Zusammenfassung
Die innergesellschaftliche und die herrschaftsbezogene Dimension liberaler Vertragstheorie wirkt sich in der Einschwörung auf eine strikte Legalitätspraxis durch Bebel und durch die Rechtfertigung des Reformismus durch Vollmar aus. Versuchte Bebel nach dem Tode Engels, die stillschweigende Neuauflage des Sozialistengesetzes durch eine Strafrechtsreform zu verhindern83 (eine Absicht, die wegen der scharfen Haltung der kaiserlichen ‚Klassenjustiz‘ nur bedingt gelang), so gelangte Vollmar zu einer Neubestimmung innergesellschaftlicher Kontroversen. Bebel wollte Verwaltungshandeln und Rechtsprechung gesetzlich binden, Vollmar strebte eine Koexistenz gesellschaftlicher Gruppen unter Beibehaltung der politischen Kontroverse an. Bäuerliche Wähler unter Anerkennung ihres Besitzes politisch zu gewinnen, mußte zwangsläufig bedeuten, sie als Klasse anzuerkennen, ihre Existenz zu respektieren. Der marxistische Klassenkampf scheint den Prämissen der ‚Eldorado-Rede‘ zufolge unmöglich zu sein84. Wir wissen wenig über die aktuelle Begründung des Reformismus Vollmars, der sich weiterhin zu den Endzielen des Sozialismus bekannte. Es liegt aber die Vermutung nahe, daß neben den taktischen Erfordernissen einer Behauptung auf dem politischen Massenmarkt die Anerkennung ehemals feindlicher Bevölkerungsgruppen und Klassengegner Voraussetzung einer Respektierung der eigenen Position war. Damit wurde umso verbindlicher die Schutzfunktion der Verfassung respektiert und bekräftigt, zur Richtschnur des eigenen Verhaltens gemacht. Nach 1890 rangen somit die unterschiedlichsten Richtungen um einen verbindlichen Verfassungsbegriff und nicht zuletzt um eine verfassungspolitische Parteilinie. Bereits innerhalb von zwei Jahren wurde die Opposition der „Jungen“ niedergeschlagen, die jegliche Kompromißpolitik als Anzeichen der „Versumpfung“ empfanden85. Sie vernachlässigten die Tatsache, daß die Sozialdemokratie nach 1890 mit anderen Mitteln als dem Ausnahmegesetz verfolgt wurde86. Insbesondere die strafrechtliche Repression machte es unausweichlich, die von Engels als „klassische Weltanschauung der Bourgeoisie“ verspottete „juristische Weltanschauung“ zu kultivieren. Als Bewegung des „Proletariats“ sollte die SPD „vom Gegner die juristische Anschauungsweise“ übernehmen und „hierin Waffen gegen die Bourgeoisie“ suchen87.
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Literatur
Hier ist besonders die Auseinandersetzung um § 130 StGB zu erwähnen. Vgl. zur Umsturzvorlage Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Stuttgart u.a., 1969, S. 268 ff., zur Lex Heinze ebda., S. 283 ff., zur Zuchthausvorlage ebda., S. 1235 f.
R. Jansen, Georg von Vollmar: Eine politische Biographie, Düsseldorf 1958; eine Auswahl der Schriften Vollmars erschien 1978 im Dietz-Verlag Bonn-Bad Godesberg.
Dirk Henning Müller, Idealismus und Revolution: Zur Opposition der Jungen gegen den sozialdemokratischen Parteivorstand 1890 bis 1894, Berlin 1975.
Vgl. dazu die materialreiche Studie von Klaus Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich: Zur Innen-und Sozialpolitik des Wilhelminischen Deutschland 1903 — 1914, Düsseldorf 1974; Gerhard A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich: Die sozialdemokratische Partei und die freien Gewerkschaften 1890 — 1900, Berlin 19632.
Friedrich Engels, Juristen-Sozialismus, in: MEW 21, Berlin (0) 1972, S. 491 — 509, hier S. 492 f.
Zu Bernstein, der augenblicklich in der sozialdemokratischen Theorie-Diskussion eine Renaissance erlebt, vgl. Thomas Meyer, Bernsteins konstruktiver Sozialismus: Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozialismus, Berlin — Bonn-Bad Godesberg 1977; Horst Heimann und Thomas Meyer, Hg., Bernstein und der Demokratische Sozialismus: Bericht über den wissenschaftlichen Kongreß,Die historische Leistung und aktuelle Bedeutung Eduard Bernsteins’, Berlin u. Bonn 1978.
Dazu jetzt die vorzügliche Studie von Adolf M. Birke, Pluralismus und Gewerkschaftsautonomie in England: Entstehungsgeschichte einer politischen Theorie, Stuttgart 1978.
Georg von Vollmar, Rede, gehalten in der Rechenschaftsversammlung des Wahlvereins am 6. Juli 1891 im Eldorado zu München, hier zit. n. Peter Friedemann, Hg., Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890 — 1917, Bd. 1, Frankfurt/M. u.a., 1977, S. 83 f.
Vgl. Peter Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II.: Die Auseinandersetzung der Partei mit dem monarchischen System, seinen gesellschafts-und verfassungspolitischen Voraussetzungen, Wiesbaden 1974.
Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: Dies., Gesammelte Werke Bd. 1/2. Halbbd., Berlin (0) 1972, S. 422 — 444, hier S. 437; vgl. auch dies., Sozialdemokratie und Parlamentarismus, in: ebda., S. 447 — 455.
Vgl. einführend Peter Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus: Eduard Bernsteins Auseinandersetzung mit Marx, Nürnberg 1954; das erwähnte Kapitel findet sich in der wohl spektakulärsten Schrift Bernsteins, in: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Reinbek 1969, S. 147 ff. Es ist für die politische Dimension des sog. Revisionismusstreits wichtig, daß die politisch-demokratischen Prämissen Bernsteins nicht im Kern der Diskussion standen.
Bernstein, Voraussetzungen, S. 161. Vgl. allg. Meyer, Bernsteins konstruktiver Sozialismus, S. 289 ff. und S. 309 ff.; Ders., Grundwerte und Wissenschaft (Anm. 68), S. 58 ff. Vgl. ferner auch Eduard Bernstein, Der Sozialismus einst und jetzt: Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin-Bonn 19753; Ders., Ein revisionistisches Sozialismusbild: Drei Vorträge, Berlin-Bonn 1976. Auch Karl Kautskys „Antikritik“ ist bequem greifbar: Karl Kautsky, Bernstein und das Sozialdemokratische Programm, Berlin-Bonn 1976. Als gute Einführung siehe Detlef Lehnert, Reform und Revolution in den Strategiediskussionen der klassiven Sozialdemokratie, Bonn-Bad Godesberg 1977.
Bernstein, Voraussetzungen, S. 153.
Ebda., S. 154; dieser Zusammenhang von Mittel und Form bricht endgültig mit der Taktik der Legalstrategie. Vgl. dazu auch die Formulierung von Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 4 (Anm. 83), S. 1187 f., der die Konzeption einer ,legal getarnten Revolution“ durch die Vorstellung einer „substantiell legalen Reform” ersetzt findet — zumindest vereinzelt.
Bernstein, Voraussetzungen, S. 155.
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Steinbach, P. (1983). Bernsteins Verfassungsverständnis. In: Sozialdemokratie und Verfassungsverständnis. Kleine politische Texte. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95470-1_8
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