Zusammenfassung
Im vorigen Kapitel wurde ein Ansatz ins Auge gefaßt, der Texte in ihr entstehungsgeschichtliches kommunikatives Beziehungsgefüge zu piazieren versucht, indem er sie vor der Folie dessen, was sie negieren, erklärt. Gegen diesen Ansatz könnte eingewendet werden, er laufe in der Praxis auf das gleiche hinaus wie etwa die kritisierten historisch-kontextualistischen Methoden. Trotz subtiler oder quasi-subtiler Abgrenzungen gegen andere Ansätze biete er im Grunde nichts Neues und bilde nur ein übersophistiziertes Theoriegebäude, dessen man sehr wohl entbehren könne. Dem möchte ich zunächst entgegenhalten, daß eine theoretische Höherlegung oder doch neue theoretische Begründung der Interpretationspraxis einen Wert an sich hat, insofern sie bisher Unreflektiertes durchdenkt bzw. auf Altes neues Licht wirft. Doch auch in anderer Hinsicht scheint mir der Einwand verfehlt. Nimmt man nämlich die oben (S. 39ff.) postulierte und wissenschaftstheoretisch heute wohl allgemein anerkannte Perspektivgebundenheit des Erkennens wirklich ernst, so kann von einer objektiv existierenden textuellen Entstehungssituation, die man mittels einer anderen Methode auch entdecken (‘entdecken’) könnte, keine Rede sein. Vielmehr wird unter dieser Optik jede Wirklichkeit zur Wirklichkeit überhaupt erst im Licht des verwendeten Referenzrahmens. Das darf allerdings nicht so verstanden werden, als wäre Wirklichkeit etwa nur eine sprachliche Konstruktion.
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Literatur
Dietze 1981 (1. Aufl. 1957; die 3. Auflage wurde gegenüber der ersten und zweiten geringfügig verändert; die 4. Auflage 1981 ist identisch mit der dritten).
Hermand 1970: 29.
Siehe zur Forschungsgeschichte des Jungen Deutschland Behrens et al. 1973 (insbes. S. 161–278), Bock et al. 1977 (insbes. S. 100–129), Heintz 1972, Hermand 1970, Hömberg 1975 (insbes. S. 1–6), Rosenberg 1975b (insbes. S. 7–16), Schuppan 1960, Stanescu 1969, Stein 1972, Stein 1974, Steinecke 1974, Weydt 1951 und Wunberg/Funke 1980.
Es sei nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, daß diese und ähnliche Bemerkungen in einer diskontinuierenden Analyse der Forschung, die hier aus angegebenen Gründen nicht durchgeführt werden kann, natürlich zu differenzieren wären.
Siehe als wohl ausgeprägtestes Beispiel Höllerer 1958.
H.-W. Jäger: Zur Rezeption des Vormärz in der DDR, in: Behrens et al. 1973: 256–278, hier S. 262.
Vgl. Windfuhr 1958: 472.
Bei Heine, dem Vorläufer des Jungen Deutschland, wird die Uneinheitlichkeit seiner Aussagen zu Goethe dadurch wegerklärt, daß sie als Manifestation einer dialektischen Entwicklung gewertet wird (S. 58ff.).
Um den Unterschied zwischen den von ihm nicht ganz abgewerteten Frankfurtern und den Berlinern, die völlig verloren seien, deutlich hervorzuheben, macht Dietze übrigens allerlei Winkelzüge. So wird manchmal an Gutzkow und Wienbarg positiv hervorgehoben, was an Mundt c.s. kritisiert wird (à la: Aufnehmen von Anregungen versus Mangel an selbständigem Urteil; vgl. etwa S. 70 mit S. 307, Anm. 297 und S. 113 mit S. 102 und 119. Siehe außerdem Windfuhr 1958: 473–474).
Ab und zu gelangt Dietze dabei zu Urteilen, die wohl auch aus marxistischer Sicht kritisierbar wären; so wenn er (S. 203) es bemängelt, daß die Jungdeutschen die Fabrik nicht zum Gegenstand literarischer Gestaltung gemacht haben. (Siehe dazu auch Werner 1964.)
