Zusammenfassung
Ludwig von Bertalanffy fängt die intellektuellen Stimmungen der Weimarer Jahre ein und verbindet sie zum Programm einer organismischen Einheitswissenschaft. Seine frühen Arbeiten zu einer allgemeinen Systemlehre, der unmittelbaren Vorform der Allgemeinen Systemtheorie, entspringen einer »theoretischen Biologie«, die den strengen Aufbau einer nicht nur beschreibend klassifizierenden, sondern einer erklärenden Wissenschaft anstrebt. Bertalanffy läßt die in der Biologie seit der Jahrhundertwende vorherrschende Kontroverse zwischen Mechanismus und Vitalismus — einer Kontroverse, der immerhin die methodische Verwendung des Umweltbegriffs sowie die Vorstellung eines »Funktionskreises« als Zone der Anpassung eines Lebewesens an seine »Umwelt« zu verdanken war — hinter sich. Der Begriff der Ganzheit wird von anthropomorphen Implikationen befreit. Die Zweckvorstellungen der vitalistischen Biologie gehen in einen Systembegriff über, der einer mathematischen Analyse standhalten soll. Indem er den Weg einer formalen Kodifizierung einschlägt, erspart sich Bertalanffy eine Reflexion auf die latenten Bedeutungsgehalte der Weimarer Ganzheitsmetaphysik, bleibt dadurch andererseits vor materialen Analogien der Art, wie sie etwa Jakob v. Uexkülls Staatsbiologie (1933) riskiert: bleibt vor der von Helmuth Plessner so treffend charakterisierten »Stunde der autoritären Biologie« bewahrt. Indem er die naturphilosophischen Systemlehren der Vorkriegszeit an die methodischen Standards der zeitgenössischen Wissenschaft heranzuführen versucht, gewinnt Bertalanffy Einfluß auf die in den 40er Jahren entstehende interdisziplinäre Bewegung, die in die Allgemeine Systemtheorie münden wird. Aus dem Problemhorizont seiner theoretischen Biologie heraus entwirft er die Abgrenzungen und das Vokabular, die bis in die gegenwärtige Systemtheorie gültig bleiben: die Unterscheidungen zwischen geschlossenen und offenen Systemen, zwischen Kausalität und funktionaler Komplexität sowie einen »generalisierten« Entropiebegriff. Ich werde diese Konstruktionen in ihrem Zusammenhang darstellen, um an ihnen zugleich die Grenzen der allgemeinen Systemlehre der 30er Jahre aufzuzeigen — Grenzen, die nicht zuletzt aus unabgetragenen Bedeutungsschichten der Weimarer Sozialkosmologie resultieren.1
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Literatur
I Plessner 1935. I44ff.
Bertalanffy 1971, 6.
Cannon 1929 und 1932. Letztere, The Wisdom of the Body, war eine nachhaltig auf Talcolt Parsons wirkende Schrift.
Bertalanffy 1932/42, 14, der hier eine üblicherweise Galilei zugeschriebene, in dessen Schriften bislang jedoch nicht nachgewiesene Maxime zitiert.
Bertalanffy 1932/42, 13.
Der klassische Text einer mathematisch-geometrischen Betrachtung biologischer Wachstums-und Transformationsprozesse war Thompson 1917 - eine Arbeit, die im Kontext der » Katastrophentheorie«, einer jüngeren systemtheoretischen Richtung, nochmals zu Ehren kommen sollte. Bertalanffy nennt als erste Arbeit, in der die Idee allgemeiner Systemgesetze eingeführt und eine Definition allgemeiner Systeme (als Systeme von Differentialgleichungen) vorgeschlagen worden sei, Alfred Lotkas Elements of Physical Biology ( 1925 ). Der sozialwissenschaftliche Einfluß von Lotkas und Volterras Gleichungssystemen ist von der Theorie ökonomischer Zyklen her bekannt. Auch die jüngere Populationsdynamik gibt wichtige Impulse an die neuere Systemtheorie weiter. Als weiterer früher Einfluß auf die Systemtheorie sind ferner die von Ronald A. Fisher entwickelten statistischen, populationsgenetischen und agronomischen Untersuchungstechniken zu nennen, die nicht nur unabhängige Vorarbeiten zur Informations-und Spieltheorie sowie zu einer Theorie multipler Wechselwirkungen darstellen, sondern auch folgenreich für die empirische Sozialforschung geworden sind.
Bertalanffy 1930/31, 387.
Bertalanffy 1930/31, 390.
Bertalanffy 1930/31, 402.
Hartmann 1932, 236. ll Bertalanffy 1968, lof.
So Mach 1905.
Nagel 1961, 162ff., hier 174. Zum methodologischen Individualismus bzw. zu den Grenzen einer analytischen Begriffsstrategie s. u., 268f. bzw. 171 f.
Mill 1843, 7. u. B. Kap.; vgl. jedoch unten, 215, Fn. 30.
Borkenau 1934, VI; vgl. die kontroversen Positionen von Borkenau 1932 und Grossmann 1935.
