Zusammenfassung
Mit dem politischen und gesellschaftlichen Umbruch in der DDR stand 1990 auch das Netz der psychosozialen Versorgung vor der Umstrukturierung. Wie dieser Prozeß aussehen sollte: von einer zentralen klinisch orientierten Versorgung innerhalb eines zentral geleiteten gesundheits- und sozialpolitischen Systems hin zu dezentralen ambulanten Diensten und Beratungsstellen in einem von Subsidarität bestimmten System, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand voraussagen. Im Frühjahr 1992 wurde im Rahmen des Projektes „Erziehungsberatung im familialen Wandel“ (siehe dazu die Einführung dieses Bandes) der Frage nachgegangen, welche Erfahrungen die Berater und Beraterinnen von Erziehungsberatungsstellen im Osten Deutschlands beim Aufbau eines ambulanten, gemeindenahen Versorgungsnetzes machen. In explorativen Interviews mit Beratern und Beraterinnen aus traditionell bestehenden und nach der Wende neu entstandenen Beratungsstellen in freier und öffentlicher Trägerschaft, sowie mit Experten aus dem Jugendhilfebereich wurden die Einschätzungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Mittelpunkt gerückt, da es gerade diese subjektiven Wahrnehmungen sind, die die Arbeitsweise einer Beratungsstelle strukturieren und konturieren. Vor dem Hintergrund des rapiden Strukturwandels lag ein Schwerpunkt auf der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse seit der Wende und den damit verbundenen Problemlagen der Klientel von Erziehungsberatungsstellen.
Beraterin: „Die Enttäuschung, die bei vielen ganz tief sitzt. Denn die Euphorie, als die Grenzen offen waren, war ja grenzenlos. Und soviel Hoffnung, unterdrückte, unbewußte Hoffnung, in jedem von uns, sicherlich zum Großteil nicht realistisch, aber es war der Funke bei den Leuten. Und dann die nackte Ernüchterung und immer wieder noch ein Schlag ins Gesicht, so wie es manche ausdrücken und empfinden und das über zwei Jahre zu verkraften, das ist ganz schön happig.“
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Referenzen
Gysi, Jutta: Die Zukunft von Familie und Ehe, Familienpolitik und Familienforschung in der DDR, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, Nr. 1/1990, S. 39.
Ausführlich: Schlemmer, Elisabeth: „Singles“ in den neuen Bundesländern und ihre Netzwerke, in: Gerd Grözinger (Hrsg.): Das Single. Die Lebenssituation Alleinstehender, Opladen, 1993.
Vgl.: Meyer, Sibylle/Schulze, Eva: Wendezeit — Familienzeit. Veränderungen der Situation von Frauen und Familien in den neuen Bundesländern, in: ifg, Frauenforschung, Nr. 3/1992, S. 45–57. Die Abnahme der Geburten ist auch auf die innerdeutsche Migrationsbewegung von jungen Frauen von Ost nach West zurückzuführen. Auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz verlassen jeden Monat mehrere Tausend junger Menschen die fünf neuen Bundesländer, vgl.: Miehlke, Günter: Der Transformationsprozeß in den ostdeutschen Ländern und seine Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung und ihre Versorgung, in: Gesundheitssystem im Umbruch: Von der DDR zur BRD, Frankfurt, 1993, S. 47.
Ob die erschwerten Auflagen für eine Sterilisation zu DDR-Zeiten die heutige Zunahme erklären können, erscheint zweifelhaft, für detaillierte Zahlen vgl.: Ahrendt, Hans-Joachim: Familienplanung im Umbruch, Folgen des sozialen Wandels in den neuen Bundesländern, in: Sexualmedizin, Nr. 6/1992, S. 354362.
Als Gründe für die außerordentlich hohe Scheidungsrate in der DDR wird in der Literatur auf die tendenzielle emotionale Überfrachtung der Partnerschaft hingewiesen. Die Familie sollte all das ersetzen, was an Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und Lebensqualität die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR nicht zuließen. Zwei Drittel der Scheidungsanträge wurden von Frauen gestellt. Ihre Unzufriedenheit mit dem Ehepartner muß auch im Zusammenhang mit der Doppelbelastung der Frau gesehen werden. Das gesellschaftliche Leitbild der gleichberechtigten Frau wirkte sich nicht nur auf die Arbeitswelt, sondern auch auch die Partner- und Familienbeziehungen aus und führte nicht selten zu Irritationen und Rollenkonflikten. Oft kollidierten Anspruch und Realität, da die Arbeitsbelastung der Frau im Haushalt und der Kindererziehung ungleich höher war als die des Mannes. Dadurch, daß die Frauen unabhängig von der Versorgung des Mannes waren und das Sorgerecht grundsätzlich der Mutter zugesprochen wurde, hatten sie auch in der Beziehung eine starke Stellung, was sich auch in alltäglichen Entscheidungsfragen auswirkte. Zu den Vorstellungen und Wünschen an die Partnerbeziehung, vgl.: Meyer, Dagmar, Ehescheidung in der ehemaligen DDR, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Jg. 17, Nr. 1/1991. S. 35 ff.
