Zusammenfassung
Spätestens seit dem Bombenanschlag von Oklahoma im April 1995 hat eine Spielart des amerikanischen Individualismus wieder auf sich aufmerksam gemacht, die sich auf eine tiefe Abneigung gegen staatliche Bevormundung gründet: Wenn die Regierung nicht mehr Herr der Lage ist, müssen kampfbereite Individuen das Recht in die eigenen Hände nahmen und mit Waffengewalt durchsetzen. Welche Bedeutung kommt diesem Individualismus für die amerikanische Familie zu? Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen family decline und rise of individualism? Bei der Beantwortung dieser Frage wird sich zeigen, daß hier eine Fülle von Problemen liegt, weil weder „family decline“ noch „rise of individualism“ klare und eindeutige Konzepte sind. Der Aufsatz bezieht sich in seinen Hauptteilen ausschließlich auf die amerikanische Diskussion bzw. auf Diskussionen zur amerikanischen Familie. Wenn hier also von „Individualisierung“ die Rede ist (ein in den USA kaum gebräuchlicher Begriff), sind damit Phänomene gemeint wie Gemeinschaftsund Bindungsverlust (loss of commitment), die wachsende Bedeutung eines expressiven Individualismus oder die stärkere Orientierung an Konzepten wie Selbstverwirklichung (self-fulfillment) und Selbst-Vertrauen, Selbst-Ver-läßlichkeit (self-reliance).
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Anmerkungen
McClosky/Zaller (1984: 111).
Swart (1962).
Bertelson (1986: 8ff.).
McClosky/Zaller (1984: 111).
Vgl. Wilkinson (1992: 10).
Während einzelne Autoren (etwa Shorter 1975: 242) glauben, daß der Individualismus in seiner modernen Form erst in den USA entstanden sei, hat er für die meisten seine Wurzeln in England (z.B. Stone 1981). Für Macfarlane (1978) reichen diese mindestens bis ins 14. Jahrhundert zurück. Als basic ideas des Individualismus hebt Lukes (1973) human dignity, autonomy, privacy und self-development hervor, die sich zu Gleichheit und Freiheit bündeln lassen. Für die USA muß man hinzufügen: self-reliance (Emerson 1951).
Potter (1992) bezieht sich dabei auf die „frontier-Hypothese“, die der Historiker Turner am Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete. Demnach war kaum ein historischer Faktor so wichtig für die Herausbildung der amerikanischen Kulturwie die nach Westen offene Grenze. Deshalb wird immer wieder betont, daß kein Volk auf der Erde so mobil sei wie die Amerikaner. Pierson (1992) sprach vom M-Faktor: Movement, mobility, migration. Zur besonderen Auto-Mobilität der Amerikaner siehe Burkart (1994b). In der Kommunitarismus-Diskussion spricht Walzer (1993) von einer vierfachen Mobilitätssteigerung in den USA geographisch, sozial, familiär und politisch.
McClosky/Zaller (1984: 113); Bell (1990: 35f., 40).
Ketcham (1987: vii).
Wilkinson (1992: 177f.) kritisiert in seinem Kommentar wohl zurecht, daß Potter hier die USA zu sehr auf Gleichheit und Demokratie reduziert.
Bellah et al. (1985:35–48).
Lynd/Lynd (1929, 1937).
Riesman (1969).
Potter (1992: 165).
Potter (1992: 166).
Fiedler (1955: 134f.).
Vgl. Wilkinson (1992: 178), der hier auf die gegensätzlichen Schlußfolgerungen bei W. White und Potter hinweist.
Parsons/Platt (1973).
Parsons (1972).
Meyer (1986a:211).
Joas (1992).
Varenne (1977:40).
Varenne (1977:53).
Albers (1992: 39).
Tocqueville (1987,II: 154).