Edgar Zilsels sozialhistorische Arbeiten über die Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft sind für den Wiener Kreis freilich untypisch geblieben. Zur Auswirkung des mechanistischen Weltbilds auf die frühbürgerliche Sozialphilosophie s. Freudenthal 1982, 161 ff. u. 251 ff. Eine differenzierte Einschätzung von Newtons ambivalentem Einfluß auf die allgemeine Wissenschaftstheorie gibt Lakatos 1963–64.
Die bekannteste Ausprägung des Reduktionismus in den Sozialwissenschaften ist die von J. St. Mill 1843 II, 486ff., behauptete Reduzierbarkeit der Soziologie auf psychologische Grundsätze, die in jüngerer Zeit von George C. Romans (1964, insbes. 62f.) vertreten wurde. Die in der gegenwärtigen Sozialwissenschaft vorherrschende Strategie einer »Mikrofundierung« sozialer Strukturen rekurriert nicht notwendig auf psychologische Gesetze, sondern in der Regel auf das entscheidungstheoretische Modell individuell rationaler Wahlhandlungen. Vgl. oben, Kap. 12, Fn. 43 u. 45.
S. Duhem 1906, 185ff. u. 253ff. Dies ist der Kontext der im 1. Kapitel, S. 23ff., erwähnten Stabilitätsbeweise des Sonnensystems.
Zumal sozialwissenschaftliche Erkenntnis tiefgreifender in ihren Forschungsbereich involviert ist als physikalische Meßwechselwirkungen: indem sie nämlich gegenüber der Quasi-Gesetzmäßigkeit latenter Funktionen alternative Handlungsspielräume eröffnen kann (Merton 1949, 106); s. o., 224.
Withrow 1980, 327ff., hier 328; zu einigen dieser Spekulationen und zum folgenden siehe ferner Withrow 1968. Einen historischen Oberblick über die aus den thermodynamischen »Paradoxien« abgeleiteten religiösen Spekulationen gibt Hiebert 1967. Für das Verhältnis von Entropie und Information s. u., 6. Kap., Abschn. 1, bzw., S. 173.
S. u., 5. Kap., Fn. 31 u. 51.
Eine elementare Ableitung der thermodynamischen Grundbegriffe und einige formale Umformungen nimmt Bertalanffy 1932/42, 35ff. vor.
Bertalanffy 1955, 30; vgl. 38. Zu den bekannteren physikalischen Versuchen, beide Gesetze der Wärmelehre zu verbinden, s. Landau and Lifschitz 1966, 30ff. Obwohl auch sie von unbeantworteten Fragen sprechen, verweisen die Autoren als Ausweg aus diesen »scheinbaren Widersprüchen« auf die allgemeine Relativitätstheorie. Ihr zufolge könne die Welt als Ganze nicht als geschlossenes System betrachtet werden, sondern befinde sich in einem veränderlichen Gravitationsfeld, d.h. aber: unter nichtstationären äußeren Bedingungen.
Boltzmann 1886, 39ff. Zum sozialwissenschaftlichen Weg der Statistik in die Physik s. Porter 1994.
Durkheim 1895, z.B. 195f., wo Durkheim die »dynamische Dichte« als »Grad der Verschmelzung« einer Gesellschaft den »isolierten Teilaggregaten« segregierter Gruppen gegenüberstellt. Ein »random chaos« der ungeregelten Verfolgung individueller Interessen wird dann bei Parsons 1937, 91, zur drohenden Chiffre für gesellschaftliche Unordnung bzw. Zerfallsprozesse schlechthin; vgl. hierzu Kap. 13. Die Sprache der Thermodynamik, insbesondere Helmholtz’ Unterscheidung zwischen freier und gebundener Energie, beeinfluf3te Freuds Psychoanalyse vom frühen Entwurf einer Psychologie (1895) bis zur Gegenüberstellung von entropischem »Todestrieh« und »Eros«, wobei letzterer das Ziel verfolge, »das Leben durch eine weitergreifende Zusammenfassung der in Partikel zersprengten lebenden Substanz zu komplizieren, natürlich es dabei zu erhalten« (Freud 1923, 268ff.). Für eine weitergehende »Generalisierung« s. u., 5. Kap., Fn. 29.
Bertalanffy 1932/42, 39. Bertalanffy 1961–64, 202 u.198: »Reaching equilibrium means death and consequent decay.«
Schumacher 1937, 10. Kap. (hier 116) hat das einschlägige Material zusammengestellt. Parsons 1937, 751 f., zieht, wie es der Grundstimmung seiner Theorie entspricht, eine optimistischere Analogie zwischen Entropie-und Rationalitätsbegriff: in Handlungssystemen sei eine irreversible Tendenz zunehmender Rationalisierung zu verzeichnen.
Bertalanffy 1961–64, 198; vgl. 1955, 48.
Cassirer 1950, I95ff.