Meyer, Dagmar: a.a.O., S. 41 ff.
Vgl. Meyer, Sibylle u. Schulze Dorothea: Wendezeit-Familien, Hrsg.: ifg, Nr. 3/1992, S. 52 f.
Vgl.: Dannenbeck, Clemens: Zeitökonomische Aspekte der Organisation des Familienalltags, in: Die Familie in den neuen Bundesländern, Bertram, Hans (Hrsg.), Opladen 1992, S. 190.
Vgl.: Sturzbecher, Dietmar/Kalb, Klaus: Vergleichende Analyse elterlicher Erziehungsziele in der ehemaligen DDR und der alten BRD, in: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 40Jg., 1993, S.143 ff.
Vgl.: Maaz, Hans-Joachim: Die psychologischen Folgen der Wende, in: Psychosozial, Nr. 1/1991, S. 60.
Vgl. Roggen, Jan-Uwe/Jensen, Klaus: Lernen-Helfen-Fleißig sein, Kindermedien und Kinderkultur in der DDR, Köln, 1987, S. 256.
Der Wertzuwachs der Familie und des Privatlebens hing mit der abnehmenden Arbeitszufriedenheit zusammen. Die Erwartungen, die sich mit der Arbeit verbanden, wurden in den achtziger Jahren zunehmend enttäuscht. Die Arbeit galt als zentraler Wert in der sozialistischen Gesellschaft. Die Arbeit sollte den Menschen in seinen Ansprüchen befriedigen und im Schaffen sollte er sich dem Ideal der „sozialistischen Persönlichkeit“ annähern. Statt der gewünschten Anerkennung im Berufsleben und entsprechenden Gratifikationen ließ die planwirtschaftliche Kommandowirtschaft jedoch wenig Platz für die gewünschte Selbstbestätigung, für Kreativität, Eigeninitiative und das Gefühl, von der Gemeinschaft gebraucht zu werden. Zudem gab es zu wenig attraktive Arbeitsplätze für qualifizierte Arbeitnehmer. Die behauptete Interessensidentität von Familie und Gesellschaft wurde immer brüchiger. Vgl. Gysi, Jutta et al: Die Zukunft von Familie und Ehe, Familienpolitik und Familienforschung in der DDR, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung, Nr. 1/1990, S. 34.
Vgl.: Gotschlich, Helga: Kinder und Jugendliche aus der DDR, Berlin 1991, S. 36.
Vgl.: Hübner-Funk, Sybille: Kindheit und Jugend in der DDR. 2. Hearing der Sachverständigenkommission des 9. Jugendberichts, in: Deutschland Archiv, Nr. 3/1993, S. 359.
Vgl.: Hille, Barbara: Lebenssituation und Lebensperspektiven Jugendlicher im vereinten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 24/1993, S. 18.
Vgl. Rohmann, Eckhard: Armut, Wohnungsnot und soziale Randständigkeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, in: Widersprüche. Nr. 44/1993. S. 87 ff.
Die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Alleinerziehenden nahmen ab mit dem Bedeutungsverlust der Ehe auf Lebenszeit und der steigenden Scheidungszahl in der ehemaligen DDR.
Noch ist nicht absehbar, ob sich auch die Netzwerke von Alleinerziehenden verändern werden: Während in der ehemaligen DDR die soziale Integration an Partnerschaft und Familie gebunden war und auch alleinerziehende Frauen ihre Sozialkontakte kontinuierlich steigern konnten, reduziert sich in den alten Bundesländern mit Kindern die soziale Vernetzung. Alleinlebende mit Kindern verlieren eher Netzwerkpersonen, als daß sie neue aktivieren können, vgl.: Schlemmer, Elisabeth: Junge Singles und ihre Integration in soziale Netzwerke. Ein Vergleich zwischen den neuen und alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland, Referat auf der Tagung: Integration und Ausgrenzung, 26. April 1993.
Vgl. Dreser, Walter u. Mackscheidt, Elisabeth: Alleinerziehend, in: Jugendwohl, Nr. 4/1991, S. 167ff.
Vgl.: Noll, Heinz-Herbert: Zur Legitimität sozialer Ungleichheit in Deutschland: Subjektive Wahrnehmungen und Bewertungen, Mohler, Peter (Hrsg.), in: Blickpunkt Gesellschaft, Band 2, Opladen 1992, S. 1 ff.
Ausführlich: Stieler, Brigitte: Die ökonomische Situation der Frau in den neuen Bundesländern, in: Berliner Journal für Soziologie, Band 2, 1992, S. 59ff.