Joas (1992: 863). „Als Idee betrachtet, ist die Demokratie nicht eine Alternative zu anderen Prinzipien gemeinsamen Lebens. Sie ist vielmehr die Idee der Gemeinschaft selbst.“ Diesen Satz John Deweys aus seinem Buch The Public and its Problems (1927) zitiert (Joas 1992: 859).
Joas (1992: 864).
Bellah et al. (1985).
Riesman (1969: 5).
Bender (1978: 45ff.) zeigt, daß für manche Beobachter diese Wende schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts vollzogen war. Und er zeigt weiter, daß fast in jeder Phase der Beobachtung Amerikas, bis in unsere Tage, immer wieder dieses Bild des Gemeinschaftsverlustes beschworen wurde. Bender fragt deshalb: „How many times can community collapse in America?“ (Bender 1978: 46).
Z.B. Donohue (1990).
Joas (1992: 866).
Bellah et al. (1985:23).
Yankelovich (1992) spricht von einer neuen Expressivität (mit Elementen wie Selbstverwirklichung, einer neuen Arbeitsethik, nachlassender Opferbereitschaft und einem „Hedonismus ohne Entschuldigung“). Für ihn ist der „Wohlstandseffekt“ die treibende Kraft hinter der neuen Expressivität. In eine ähnliche Richtung gehen die Argumente aus der Wertwandeldiskussion („post-materialistische“ Werte, also: weniger Leistungsorientierung, mehr Hedonismus).
Beide sind scharfe Kritiker des expressiven Individualismus, wie er sich besonders im Narzißmus zeigt (Lasch 1980). Für Sennett (1986) ist die kulturelle Tendenz, das eigene Selbst zu enthüllen und zu offenbaren, der Kern des Untergangs von Sozialität im Sinne von Öffentlichkeit.
Bellah et al. (1985: viii, vi).
Bellah et al. (1985: 6). Das gilt besonders in Kalifornien, wo Brian Palmer lebt. „In the popular view, this individualism is thought to reach its apogee in California; some would even specify Southern California. There all of society ... is rationalized around individual ends ... The ground for thinking of Southern Cali-fornian individualism as the culmination of the Western form is that there a person’s relation to the moral and the natural universes is unmediated by the surrounding social community“ (Meyer 1986a: 210).
International vergleichende Daten und Analysen finden sich zum Beispiel im Heft 3/1988 des Journal of Family Issues sowie bei Sorrentino 1990; zusammenfassend: Burkart (1994a).
Bellahetal. (1985: 100f.).
Popenoe (1993).
Skolnick (1991), Stacey (1991).
Shorter sieht sich 15 Jahre später in seiner Einschätzung im großen und ganzen bestätigt (Shorter 1989).
Ariès (1980).
Obwohl die Entwicklungen im Bereich der Familie vergleichbar sind, spricht man in den USA im Zusammenhang mit Eheund Familie selten von „Individualisierung“. Und wenn eine solche Interpretation einmal auf amerikanische Verhältnisse angewandt wird, wie von Buchmann (1989), stößt dies eher auf Skepsis, wie etwa die Rezension durch Sorensen (1990) zeigt.
Zelizer (1985).
Thomas/Znaniecki (1919). Popenoe weist selbst darauf hin, daß „family decline“ eine alte Idee ist. „The sociological thesis that the family is not in decline is of relatively recent origin... Family decline is one of the oldest ideas in the social sciences“ (Popenoe 1988: 4).
Popenoe (1988: 289).
Siehe dazu auch Glenn (1993).
Z.B. Bumpass (1990: 491).
Berger/Berger (1984), Davis (1985), Cherlin (1987), Popenoe (1988), Stacey (1991). Cancian (1987) stellte aufgrund einer Inhaltsanalyse populärer Medien eine abnehmende Familienorientierung zugunsten individueller Selbstverwirklichung fest.
