Zusammenfassung
N. Luhmann setzt sich in seinen Schriften umfassend mit Fragestellungen der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Diskussion auseinander. Behandelt werden Grundfragen der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften (s. WG, SO V, WF)1 und der Gesellschaftstheorie (s. SY, OK, RI, DR, SK), Aspekte der historischen Soziologie (s. LP, GUS), der politischen Soziologie, Rechtssoziologie und Demokratietheorie (s. M, AD, PT, OK), der Erziehungs- und der Familiensoziologie (s. RE, LP, SO IV und V). Insgesamt betrachtet handelt es sich um ein außerordentlich komplexes und umfangreiches Werk. Dessen Rezeption ist auch deshalb schwierig, weil Luhmann eine eigenständige Theoriesprache entwickelt hat, deren zentrale Begriffe und Argumentationsfiguren weder der Alltagssprache noch dem klassischen sozialwissenschaftlichen Vokabular entnommen sind. Für Luhmann ist vielmehr der Anspruch charakteristisch, die Grenzen zu überschreiten, die durch gängige Begriffe und eingespielte Denktraditionen gesetzt sind. Semantiken, mit denen sich die Gesellschaft selbst beschreibt, gelten ihm nicht als der Anknüpfungspunkt der soziologischen Theoriebildung2.
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Anmerkungen
Die Schriften Luhmanns werden im Folgenden mit Siglen angegeben. Seitenangaben beziehen sich jeweils auf die deutschsprachige Erstausgabe.AE: Am Ende der kritischen Soziologie. In: Zeitschrift für Soziologie, H. 2, 1991 BM: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992 DA: Die Autopoiesis des Bewußtseins. In: Soziale Welt, H. 4, 1985 DR: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt 1993GB: Gesellschaftsstrukturelle Bedingungen und Folgeprobleme des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts. In: R. Löw u.a. (Hg.): Fortschritt ohne Maß? München 1981 GUS: Gesellschaftsstruktur und Semantik. 3 Bände. Frankfurt 19932 LP: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 1982 M: Macht. Stuttgart 1975. OK: Ökologische Kommunikation. Opladen 1986. PT: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München 1981. RE: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt 1988 (Koautor E. Schorr) RI: Soziologie des Risikos. Berlin/ New York 1991. SK: Zum Begriff der sozialen Klasse, in: N. Luhmann (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee. Opladen 1985 SM: Die Soziologie und der Mensch. In: Neue Sammlung, H. 1, 1985 SO IV: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Opladen 1987 SO V: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen 1990 SY: Theorie sozialer Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt 1984 TOS: J. Habermas & N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt 1971 TP: Talcott Parsons — Zur Zukunft eines Theorieprogramms. In: Zeitschrift für Soziologie, H. 1, 1980 TS: Temporalstrukturen des Handlungssystems. In: W. Schluchter (Hg.): Verhalten, Handeln und System. Frankfurt 1980 WI: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt 1990 WF: „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ In: Zeitschrift für Soziologie, H. 4, 1993 WK: Was ist Kommunikation? In: Information Philosophie, H. 3, 1987.
Dies begründet eine grundlegende Differenz zum Programm einer sinnverstehenden Soziologie, insbesondere zur Sozialphänomenologie in der Tradition von Alfred Schütz. Vgl. A. Schütz & T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1 und 2, Frankfurt 1979 sowie A. Giddens, Interpretative Soziologie, Frankfurt/ New York 1984.
Der vorliegende Text soll also nicht mehr leisten, als einige Grundzüge des Aufbaus der Luhmann’schen Theorie zu verdeutlichen. Beansprucht wird ausdrücklich nicht, einen Gesamtüberblick zu geben. Eine kenntnisreiche Einführung in das Werk Luhmanns hat W. Reese-Schäfer, Luhmann zur Einführung, Hamburg 1992 verfaßt. Zentrale Perspektiven erläutert P. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt 1992. Eine einführende Darstellung und Kritik von Grundelementen der Luh-mann’schen Theorie sozialer Systeme liegt bei J. Ritsert, Gesellschaft, Einführung in den Grundbegriff der Soziologie, Frankfurt/New York 1988 (S. 144ff.) vor.
