Zusammenfassung
So zentral wie das Individualinteresse für die bürgerliche Gesellschaft ist der Begriff des Interesses für die Gesellschaftstheorie. Er steht für das Konzept, gesellschaftliche Imperative fest im Individuum zu verankern. Im Mittelalter hatte die kirchliche Herrschaft dies mit Tugendlehren zu erreichen versucht, die deshalb chronisch erfolglos blieben, weil sie die natürlichen, selbstsüchtigen Antriebe des Menschen als “Leidenschaften” brandmarkten und bekämpften.1 Die neuzeitliche Gesellschaftslehre (deren Anfange sich, für unseren Zusammenhang, bei Niccolo Machiavelli ansiedeln lassen) zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß sie von der “wahren Natur” des Menschen, nicht von einem anzustrebenden Idealbild ausgeht — insofern also realistisch ist —, daß sie auch seine Leidenschaften und Laster akzeptiert, ja sogar instrumentalisiert und daß sie nach Methoden der Regelung menschlichen Verhaltens sucht, die ohne Zwang, Repression und Umerziehung auskommen. Dazu — das war gewissermaßen der theoretische Trick — wurde aus dem weiten Bereich menschlicher Leidenschaften ein Kernbereich herausdestilliert, dem ein Element von Kalkulierbarkeit und Rationalität zugeschrieben werden konnte und der geeignet erschien, den Menschen zu vorsichtigem Handeln anzuleiten und damit die übrigen Leidenschaften in Schach zu halten: eben die Interessen.
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Literatur
S. hierzu und zum Folgenden Albert O. Hirschman: Leidenschaften und Interessen, Frankfurt a.M. 1980.
Zu umfassenderen begriffsgeschichtlichen Überblicken s. Peter Massing: Interesse und Konsensus, Opladen 1979, und Peter Massing/Peter Reichet, Hg.: Interesse und Gesellschaft, München 1977.
Über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes, 1776; Theorie der ethischen Gefühle, 1759. S. dazu im übrigen Hartmut Neuendorff: Der Begriff des Interesses, Frankfurt a.M. 1973, S.80ff.
Theorie der ethischen Gefühle, hg. von W. Eckstein, Leipzig 1926, S.315, 316f.
Über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes, hg. von F. Stöpel, Berlin 1905, Bd.l, S.20.
Ebenda, Bd.2, S.230.
Neuendorff, a.a.O., S.101.
Kritik der praktischen Vernunft, hg. von K. Vorländer, Hamburg 1952, S.93; Grundlegung der Metaphysik der Sitten, hg. von K. Vorländer, Hamburg 1957, S.87.
S. Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (“Anti-Dühring”) (1894), MEW Bd.20, Berlin 1962, S.260.
Vgl. z.B. John St. Mill: Principles of Political Economy, People’s edition London 1865, S.571.
S. zum Folgenden Rolf Heinze: Verbändepolitik und “Neokorporatismus”, Opladen 1981, S. 19ff.
S. z.B. Karl-Otto Hondrich: Menschliche Bedürfnisse und soziale Steuerung, Reinbek 1975.
Ronald Inglehart (The Silent Revolution, Princeton 1977) gründet seine These des Wechsels zu “postmaterialistischen” Werten auf die Bedürfhispyrarnide von A.H. Maslow.
S. Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968.
Vgl. Peter Massing, a.a.O., S.70ff.
S. Ernst Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, 2.Aufl., Stuttgart 1964, S.40ff.
S. Soziale Klassen und Klassenkonflikte in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957.
S. bes. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, S.153ff.
Ebenda, S.161.
Hartmut Neuendorfl/Charles Sabel: “Zur relativen Autonomie der Deutungsmuster”, in: K. M. Bolte, Hg.: Materialien aus der soziologischen Forschung München 1978, S. 842–863.
So Heinze, a.a.O., S.37. Massing (a.a.O., S.93) spricht von “dialektischer Struktur”, meint aber das gleiche.
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© 1993 Leske + Budrich, Opladen
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Abromeit, H. (1993). Zum Begriff des Interesses und zum Problem seiner Vermittlung. In: Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96029-0_2
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