Zusammenfassung
Wenn es darum geht, ein soziologisches Vokabular für das zu finden, was, angesichts dieses doch einzigartigen welthistorischen Vorgangs, etwas prosaisch unter dem Titel Modernisierung in den gesellschaftswissenschaftlichen, sozialhistorischen und sozialphilosophischen Arbeiten firmiert, dann konstituieren die Begriffe „Pluralisierung“ und „Individualisierung“ einen semantischen Operationsraum, in dem nicht wenige der die Heraufkunft moderner Gesellschaften begleitenden Erscheinungen ihren Platz fmden können. Platz darin finden auch jene Splitter und petites récits, die die Suche nach umfassenden Konzeptionen mit globalen Ausblicken, spektakulären Kollisionen und ubiquitären Zyklen ablehnen und das Schlingernde, Heterogene und Unberechenbare der Modernisierung in den Vordergrund rücken. Gerade die Rede von Pluralisierung impliziert eine endlose Zersplitterung und Fragmentierung, ein kulturelles Patchwork, welches das Navigieren auf jeder Ebene, auch auf der wissenschaftlichen, ziemlich erschwert. In äußerst verkürzter Form könnte man die Pluralisierung als jene Bewegung oder Dynamik verstehen, die aus einer singulären Wirklichkeit eine Pluralität, ein, in den Worten von Clifford Geertz (1996), „allgegenwärtiges Flickwerk“ von Weltauffassungen macht, die homogene Wirklichkeit samt ihren Wertehimmeln zerstückelt und klein hackt. Und in ebensolcher Verkürzung könnte man die Individualisierung als jenen Vorgang bezeichnen, in dem sich der Mensch zum Weltveränderer und Welteroberer aufschwingt, der die gegebene Wirklichkeit nicht nur aneignet, sondern zu verändern sucht und dementsprechend egologisches Handlungszentrum mit der Fähigkeit und Notwendigkeit zum Entscheiden wird. Pluralisierung der Weltauffassungen und Individualisierung sind, folgt man diesem Verständnis, aufs Engste ineinander verzahnt. Individualisierung ist Realisierungswille, denn Weltveränderung erfolgt auf dem Boden der Tatsachen oder des „Verdachts“, wie Waldenfels (1985: 80 f) sagt, dass die gegebene „so unverbrüchliche und allumfassende“ Ordnung nur mehr als eine unter möglichen anderen erscheint. Und wenn eine Ordnung nur mehr als eine der möglichen Ordnungen erscheint, dann wandelt sich auch die gegebene Ordnung. Sie ist von diesem Punkt an aufgegeben und damit transformier- und veränderbar. Und Pluralisierung der Wirklichkeiten wiederum ist auch ein Resultat des Denkenkönnens in Möglichkeiten, an denen die Wirklichkeit gemessen und ausgerichtet, und entsprechend schäbig erscheint.
„Wir befinden uns in einem Zustand von Wanderern, die lange Zeit über einen gefrorenen See marschierten, dessen Spiegel sich bei vergnderter Temperatur in große Schollen aufzulösen beginnt.“
(Ernst Jünger 1960)
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Gross, P. (2000). Außer Kontrolle?! Individualisierung, Pluralisierung und Entscheidung. In: Hettlage, R., Vogt, L. (eds) Identitäten in der modernen Welt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95614-9_2
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