Alle früheren Schriften werden von Luhmann selbst als Vorarbeiten zur eigentlichen Theorie charakterisiert.
Ein informativer Überblick zur Kontroverse um einen radikalen Konstruktivismus liegt bei S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, Frankfurt 1999, 13ff. vor.
Luhmann versteht Gesellschaft als „strukturiertes Kommunikationssystem“ (RI, 203) und nimmt an: Es „gibt außerhalb des Kommunikationssystems Gesellschaft überhaupt keine Kommunikation“ (SY, 60).
Für ein solches Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit steht in der Theoriesprache Luhmanns der Begriff strukturelle Koppelungen.
vgl. dazu F. Varela, H. R. Maturana, Autopoiesis and Cognition: The Realization of Life, Boston-Dordrecht 1980; eine kritische Auseinandersetzung mit Luhmanns Verwendung des Begriffs liegt vor bei G. Roth, Autopoiese und Kommunikation, in: G. Schiepek (Hg.): Systeme erkennen Systeme, Weinheim/ München 1987.
Eine ironisch-kritische Betrachtung der Luhmann’schen Systemtheorie aus der Sicht der methodischen Individualismus hat H. Esser unter dem Titel „Der Doppelpaß als soziales System“ (in: Zeitschrift für Soziologie, H. 2, 1991) vorgelegt; vgl. auch H. Esser, Soziologie — Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/ New York 1994, 321ff..
Zum Verhältnis von Luhmann zu Parsons s. TP und TOS, 13ff; vgl. T. Schmid, Autopoiesis und soziales System, in: H. Haferkamp & M. Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt 1987.
Damit entfällt auch die Annahme der älteren Systemtheorie, gesellschaftliche Ordnung werde letztlich durch die basalen Normen ermöglicht.
So lautet der Einwand von J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, 432.
vgl. etwa J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, 399ff.
Auf das angesprochene Problem kann hier nicht weiter eingegangen werden. Dezi-dierte Argumente gegen die Möglichkeit einer Verwendung der Instrumentarien der Luhmann’schen Theorie mit dem Ziel der Gesellschaftskritik formuliert R. Münch, Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt 1991, 172ff.
Zu Luhmanns Theorem der Kommunikationsmedien siehe SY, 222ff; zu den Begriffen Codes und Programme siehe OK, Kapitel VII und IX.
s. K. Japp, Selbsterzeugung oder Fremdverschulden? In: Soziale Welt, H. 4, 1984; vgl. W. Bergmann, Was bewegt die soziale Bewegung? In: D. Baecker u.a., Theorie als Passion, Frankfurt 1987.
T. Olk, Jugend und gesellschaftsstrukturelle Differenzierung, in: Zeitschrift für Pädagogik, 19. Beiheft, Weinheim und Basel 1985, S. 291.
s. J. Oelkers & H.-E. Tenorth, Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim und Basel 1987.
s. J. Habermas & N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971.
s. R. Münch, Theorie des Handelns, Frankfurt 1988.
s. etwa M. Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Stuttgart 1991.
So insbesondere J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, 426ff. und R. Münch, Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt 1991, 172ff.
s. H. Haferkamp, Autopoietisches soziales System oder konstruktives soziales Handeln? In: H. Haferkamp & M. Schmid (Hg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Frankfurt 1987.
Als eindrucksvolle Arbeit eines Luhmann-Schülers, die Luhmannsche Argumente zum Teil klarer reformuliert, vgl. P. Fuchs, a.a,O.; Ansätze zu einer differenzierenden Luhmann-Diskussion finden sich etwa in den Bänden W. Krawietz & M. Welker (Hg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1992, und H. Haferkamp & M. Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt 1987, dort insbesondere in den Beiträgen von H.-J. Giegel und M. Miller sowie bei S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, Frankfurt 1994, 48ff.
P. Fuchs a.a.O., 7.
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Scherr, A. (1995). Niklas Luhmann — Konturen der Theorie autopoietischer sozialer Systeme. In: Schäfers, B. (eds) Soziologie in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95999-7_10
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-95999-7_10
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