Yankelovich (1987), McLaughlin et al. (1988: 169–191). Thornton, der die Ergebnisse zahlreicher Studien zusammenstellte, konstatiert „a significant weakening of the normative imperative to marry, to remain married, to have children, to restrict intimate relations to marriage, and to maintain separate roles for males and females“ (1989: 873). In einer Studie zum Beispiel sank der Anteil von Frauen, die dem statement zustimmten „Do you feel almost all married couples who can ought to have children?“ von 85 Prozent 1962 auf 43 Prozent 1980 und 1985. Für die Töchter dieser Frauen lagen die entsprechenden Anteile bei 36 Prozent (1980) bzw. 33 Prozent (1985) (Thornton 1989: 882).
Parelius (1975) stellte einen starken Wandel zwischen 1969 und 1973 für die Orientierungen von College-Frauen gegenüber Beruf und Familie fest: Noch 1969 favorisierte eine klare Mehrheit „not to work outside the home until children are grown“ statt „work outside the home throughout adulthood“. Nur vier Jahre später war dieser Unterschied fast völlig verschwunden (vgl. McLaughlin et al. 1988: 170, 173).
Gerson (1985).
Thornton (1989).
Zum Beispiel Lesthaeghe/Wilson (1986: 269). Auch Caldwell (1982: 47, 258) hebt den Aspekt der innerfamilialen Demokratie hervor.
Wie auch in Europa bezog sich die Vorstellung von Individualität zunächst nur auf Männer. Für Bertel-son (1986) ist das im Grunde immer noch so. „The truly masculine male is seen as markedly individualistic, and the individualist is almost always assumed to be male. Femininity, by contrast, is conceived as essentially the opposite of what individualism implies ...“ (Bertelson 1986: 1).
Davis (1955) identifizierte vier Aspekte der Geschlechterbeziehungen, die früher dazu beitrugen, die Fertilität auf hohem Niveau zu halten: die häusliche Abgeschiedenheit der Frauen; die patrilineale Zentrierung der Familiedie Geschlechtssegregation; sowie die fehlende Autonomie der Frauen.
Degler (1980: 188, 189, 191).
Burkart (1993, 1994a). Dort wurde ein „operationalisierbares Modell“ des Individualisierungstheorems konstruiert, in Anlehnung an die deutsche Diskussion. Es wurde überprüft am Beispiel der Frage „Individualisierungder Elternschaft in den USA?“ für den Zeitraum der letzten drei Dekaden.
Skolnick (1991), Burkart (1994a: 122f.).
Rindfuss et al. (1988), Morgan (1991).
Obwohl auch Bellah et al. (1991: 54) auf die Besonderheit der fünfziger Jahre hinweisen — und dabei zum Beispiel bemerken, daß in dieser Zeit die Scheidungsraten stagnierten, die seit Jahrzehnten angestiegen waren -, heißt es knapp 10 Seiten vorher, daß die Familie seit Generationen als selbstverständlich betrachtet worden sei (45), als ob es nicht die Einbrüche der dreißiger Jahre gegeben hätte, mit der hohen Ehe- und Kinderlosigkeit.
Das „Chaos“ (der Liebe) ist dann vielleicht mehr ein Problem der Beobachtung.
Vgl. Burkart (1994a: 125ff.).
Kobrin (1983).
Sweet/Bumpass (1987: 349).
Vor allem ältere Frauen leben zunehmend allein. Der Anteil der Alleinlebenden unter den über 65jährigen Frauen stieg zwischen 1970 und 1988 von 33,3 % auf 40,6 % (U.S. Bureau of the Census: Statistical Abstract 1982/83: 44; 1990: 49).
Z.B. Goldscheider/Waite (1987). In den achtziger Jahren entwickelte sich jedoch eine Gegenbewegung: Immer mehr junge Erwachsene lebten länger bei ihren Eltern oder kamen nach einer Scheidung wieder zu ihnen zurück (Glick/Lin 1986, Goldscheider/DaVanzo 1985). „The rise of the primary individual’ has come to a halt“ (Santi 1990: 230).