Die DDR-Forschung zum Jungen Deutschland nach Dietze bewegt sich in denselben Bahnen wie er; zwar wertet sie das Junge Deutschland nicht so drastisch ab wie dieser, verwendet jedoch aufgrund ihrer marxistischen Perspektive dasselbe Grundschema (‘Übergangsperiode’ usw.). Siehe etwa Böttcher et al. 1969, Böttcher/Rosenberg 1975, Rosenberg 1967, 1972, 1975-a, 1975-b und Vormärz. Die negative Einschätzung des Jungen Deutschland und seiner Goethe-Rezeption durch die DDR-Forschung läßt sich übrigens nicht ausschließlich aus der marxistischen Theorie im allgemeinen herleiten; sie rührt auch von den kontemporären Engelsschen Einzelurteilen zum Jungen Deutschland (siehe vor allem Engels’ Kritik in den Deutschen Jahrbüchern (1842) an Alexander Jung und dessen Vorlesungen über die moderne Literatur der Deutschen, in MEW 1: 433–445) sowie von einer deutlichen Hochstilisierung Goethes — des “genialsten Deutschen vor Karl Marx” (Dietze 1981: 260) — her (vgl. dazu auch Engels’ Artikelserie in der Deutschen-Brüsseler-Zeitung (1847) über Karl Grüns Ueber Göthe vom menschlichen Standpunkte, in MEW 4: 222–247).
Sengle 1971–1980a. Bd. I: Allgemeine Voraussetzungen, Richtungen, Darstellungsmittel (1971); Bd. II: Die Formenwelt (1972); Bd. III: Die Dichter (1980a). Zum folgenden vgl. auch Stein 1974 und insbes. Brinkmann 1975.
Heintz 1972:167. Auch die von Sengle scharf kritisierten und Sengle scharf kritisierenden historisch-materialistischen Forscher erkennen die Bedeutung seines Werkes voll und ganz an, wie etwa aus der Epochendarstellung Peter Steins hervorgeht (Stein 1974).
Dies ist der Begriff, den Sengle früher verwendet hatte.
Zu Ranke siehe auch I.1, S. 43, Anm. 59.
So der Titel einer Aufsatzsammlung (Sengle 1980b), in der Sengle seine literaturhistoriographische Position darstellt und verteidigt. Vgl. auch III: 546.
Ich greife ziemlich willkürlich einige Beispiele heraus: “Ein gewisses Luxusbedürfnis hatte schon die Nachkriegsgeneration von damals. [...] Wie nach dem zweiten Weltkrieg mußte sich jeder einschränken, wenn die deutsche Volkswirtschaft eine Chance für die Zukunft haben wollte” (I: 14); “Es gehört zum guten Ton, sich wenigstens prinzipiell, mit Hilfe aller möglichen Abstraktionen, zur Religion zu bekennen. Man darf sich, zur Verdeutlichung dieser Situation, getrost an die ersten Jahre der Adenauerschen Restauration erinnern” (I: 53); “Daß seine [= Heines -HdB] Schüler in Deutschland, die von der Not der Kriegszeit noch weniger mitbekommen hatten und erst die eigentliche Nachkriegsgeneration waren, von der ‘Entsagung’ mehr verstanden, ist nach allem, was wir vom Phänomen der Nachkriegsgeneration wissen, nicht anzunehmen” (I: 162); “Man sieht: die Hegelianer waren schon damals gegen eine individuelle Leistungsprüfung!” (I: 218).
Andere Beispiele: “Die Folgen der Unbürgerlichkeit, die das 20. Jahrhundert erschrocken erlebte, lassen sich schon in manchen Versen dieses Dichters [= Heines -HdB] erkennen” (III: 486); “Man wird wohl überhaupt”, bemerkt Sengle zustimmend, “der Darstellung von Iggers entnehmen können, daß der Saint-Simonismus faschistische Elemente enthält und nur bedingt als Frühsozialismus angesprochen werden kann” (III: 487); “Man weiß heute auch, daß Heine zeitenweise ein Vorläufer des dionysischen Nachromantikers Nietzsche, des geistigen Vaters der im ganzen so verhängnisvollen deutschen Neuromantik, war. Durch seine Napoleon-Schwärmerei weist Heine auf die kriegerische Romantik der Franzosen zurück und voraus auf die moderne Rebellion der Faschisten und Kommunisten gegen die ‘bürgerliche’ Moral und Vernunft in der unglücklichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts” (III: 1034).
Unter dem Jungen Deutschland versteht Sengle die im Bundestagsbeschluß vom 10. Dezember 1835 genannten Autoren (Gutzkow, Heine, Laube, Mundt, Wienbarg) unter Hinzufügung von Börne und Kühne. Dabei bilde Heine insofern eine Ausnahme, als er ein wirklicher Dichter sei.
Siehe I: 120–123. Einen repräsentativen Querschnitt durch die ältere Biedermeierforschung bietet Neubuhr (Hg.) 1974.
