen als zeitlich, sozial und sprachlich vermitteltes Phänomen. In: Geschichte, Biographie und friedenspolitisches Handeln. Biographie & Gesellschaft, vol 20. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96038-2_2
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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