Cargan (1986), Gross (1987).
Sand (1990).
Rawlings (1989).
Z.B. Eiduson (1980), vgl. auch Nave-Herz (1992).
Riesman (1969:6).
So auch Lesthaeghe (1992), der behaupet, daß in unseren Tagen eine Epoche zu Ende gehe, die ein halbes Jahrtausend umfaßte.
Cherlin (1992).
Mott (1990).
So auch die Kritik eines schwarzen Autors an Habits of the Heart (Harding 1988): Die Analyse des amerikanischen Individualismus dort ausschließlich auf das weiße Mittelklassen-Amerika konzentriert. In einer Antwort verteidigt Bellah (1988) die Richtigkeit ihrer Vorgehensweise, obwohl er die Kritik Har-dings sehr ernst nimmt. Eines seiner Hauptargumente ist, daß Habits of the Heart nicht als dogmatische Analyse gemeint sei, sondern eher als Einladung an andere Gruppen der amerikanischen Gesellschaft, zu antworten und ihre Position gegenüber der Kultur des weißen Mittelklassen-Amerika zu bestimmen. Und Bellah präsentiert eine Liste von solchen Versuchen, die es bereits gibt.
Bellah et al. (1985:206).
Ausführlich dazu Burkart (1993, 1994a: 178ff).
Espenshade (1985), Cherlin (1992).
Mare (1991), Kalmijn (1991).
Wilson (1991).
Während Bellah et al. in Habits of the Heart versuchen, die Abhängigkeit des Individualismus von der Gemeinschaft zu verdeutlichen, geht es in The Good Society (1991) eher darum, den Gegensatz zwischen Individuum und Institutionen abzubauen, der in der Ideologie des amerikanischen Individualismus ebenso zu finden ist.„Americans often think of individuals pitted against institutions. It is hard for us to think of institutions as affording the necessary context within which we become individuals; of institutions as not just restraining but enabling us; of institutions not as an arena of hostility within which our character is tested but an indispensable source from which character is formed“ (Bellah et al. 1991: 6).
In der Überschätzung von individualistischer Rationalität und Autonomie konvergieren Individualisierungsthese und Rational-Choice-Theorien.
Bellah et al. (1985:21).
Bellah et al. (1991:5).
Bellah et al. (1985: vii).
Bellah et al. (1991:46).
Sloan verweist darauf, daß (besonders in den USA) die Ideologie von Originalität und Individualität weit verbreitet ist, so daß selbst „die Intelligenteren unter uns“ dazu neigen, die soziale Basis ihrer Neigungen und Wünsche und von individuellen Entscheidungen zu leugnen (Sloan 1987: 22f.).
Sennett (1986: 246).
Varenne (1977:41).
Varenne (1977: 43).
Varenne (1977: 44).
Varenne (1977: 48).
Schon Tocqueville war die Ambivalenz von Individualismus und Konformismus aufgefallen: Nur in der Ideologie steht der Individualist in radikalem Gegensatz zum Konformisten.
Burkart (1993, 1994a).
Kaufmann (1988: 402ff.).
MilieuUnterschiede wurden häufig festgestellt, zum Beispiel bei Bertram/Dannenbeck (1990) oder Burkart/Kohli (1992).
Und das gilt nicht nur für die schlechten Adepten, Imitatoren und Popularisierer. Die jüngsten Beiträge von Beck und Beck-Gernsheim (1993, 1994) zeigen, daß die Genauigkeit der Argumente eher abnimmt.
Ich danke Hans Bertram für die Anregung zu diesem Aufsatz und die Unterstützung bei seiner Fertigstellung und Publikation.
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Burkart, G. (1995). Individualisierung und Familie in den USA. In: Bertram, H. (eds) Das Individuum und seine Familie. Deutsches Jugendinstitut Familien-Survey, vol 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95771-9_13
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