Dagegen sei die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den Verzicht auf universale Ordnungsprinzipien und durch die “Anerkennung aller individuellen und kollektiven Substanzen gekennzeichnet” (I: 82).
Sengle sagt zwar, daß es “nur eine formale (psychische, gesellschaftliche, dialektische usw.), keine substantielle Epocheneinheit” (II: 321, Anm.) gebe, aber erstens ist es undeutlich, was das genau heißen soll, und zweitens bleibt die Tatsache bestehen, daß er die Geschichte übergreifenden Kategorien unterordnet.
Das gleiche gilt für die Literatursprache (die verschiedenen Stile) sowie die Formenwelt (die Literaturgattungen): Auch sie behandelt Sengle immer nur im Gesamtkontext der Restauration. Er richtet sich nicht auf die je spezifische Diktion der Schriftsteller, nicht auf die jeweilige autonome Handhabung der sprachlich-literarischen Mittel, sondern es geht ihm um die überindividuellen sprachlichen Erscheinungen. (Vgl. etwa I: 368–369.)
Luhmann 1984: 102.
Als Beginn dieser Entwicklung gilt 1966, das Erscheinungsjahr der von Jost Hermand herausgegebenen Anthologie Das Junge Deutschland (Hermand 1976).
Koopmann 1970. Das Buch hat der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn 1967/68 als Habilitationsschrift vorgelegen.
Wunberg/Funke 1980: 75.
Wie Dietze geht Koopmann davon aus, daß das Junge Deutschland um 1840 aufhört zu existieren, sieht aber, da er auch Börne und Heine als Jungdeutsche betrachtet, seine Anfänge bereits in den zwanziger Jahren.
Vgl. auch S. 62, wo Koopmann nach einem Gutzkow-Zitat feststellt: “Sätze wie die eben zitierten könnten fünfzig Jahre später geschrieben sein; sie würden jedem naturalistischen Manifest zur Ehre gereichen”. Bei solcher Verbindung des Jungen Deutschland mit (viel) Späterem ist Koopmann meistens allerdings wesentlich vorsichtiger; siehe etwa S. 78 und S. 195, Anm. 108.
“beinahe”, denn möglich wäre auch eine andere Vereinheitlichungsstrategie. Siehe dazu S. 122ff.
Siehe — um nur einige Beispiele herauszuheben — die Aufsätze in Kruse/Kortländer (Hg.) 1987 (der Aufsatz Peter Steins in diesem Band bildet eine Ausnahme), Mandel-kow 1980 sowie Brandes 1991.
Steinecke 1982.
Vgl. auch Behrens et al. 1973, Estermann 1972, Hermand 1976, Lecke 1978, Mandelkow 1975 und 1977 sowie Wülfing 1978.
Bliemel 1955: 10.
Mandelkow 1975: LXIX.
Dumbacher 1931: 2.
Kanehl 1913: 72.
Kanehl 1913: 137–138.
Singer 1895: 13–14.
von Noé 1910: 37.
Steinecke 1982: 37.
Brandes 1991: 26. Dem fügt sie in einer Anmerkung hinzu: “In diesem Zusammenhang ist auch folgendes interessant: Zwei der Jungdeutschen [gemeint sind Wienbarg und Gutzkow -HdB] enden im Wahnsinn. Es wäre sicher lohnend, die Krankheit im Kontext der Biographie, aber auch der Zeit zu analysieren” (Brandes 1991: 26, Anm. 39). Eben diesen Versuch unternehmen (beide von Brandes merkwürdigerweise nicht erwähnt) Peter Bürgel, der die Briefe Gutzkows als Tathographie einer Epoche’ interpretiert (Bürgel 1975), und Manfred Schneider, der die These verteidigt, daß die Schriften, in denen die Jungdeutschen “die Saturnalien ihrer seelischen und intellektuellen Verworrenheit [feiern]”, Ausdruck der Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit der bürgerlichen Familiarität, zwischen dem Wunschbild der innigen familiären Liebe und der Realität eines immer noch primär auf Macht und Gewalt basierten Regelsystems sind. Und “wenn auch die seelische Pathologie allmählich aus der privaten Sphäre herausgetrieben wurde, um sich in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext zu explizieren, so blieb die politische und sozialkritische Terminologie gleichwohl nur Allegorie der subjektiven Erfahrungen” (Schneider 1980, die Zitate auf S. 146).
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de Berg, H. (1995). Zur Kritik am methodischen Ansatz einiger repräsentativer Untersuchungen zum Jungen Deutschland. In: Kontext und Kontingenz. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95640-8_5
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