Bertalanffy 1932/42, 51 (Zusatz in der 2. Auflage von 1951 ). Die Arbeit Ilya Prigogines, auf die Bertalanffy hier anspielt (Etude thermodynamique des phénomènes irréversibles) ist 1947 erschienen. Die späteren, naturphilosophisch »generalisierten« Arbeiten Prigogines (insbes. Prigogine and Stengers 1986) bilden den Hintergrund für eine weitere Richtung der jüngeren Systemtheorie: die «Theorie dissipativer Systeme«.
Bertalanffy 1932/42, 49.
Bertalanffy 1955, 38ff., hier 40.
Bertalanffy 1945–50, 53ff. u. 66ff.
Zweifel daran, daß dies durchgängig gelingt, meldet etwa Mainx 1955, 643ff., an.
Bertalanffy 1932/42, 44. »Alle derartigen Prinzipien sind letzten Endes Folgen aus dem Prinzip der kleinsten Wirkungen« (ebd.; vgl. ferner 56 und 74) - aus jenem »Prinzip« also, dessen ambivalente Geschichte uns bereits im I. Kap., S. 24f., begegnet ist.
Bertalanffy 1953. Es wäre zu fragen, ob die gegenwärtig von James Grier Miller vertretene Living Systems Theory (LST) nicht vor ähnlichen Problemen steht - wie auch die von Prigogines «Theorie dissipativer Systeme« thematisierten Phänomene an chemischen Anordnungen illustriert werden.
Bertalanffy 1932/42, 21.
Zu dieser Unterscheidung s. Hempel 1965, 154ff., und Bunge 1973, 114ff.
Bertalanffy 1962, 125; vgl. unten, 198.
Bertalanffy 1932, 80.
Repräsentativ für die fachliche Rezeption Bertalanffys ist Peter Medawars 1954 erschienene Rezension von Problems of Life, der englischen Ausgabe von Bertalanffy 1949. Für einen Überblick und eine zugleich skeptische Einschätzung der damaligen Ansätze zu einer »theoretischen Biologie« - da sie das Phänomen des ‘Lebens’ zu einem natürlichen Objekt reifiziere - sei nochmals auf Mainx 1955 verwiesen. Mit Mainx’ Kritik waren Versuche in dieser Richtung jedoch keineswegs obsolet. Im Rahmen jüngerer systemtheoretischer Ansätze versucht insbesondere die Theorie der »Autopoiesis« über einen neudefinierten Begriff des »Lebens« eine Vorstellung von »Autonomie« schlechthin zu gewinnen (s. Varela 1981 ).
Suppes 1967, 59; vgl. Nagel 1961, 338ff. und Withrow 1968.
In diese Richtung zielt mittlerweile auch Rapoport 1986, 176ff. u. 244ff., obwohl er weiterhin an Bertalanffys organismischer Heuristik festhält. Allerdings haben bereits Foster, Rapoport and Trucco 1957, 9f., auf die Schwierigkeiten hingewiesen, mithilfe thermodynamischer Kriterien oder stationärer Zustände geschlossene von offenen Systemen zu unterscheiden. Nagel 1961, 391ff., hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Abgrenzung zwischen »funktionalen Ganzen« und »Aggregaten* keineswegs so eindeutig ist, wie es scheinen mag; s. hierzu inbes. auch Scheibe 1987.
Bertalanffy 1962, 125.
s. etwa Gerard, Kluckhohn and Rapoport 1956.
ähnliches gilt, worauf in einer für die naturgeschichtlichen Traditionslinien des Organismus-, Ganzheits-und Systembegriffs insgesamt sehr aufschlußreichen Arbeit Ludwig Trepl ( 1987, 196ff.) aufmerksam macht, für die Entstehung einer wissenschaftlichen Okologie nach dem Zweiten Weltkrieg: »Der Okosystemansatz, so, wie er sich in der Okologie herausgebildet hatte, wäre, auf sich gestellt, freilich nicht von der Durchschlagkraft gewesen, die er bald erlangen sollte. (..) Die Geburt der New Ecology fällt darum nicht zufällig mit der der Systemwissenschaften zeitlich zusammen. Von dieser meint man gewöhnlich, daß sie aus zwei Ereignissen bestanden habe: (1) der Ùbertragung der Systemtheorie aus der Physik auf Organismen und Organismus-Umwelt-Beziehungen durch Bertalanffy, wodurch die ‘Allgemeine Systemtheorie’ entstand. Das war eine Entwicklung innerhalb des gleichen Diskussionszusammenhangs von Holismus/Organizismus/ Vitalismus und Reduktionismus in der bzw. um die Biologie, aus dem - an etwas peripherer Stelle - der Okosystembegriff hervorging; (2) der Entwicklung neuer Techniken und der dazugehörigen Theoriebildung auf den Gebieten von Steuerungswesen und Nachrichtenübertragung vor allem in der US-amerikanischen Kriegsforschung des 2. Weltkriegs (Kybernetik, Informationstheorie).«
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Müller, K. (1996). Die Idee einer allgemeinen Systemlehre: Ludwig v. Bertalanffys organismisches Programm der 30er Jahre. In: Allgemeine Systemtheorie. Studien zur Sozialwissenschaft, vol 164. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95633-0_4
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