Zusammenfassung
Der Frage, was sich aus der nicht-linearen, widersprüchlichen „Interdependenz von Gesellschaftsverfassung und Bildungsinstitution“ (Heydorn 1980, S. 99) an Konsequenzen für Verhältnisbestimmungen zwischen Bildungssystem und Gesellschaftsgeschichte, für die gesellschaftliche Formbestimmtheit von Bildungsprozessen und deren Realisierung in empirischen Individuen ergibt, wird hier mit einer Skizze zur besonderen deutschen Entwicklung nachgegangen. Der Blick auf Zusammenhänge zwischen politischer Kultur und institutionalisierter Bildung soll dabei sowohl eine Analyse von Struktur- als auch von Handlungsproblemen ermöglichen.
„Man darf daher die Eigentümlichkeit der Menschen nicht zu hoch anschlagen. Vielmehr muß man für ein leeres, ins Blaue gehendes Gerede die Behauptung erklären, daß der Lehrer sich sorgfältig nach der Individualität jedes seiner Schüler zu richten, dieselbe zu studieren und auszubilden habe. Dazu hat er gar keine Zeit. Die Eigentümlichkeit der Kinder wird im Kreise der Familie geduldet; aber mit der Schule beginnt ein Leben nach allgemeiner Ordnung, nach einer allen gemeinsamen Regel; da muß der Geist zum Ablegen seiner Absonderlichkeiten, zum Wissen und Wollen des Allgemeinen, zur Aufnahme der vorhandenen allgemeinen Bildung gebracht werden. Dies Umgestalten der Seele — nur dies heißt Erziehung. Je gebildeter ein Mensch ist, desto weniger tritt in seinem Betragen etwas nur ihm Eigentümliches, daher Zufälliges hervor“ (Hegel, Enzyklopädie § 395).
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Anmerkungen
Eine wesentliche analytische Vorgabe hat Adorno geliefert: „Was aus Bildung wurde und nun als eine Art negativen objektiven Geistes, keineswegs bloß in Deutschland, sich sedimentiert, wäre selber aus gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen, ja aus dem Begriff von Bildung abzuleiten. Sie ist zu sozialisierter Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes“ (1972, S. 93) und er schließt: „Tut indessen der Geist nur dann das gesellschaftlich Rechte, solange er nicht in der differenzlosen Identität mit Gesellschaft zergeht, so ist der Anachronismus an der Zeit: an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog. Sie hat aber keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde” (1972, S. 121).
Zur Reproduktionsdiskussion ist u.a. Bourdieu heranzuziehen: „Das Ausbildungsystem ist eine institutionalisierte Apparatur für Klassifizierungen, die ihrerseits ein objektiviertes Klassifizierungssystem darstellt und die gesellschaftlichen Hierarchien reproduziert (…); es transformiert bei aller scheinbaren Neutralität gesellschaftliche Klassifizierungen in solche des Ausbildungserfolgs und etabliert damit Hierarchien“ (1984, S. 605, vgl. S. 210f, S. 242f, s. auch Wexler 1990, McLaren 1993).
Zur Diskussion um öffentliche Bildung und Bildungsinhalte siehe weiter Apple 1982; Englund 1986.
Zur demokratischen deutschen Tradition, deren Vertretern siehe Grab 1984.
Zum militarisierten Lebensstil der bürgerlichen Oberschicht siehe Binding ( 1937, S. 137f): „Aus einem unerklärlichen Grund gehörte eine zur Schau getragene Blödigkeit des Ausdrucks über einem unsinnig hohen steifen Kragen des Waffenrocks zum Benehmen und Auftreten des deutschen Offiziers (…). Auf unerklärliche Weise mischten sich in der Gesellschaft, die alle eigentlich persönliche Beziehung verlor und den Freundeskreis vergaß, aus dem sie hervorgegangen war, die Kreise der Gelehrten mit denen der Beamten und beide mit denen der Offiziere. Um dieser letzteren willen entfaltete der verkehrsfähig gewordene reiche Kaufmann und Fabrikant jungen Aufgstiegs — als der vierte im seltsamen Bunde — eine mühsame, nachgeahmte, traditionslose hilflose Pracht.“
Im Rahmen seiner Analyse der Dialektik institutionalisierter Bildung kann Heydorn letztendlich argumentieren: „Die Allgemeinheit, die die Bildung (in der Gegenwart, H. S.) gewonnen hat, verweist darauf, daß die Momente der Bildung ihre klassengeschichtliche Zerrissenheit überwinden, in einer befreiten Gattung universell werden können“ (1980a, S. 291).
Gleichwohl ist diese Perspektive nicht nur eine deutsche, sondern betrifft ein allgemeines Problem bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften; siehe dazu die Beiträge unter der Überschrift „Schooling, Cultural Politics, and the Struggle for Democracy“ in: Giroux/McLaren 1989. Die Reichweite der damit gesetzten Aufgabe ist bereits vor langer Zeit von A. Siemsen formuliert worden: „Ich sehe die Ursache (der gesellschaftlich-politischen Probleme dieses Jh., H.S.) vielmehr darin, daß unser Bewußtsein ausschließlich technisch orientiert wurde, auf dem Gebiete der Naturbeherrschung und materiellen Technologie gewaltige Erfolge erzielte und dafür das Gebiet der gesellschaftlichen Beziehungen völlig vernachlässigte” (Siemsen 1948, S. 5, vgl. S. 10, 93f, 146 ).
Gegen antipädagogische Affekte hält Heydorn fest: „Befreiung muß dort vollzogen werden, wo der geschichtliche Antagonismus seine erkennbarste Zuspitzung erfährt. Nur dort kann die Auflösung einsetzen. Dies heißt in der Praxis und im Hinblick auf den Normencharakter der institutionalisierten Bildung, daß die Instrumente, deren Aneignung verlangt wird, angeeignet werden müssen. Die Lernleistung (und dies verweist auf die Hegelsche Formulierung von Bildung als „Werden zum Allgemeinen“, H.S.), die von der Schule verlangt wird, muß auch dann erbracht werden, wenn ihre menschenfeindliche Absicht offenliegt, weil sich der erreichte Stand einer Zivilisation über sie objektiv niederschlägt; die Instrumente werden an die Hand gegeben, die für die Steuerung der gesellschaftlichen Prozesse unentbehrlich sind. Nur wenn wir über sie verfügen, können wir dieser Prozesse Herr werden. (…) Eben dieser Widerspruch muß ausgehalten werden; Aneignung und Befreiung sind aufeinander verwiesen” (Heydorn 1980, S. 176 ).
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© 1995 Leske + Budrich, Opladen
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Sünker, H. (1995). Politische Kultur und institutionalisierte Bildung in Deutschland — Zur Gewaltförmigkeit der Staatsschule in historischer Sicht. In: Schubarth, W., Melzer, W. (eds) Schule, Gewalt und Rechtsextremismus. Reihe Schule und Gesellschaft, vol 1. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95781-8_11
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-95781-8_11
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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