Zusammenfassung
In der Debatte über Sozialstaat und Entsolidarisierung dominiert eine begriffliche Gegenüberstellung: die von Eigeninteresse versus gemeinschaftlichem Wohl, von individuellem Nutzen versus Tugend und moralischem Verhalten. Vergessen wird dabei, dass außerdem ein Handeln von großer sozialer Bedeutung ist, das sich am Vergleich mit anderen, seien es Einzelne oder Gruppen, ausrichtet. Eine Gesellschaft lebt nicht allein aus der Alternative von Eigeninteressiertheit oder solidarischer Gemeinschaftlichkeit, sie bildet zugleich ein Netz aus wechselseitig vergleichendem Erleben und Beobachten. Dann wird die relative Stellung zum anderen und die Position in einem größeren Vergleichsfeld zum Motiv des eigenen Handelns. Es ist diese Arbeit der Relationierung und Positionierung, das Bemühen um Status, Prestige, Anerkennung, Wertschätzung, Achtung und Selbstachtung, das an der Reaktion des anderen und in vergleichender Betrachtung mit ihm gewonnene Selbstwertgefühl, das ein eigenes Feld bildet zwischen Eigennutz und gesamtgesellschaftlicher Solidarität. Zwischen den Einzelnen und die große Gemeinschaft schieben sich eine Vielzahl von sozialen Gruppen und sozialen Kategorien, auf die sich partikulare Interessen ebenso wie normative Überlegungen beziehen können. Die Selbstverortung in diesem Netz der Sozialität, das bestimmt ist durch Gruppenzugehörigkeiten mit ausgebildeten kollektiven Identitäten, Rollenzuschreibungen und auch Zuordnungen zu sozialen Kollektivkategorien, die keinerlei Gruppenzusammenhang und Gemeinschaftlichkeit entwickeln, bildet einen zentralen Ansatzpunkt für alltägliche Solidaritäten, deren Verwebung, Überschneidung und Entgegensetzung erst den Grad sozialer Einheit und Differenz einer Gesellschaft bilden.
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Nullmeier, F. (2000). Entsolidarisierungsprozesse und der Triumph der Mikromoralen. In: Hettlage, R., Vogt, L. (eds) Identitäten in der modernen Welt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95614-9_15
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