Vgl.: Habich, Roland/Landua, Detlef et al: „Ein unbekanntes Land“ — Objektive Lebensbedingungen und subjekives Wohlbefinden in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 32/1991, S. 29.
Ausführlich: Kieselbach, Thomas/Noigt, Peter: Systemumbruch, Arbeitslosigkeit und individuelle Bewältigung in der Ex-DDR, Weinheim, 1992.
Kieselbach, Thomas/Wacker, Ali: Individuelle und gesellschaftliche Kosten der Massenarbeitslosigkeit, Weinheim 1985.
Die Chancen und Verluste auf dem Arbeitsmarkt verteilen sich zwischen und innerhalb der Geschlechtergruppen insbesondere nach Alter, Qualifikation, Familienstand, Gesundheit und nach regionalspezifischen Kriterien. Ausführlich: Vgl.: Kühl, Jürgen: Arbeitslosigkeit in der vereinigten Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 35/1993, S. 3ff.
Vgl. IFPA, Nr. 118, Oktober 1992, S. 4.
Vgl.: Zur Situation von Frauen im Süden der neuen Bundesländer unter den Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit, Forschungsbericht der Forschungsstelle Frauenforschung in der Gesellschaft für Jugend- und Sozialforschung in Kooperation der DJI-Außenstelle Leipzig, Leipzig, 1992, S. 6.
Vgl.: Stieler Brigitte: a.a.O., S. 64.
Bis in die späten achtziger Jahre waren nur die Frauen berechtigt, die sozialpolitischen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Damit wurde die Möglichkeit eingeschränkt, die Vereinbarkeit von Elternschaft und Berufstätigkeit zu fördern. Stattdessen wurde jede betreuende Funktion feminisiert, vgl. Ostner, Illona: Zurück in die Fünfziger? Frauenleben und Frauenpolitik im vereinten Deutschland, in: Widersprüche, Nr. 47/1993, S. 48.
Vgl.: Bertram, Barbara: Zur Entwicklung der sozialen Geschlechterverhältnisse in den neuen Bundesländern, Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 6/1993, S. 33.
Vgl.: Bertram, Barbara: Frauenerwerbstätigkeit im Osten als familienpolitische Kondition, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, Nr. 6/92, S. 217.
Vgl.: Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, Nr. 3/1993, S. 4.
Vgl.: Kaiser, Sarina/Lindner, Bernd: Jugend im Prozeß der Vereinigung. Erfahrungen, Empfindungen, und Erwartungen der Neubundesbürger aus Sicht der Jugendforschung, in: Muszynski (Hg.): Deutsche Vereinigung. 1991. S. 39 ff
Vgl.: Palentien, Christian/Pollmer, Käte et al: Ausbildungs- und Zunkunftsperspektiven ostdeutscher Jugendlicher nach der politischen Vereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Nr. 24/1993. S. 6 ff.
1991 glauben 68 Prozent der Befragten, ihre Ausbildung im Westen zu machen und 42 Prozent nehmen an, später im Westen zu leben, trotz hoher familialer Bindungen, vgl. Kuhnke, Ralf: Zu Problemen der Verhaltensorientierung Jugendlicher, in: „Dialog über die Situation Jugendlicher in den neuen Bundesländern, Tagungsdokumentation des DJI, Außenstelle Leipzig, vom 6. Februar 1992, S. 40.
Z.B. in Brandenburg, vgl.: Sturzbecher, Dietmar/Dietrich, Peter: Jugendliche in Brandenburg — Signale einer unverstandenen Generation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 2–3/1993, S. 35.
Vgl.: Palentien, Christian/Pollmer, Käte et al: a.a.O., S. 3ff.
Vgl.: Hille, Barbara: a.a.O., S. 19.
Vgl.: Sturzbecher, a. a. O., S. 36.
Bereits heute wollen 54% der Schüler/innen das Abitur machen. Die Chancen für den einzelnen Jugendlichen steigen damit aber nicht zwangsläufig, da die Bildungsexpansion nicht die äquivalente Anzahl von qualifizierten und attraktiven Arbeitsplätzen schafft vgl. Palentien, Christian, a. a. O., S. 4.
Vgl.: Hille, Barbara: a.a.O., S. 15.
In einer Umfrage von 1991 waren von den 14 bis 16jährigen Schüler/innen 25% unbeaufsichtigt, vgl. Kaiser, Sarina: Lebensverhältnisse und Betreuungsituation von Kindern in Ost- und Westdeutschland, in: „Dialog über die Situation Jugendlicher in den neuen Bundesländern, a. a. O., S. 34.
A.a.O., S. 27 ff.
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Barthe, S. (1995). Alte Familien — neue Probleme? Zum Konfliktpotential von Familien in Ostdeutschland aus Beratersicht. In: Kurz-Adam, M., Post, I. (eds) Erziehungsberatung und Wandel der Familie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95992-8_9
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